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Gutes Wasser und gute Luft!

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Titel: Gutes Wasser und gute Luft!
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aus: Die Gartenlaube, Heft 47, S. 758–760
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1868
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Gutes Wasser und gute Luft!

Während des noch warmen vorigen Herbstes brach unter den durchweg gebildeten Bewohnern eines der schönsten und vollkommensten Häuser im eigentlichsten Geheimrathsviertel Berlins eine wüthende Revolution aus. Die Bewohner sind fast alle echte, wirkliche Geheimräthe mit vier- bis achthundert Thalern Miethe, natürlich im Keller mit den üblichen Bierverlegern, Käsehandlungen, Drehrollen, und unterm Dache Waschfrauen, Schlafburschenmüttern und dergleichen nicht geheimräthlichen Familien. Aber sonst Alles sehr fein, Portierverschluß, kleiner Vorgarten, sogar – welch’ ein Wunder! – ein kleiner Hintergarten, breite Treppen mit gemalten Fenstern, Doppelfenster, große, hohe Zimmer und – der Wunder größte – echte Waterclosets! Was kann der wirklichste Geheimrath Vollkommneres in Berlin verlangen? Und doch mußten sie, wie fast alle gebildeten Berliner, bei dieser Hitze im vorigen Juni und Juli fliehen. Fliehen vor wem? Nun, vor den Hausdrachen, die ihre mörderischen Rachen von den Senkgruben unten giftathmend durch die vollkommensten Closets hindurch bis mitten in jede Achthundertthalerwohnung streckten. Auswege für die von ihnen gelieferte Luft gab es blos durch die Zimmer. Natürlich streckt auch der Hauptdrache jedes Berliner Hauses seinen Boa-Constrictorleib unter dem Hausflure hin und sendet seine Miasmen ununterbrochen die prachtvollen Treppen hinauf, von wo die Luft keinen Ausweg findet, so daß sie durch die Eingangsthüren und Corridors ebenfalls wieder in die Zimmer gepreßt wird. Kein Wunder, daß auch in solchen vollkommensten Häusern die Geheimräthe Unrath merkten. Sie flohen also während der hitzigsten Herrschaft und Fortpflanzung dieser Drachenbrut und glaubten zu Ende August in eine bessere Luft zurückzukehren; aber es war schlimmer, viel schlimmer, durchaus nicht zu ertragen! Also Revolution und Sturmpetitionen an den ausnahmsweise nachgiebigen Wirth. Dieser sollte die Herrschaft der Hausdrachen brechen und sie womöglich ganz exmittiren. Aber wie das anfangen? Selbst in Häusern voller Geheimräthe ist hier guter Rath theuer. Allein der Wirth ließ den Ungethümen jeder Etage und Wohnung wenigstens Auswege bahnen, nämlich Dunströhren aus den Closets in den Schornstein, von wo sie nun zwar zuweilen, [759] durch böse Geister des Rauches verstärkt, um so ärger zurückkehren, aber doch in der Regel in die schon anderweitig überaus gesegnete Berliner Luft entweichen können.

Die Dunströhren gelten für einen großen Triumph in diesem Prachthause. In den meisten andern Häusern und Wohnungen aber denkt man an solche Vervollkommnungen nicht. Dadurch sind die immer gewaltiger anschwellenden Großstädte trotz ihres schnellen Aufblühens an den Eisenbahnschwingungsknoten wahre Mördergruben geworden und die Sterblichkeit darin nimmt mit der anwachsenden Größe immer mehr zu. Nach der vergleichenden Sterblichkeitsstatistik gehen durchschnittlich auf dem Lande und in gesunden Kleinstädten jährlich siebzehn, in Großstädten zwanzig bis dreißig von je tausend Menschen mit Tode ab, und selbst in London, der größten und zugleich gesundesten Stadt der Welt, müssen noch jährlich etwa zehntausend Menschen den Drachen der Luft- und Wassermiasmen geopfert werden. In Berlin, Wien und Paris steigen diese Opfer freilich zu einer viel erschrecklicheren Anzahl, nämlich zu vierundzwanzig bis siebenundzwanzig im Tausend. Sicher ist, daß London und andere englische Städte den durchgeführten Entwässerungssystemen die Erhaltung von jährlich vier bis fünf Menschen vom Tausend verdanken und die Sterblichkeit in Folge der unterirdischen Cloaken, welche aus den Waterclosets alle miasmatische Lebensabfälle immer frisch der Unterwelt übergeben, je nach Vollkommenheit derselben von siebenundzwanzig und vierundzwanzig bis auf einundzwanzig und zwanzig vom Tausend gesunken ist. Diese und andere Thatsachen sprechen ungemein günstig für unterirdische Canalisirung der Städte, zumal seitdem man in England den größten Vorwurf, den man demselben im Interesse der Landwirthschaft machte, zu beseitigen weiß.

