Höhlenwohnungen bei Langenstein im Harz
[447] Höhlenwohnungen bei Langenstein im Harz. Gelegentlich eines recht lohnenden Ausfluges von Halberstadt nach dem 1/2 Stunde entfernten Spiegelberge, welcher jedem Harzreisenden zu empfehlen ist, fand ich in Meyers „Wegweiser durch den Harz“, daß in den nahen Klusbergen uralte, in Felsen gehauene menschliche Wohnungen vorhanden seien. Als ich mich näher danach erkundigte, wurde mir angerathen, nicht nur diese, welche nicht mehr als Wohnungen benutzt werden, sondern auch das 1 Stunde südlich gelegene Dorf Langenstein zu besuchen; dort seien noch jetzt von Menschen bewohnte Höhlen zu sehen.
Höhlenbewohner fast mitten im Herzen unseres hochcivilisirten Deutschen Reiches! Diese merkwürdige Thatsache bestimmte mich, nach genanntem Orte zu pilgern. Und richtig, oberhalb des großen, wohlhabenden Dorfes Langenstein, und zu diesem gehörig, liegen etwa 10 in den Felsen gehauene Wohnungen; das Ganze wird „die Burg“ genannt, und einige 40 Menschen haben darin Unterkunft gefunden.
An der dem Felsen abgetriebenen Frontseite sieht man eine Reihe regelrecht angebrachter Hausthüren und Fenster, fast immer eine Thür und nur ein Fenster zu einer Wohnung gehörig. Die älteste dieser Höhlenwohnungen ist vor 29 Jahren von einem armen jungen Ehepaar, welches in Langenstein kein Unterkommen finden konnte, angelegt und nach und nach erweitert worden, ein recht beachtenswerthes Theil Arbeit, wenn man bedenkt, daß der Mann erst ein bedeutendes Stück Felsen abtreiben mußte, um eine Front zu erhalten. Und zwar mußte er diese Frontfläche sowie die Wohnräume mit einem einfachen Werkzeug, der „Picke“, Stückchen für Stückchen „auspicken“, wie man dort sagt, während der Frau das Wegschaffen der Schuttmassen oblag.
Durch die Eingangsthür der sehr sauber gehaltenen, wenn auch ärmlichen unterirdischen Wohnung gelangt man zunächst auf einen geradeaus führenden Gang (Hausflur), von welchem rechts eine Thüröffnung in die geräumige, mit einem großen Fenster, dem einzigen der Wohnung, und einem Ofen ausgestattete Stube führt. Dieser gegenüber, links vom Gange, befindet sich ein muschelartig ausgehauener Schlafraum, in welchem man sich den Luxus einer Bettstelle erspart und als Unterlage Stroh unmittelbar auf den Felsen gelegt hat. Hinter diesem Schlafraum, links vom Gange, dem Innern des Felsens zu, ist ein großer Vorrathsraum; rechts hinter der Stube die Küche mit Herd und darüber der Schornstein, welcher außen an der Erdoberfläche mit großen Steinen umlagert ist, damit niemand hineinstürzt. Hinter der Küche ist noch ein Schlafraum, und obwohl diese hinteren Räume kein unmittelbares Licht haben, so sind sie doch durch den Schornstein und durch die in der bessern Jahreszeit meist offenstehende Hausthür leidlich erhellt. Die stehen gebliebenen Wände sind natürlicherweise Felsen, und die Stärke der obern Decke bewegt sich je nach der äußern Form des Felsens zwischen 1 und 2 Metern.
Sämmtliche Räume sind vollständig trocken, und da man über der Eingangsthür eine schmale Oeffnung gelassen hat und keiner der Räume noch durch eine besondere Thür abgeschlossen ist, so geht, auch wenn Hausthür und Fenster nicht geöffnet sind, immer ein leichter Luftzug durch die ganze Wohnung und hinten zum Schornstein hinaus.
Die Wohnungen sind im Winter warm, im Sommer kühl und nach den Versicherungen der Bewohner, welche meist recht kräftige, rothbäckige Leute sind, vollständig gesund.
Da nun einige Familien die Front ihres Heims weiß getüncht haben und oben aus den Felsspalten Gras und Wiesenblumen herausschauen, auch theilweise vor den Wohnungen winzige Gärtchen angelegt sind, so ist das Aeußere gar nicht so unfreundlich. Jedenfalls sind diese Höhlenwohnungen bei weitem gesünder als die vielen Kellergeschoßwohnungen, die gemauerten Höhlen unserer Großstädte.