In dem Artikel „Ein Londoner Kummerhof“ wurde bereits beiläufig auf diese kostbare Entdeckung hingewiesen, und eine große Menge an die Redaction eingesandter Anfragen und Gesuche, das Geheimniß dieser Entdeckung mitzutheilen, beweisen, daß man auch in Deutschland die Wichtigkeit derselben zu würdigen weiß. Sie besteht darin, daß man durch einen chemischen Proceß im Großen aus den Cloakenflüssigkeiten den eigentlichen kostbaren Düngergehalt, die neubefruchtenden Stoffe für unsere Felder und Fluren so vortheilhaft ziehen kann, daß der Werth derselben von zwei Silbergroschen sich auf etwa zweitausendfünfhundert Silbergroschen erhöhen kann. Mit anderen Worten heißt dies: eine Tonne gewöhnliche Cloakenflüssigkeit enthält etwa für zwei Silbergroschen Düngerwerth, während dieselbe Masse durch den neuen chemischen Proceß aus der gewöhnlichen Flüssigkeit herausgefischt und verdichtet zweitausendfünfhundert Silbergroschen werth ist. Kein Wunder, daß praktische Landwirthe und sonstige Sachverständige das Geheimniß dieser kostbaren Verdichtung kennen lernen möchten. Der Verfasser dieses und des Kummerhof-Artikels muß leider bekennen, daß er dasselbe nur aus mancherlei englischen Berichten über großartige Experimente mit diesem neuen chemischen Proceß kennen gelernt hat, und aus diesen Berichten bis jetzt weiter nichts offenbar geworden ist, als daß die Erfinder hauptsächlich mit Kalk und Alaun und noch zwei oder drei wohlfeilen, aber von ihnen noch geheim gehaltenen chemischen Stoffen arbeiten, die Cloakenflüssigkeiten dadurch wirklich unschädlich und geruchlos gemacht und ihres ganzen Düngergehalts so entledigt werden, daß derselbe in verdichteter, gebundener, also geruchloser Form auf das Vortheilhafteste und Reinlichste als Dung verwendet werden kann. Damit wäre also ein großes Problem gelöst und alle Feindschaft gegen Canalisirung der Städte, selbst mit Liebig an der Spitze, geschlagen. Das Geheimniß des Verfahrens wird sicherlich früher oder später ganz bekannt werden, und dem Verfasser selbst liegt daran, es womöglich zuerst in englischen Blättern zu entdecken und dann sofort mitzutheilen.

Aber inzwischen sind neue Feinde der Canalisirung bekannt geworden, nämlich die bösen Luftgeister, die aus allen möglichen Oeffnungen der Cloaken, selbst durch die festen Wände, immerwährend herausdringen und, wie bereits angedeutet, auch die besten Häuser und Wohnungen nicht verschonen, während allerhand flüssige und feste Gifte aus denselben an schadhaften Stellen und mit der Zeit selbst durch gutes Mauerwerk in den Boden dringen und das Wasser vergiften. Und gerade dieses Wasser ist nach genau ermittelten Thatsachen englischer und deutscher Chemiker die Hauptquelle ansteckender Krankheiten, namentlich der Cholera und typhusartiger Fieber, welche in der aus denselben Quellen verpesteten Luft immer die größten Verheerungen anrichten. Nicht die Phantasie, sondern Jahre lang fortgesetzte sorgfältige Untersuchung von Männern der Wissenschaft und die nüchternste Sterblichkeitsstatistik weisen unwiderleglich nach, daß noch jährlich Millionen Menschen von diesen Ungeheuern der Civilisation thatsächlich erwürgt werden.

Zehn Jahrgänge von kostbaren Berichten des Londoner Gesundheitsamtes, die Mittheilungen des Congresses für sociale Wissenschaft in Birmingham, die Cholera-Conferenz von Aerzten und Naturforschern zu Weimar, der Ausschuß von Naturforschern für eine besondere Hygieine oder öffentliche Gesundheitspflege in Frankfurt am Main, werthvolle Schriften des Dr. Varrentrapp daselbst, eine Broschüre des Stadtbauraths Hobrecht in Stettin, das Gutachten der wissenschaftlichen Deputation über die Canalisirung Berlins und andere Bücher, Broschüren, Schriften und Erfahrungen, alle verdammen einstimmig die Luft und das Wasser, besonders aber die entsetzliche Bewirthschaftung der Städte, als die Hauptquellen von Krankheit, Siechthum, Epidemie, Elend und Tod. Desto weniger stimmen diese heiligen Georgs gegen die moderne Drachenbrut in ihren Mitteln zu deren Erlegung überein. Es ist deshalb vor allen Dingen höchste Zeit, auch in Deutschland nach englischem Muster ein Gesundheitsamt (Board of Health) aus den besten Männern der Wissenschaft und der Erfahrung zu gründen, durch das Land hin zu verzweigen und mit den gehörigen Vollmachten zu versehen, um wenigstens die erkannten Hauptquellen dieser Krankheiten und künstlichen Menschenopferungen zu beseitigen.

Das englische Gesundheitsamt ist befugt und verpflichtet, Untersuchungen über den Gesundheitszustand einer Stadt oder Gegend anzustellen, wenn mehr als dreiundzwanzig von je tausend Einwohnern im Jahre sterben oder wenigstens ein Zehntel der Steuern zahlenden Bewohner darum nachsuchen. Je nach dem Ausfall dieser Untersuchungen kann es beim betreffenden Ministerium beantragen, daß für diese Stadt oder Gegend eine besondere Gesundheits-Commission niedergesetzt werde. Diese hat dann das Recht, ermittelte Quellen der Ungesundheit in Luft und Wasser auf Kosten der Bewohner nöthigen Falles gewaltsam zu beseitigen, ungesunde Industrien an dieser Stelle zu verbieten oder ganze Häuser, in welchen den nothwendigen Bedingungen für gesundes Wohnen darin nicht genügt wird, umzubauen oder niederzureißen.

Ohne diese Bestimmungen durchweg als Muster zu empfehlen, müssen wir doch anerkennen, wie es auch bereits vielfach in der Presse geschehen ist, daß eine solche Macht, eine solche Behörde, in Deutschland unerläßlich geworden ist, und alle Kräfte aufbieten, ein solches über Deutschland verzweigtes Gesundheitsamt in’s Leben zu rufen. Die Herren, welchen jetzt die Sorge für öffentliche Gesundheit obliegt, sind der Aufgabe durchaus nicht gewachsen. Wer sich um die Sache bekümmert hat, weiß das gehörig, und Jeder kann es in jeder Stadt, in jedem, auch oft dem feinsten Hause sehen, hören, schmecken, fühlen und besonders riechen. In Berlin ist es notorisch, daß jeder nächtliche Reinigungsact die Luft weit umher in der Nachbarschaft, selbst durch verschlossene Doppelfenster hindurch, geradezu verpestet. Aus einem sonst sehr respectablen Hause zog eine Familie aus, weil während solcher Nächte das Silberzeug und sonstige metallische Gegenstände gräulich, grünlich angegriffen und angeschwärzt wurden. Die Vorschriften wegen Desinfection werden eben nur sehr ausnahmsweise erfüllt. Und was diese nächtliche „Abfuhr“ gewöhnlich für ein Schicksal haben mag, können wir aus einer nächtlichen Jagdscene schließen, wie sie unlängst in Berliner Blättern geschildert ward.

Nachts um die zwölfte Stunde poltert es schwerfällig durch die classische Schönheit des Brandenburger Thores. Späte Wanderer und aus fröhlichen Gesellschaften zurückkehrende Partien verstummen in ihrem Gelächter und fliehen. Das polternde Ungethüm bewegt sich hinaus in eine der schönsten Gegenden des Thiergartens am Goldfischteiche und fängt an, angesichts der Statue der Schönheits- und Liebesgöttin sich seiner entsetzlichen Bürde zu entledigen. Da sprengt eine berittene Schaar bewaffneter Helden durch’s Brandenburger Thor heran und der noch ziemlich gefüllte Wagen donnert fliehend Charlottenburg-wärts, nach allen Seiten ruchloses, aber geruchvolles Verderben speiend, die berittene Schaar bewaffneter Helden hinterher, und ihr gelingt es, freilich ohne jede Rücksicht auf ihre Nasen, das verbrecherische Gespann einzuholen. Der Wagenlenker gesteht mit weinerlicher Stimme, [760] daß er angewiesen sei, allnächtlich seine Ladungen irgendwo und irgendwie los zu werden, da kein Platz dafür erlaubt sei.

Solcher nächtlichen Jagdscenen mag sich der Mittelpunkt der Intelligenz wohl sehr häufig rühmen und damit beweisen können, daß er nicht so arm an romantischen Scenen sei, wie die böse Welt behauptet. Außerdem kann man in Hobrecht nachlesen, wie und mit welchen Kenntnissen die jetzigen Communal- und Polizeibehörden sich mit öffentlichen Gesundheitsfragen beschäftigen. Es ist nicht mehr auszuhalten, und kein gebildeter Mensch sollte länger ruhig in solchen Städten und Häusern Tod und Verderben athmen, wenigstens müßte er sich zunächst der Agitation für ordentliche Gesundheitspflege und ein betreffendes Gesundheitsamt anschließen und jede Art von Verbrechen auf diesem Gebiete selbst vermeiden und an Anderen nach Kräften rügen und bestrafen. Guter Rath und Belehrung sind auch nicht zu verachten, aber gründlich helfen und durchgreifen kann blos eine mit Wissenschaft und vollstreckender Gewalt ausgerüstete Behörde. Diese Behörde läßt sich vielleicht aus schon jetzt vorhandenen Bestrebungen und Vereinen entwickeln. Die Abtheilung des Naturforscher-Congresses für öffentliche Gesundheitspflege mag sich zu einer selbstständigen Versammlung erweitern und allerhand Volks- und Landwirthe, betreffende Polizei- und Communalbeamte, Volksvertreter, Bevollmächtigte landwirthschaftlicher, medicinischer und sonstiger praktischen Vereine mit herbeiziehen und zunächst alle Thatsachen und Erfahrungen, die hierher gehören, prüfen und sichten.

Gutes Wasser und gute Luft! Wer zweifelt hier noch? Und doch dürfen beide Grundbedingungen für die öffentliche Gesundheit noch überall täglich und nächtlich von Jedem ungestraft verletzt werden. Noch wichtiger für einen solchen Congreß wäre die Entscheidung über noch streitige Fragen, namentlich Abfuhr oder Canalisirung, so wie über das Geheimniß praktischer Verdichtung der Düngstoffe aus den Cloakenflüssigkeiten, welches übrigens wohl schon jetzt von jedem guten Chemiker gelöst werden kann, so daß wir auf die Engländer nicht zu warten brauchen. Nach dem Ausspruche Palmerston’s ist Unrath nur ein wirklicher Geheimrath am unrechten Platze. Die Hauptaufgabe für die öffentliche Gesundheitspflege ist richtige Anstellung dieses Unraths. Trotz unserer gerühmten Wissenschaft und Erfahrung wußten wir bis jetzt nicht, ihn richtig unterzubringen. Nun haben wir endlich ermittelt, daß alle thierischen Lebensabfälle immer so schnell wie möglich der Erde anvertraut werden müssen, um ihre Tödtlichkeit in die schönsten Quellen neuen Lebens zu verwandeln. Die unterirdischen Cloakensysteme entwickeln immer viel giftige Luftarten und werden auch, wenn sich die erwähnte englische Erfindung bewährt, eine noch fragliche Wohlthat bleiben. Aber diese thierischen Lebensabfälle dürfen auch unter keiner Bedingung in Häusern und Höfen liegen bleiben und in Gährung übergehen, ehe sie vielfach entwerthet und des Mordes schuldig der Erde anvertraut werden. Es gilt also möglichst schnelle Vermischung derselben mit der Erde. Dadurch wird ihr Tod sofort neue Lebenskraft. Und auch in dieser Richtung gehen uns die Engländer bereits mit einem gutem Beispiele voran und wenden statt der Waterclosets immer häufiger und mit dem besten Erfolge die Moule’schen Erdclosets an.

Diese können beinahe in jeder Form eingerichtet werden, wenn sie nur die Bedingung erfüllen, daß alle hineingeworfenen thierischen Lebensabfälle immer sofort mit frischer, trockener Erde vermischt oder überdeckt werden. Dies hindert alle Entwickelung schlechter Luft und giebt ihnen für neue Lebens- und Nahrungserzeugung ohne Abzug den höchsten Werth. Es giebt also Vieles zu prüfen und das Beste zu behalten, aber auch streng durchzuführen durch ein mächtiges, weises Gesundheitsamt.