Großes Reinmachen
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Großes Reinmachen.
Ein Freund von mir, der sich – ob mit oder ohne Grund, bleibe dahingestellt! – für einen Pechvogel erster Güte zu halten geneigt ist, erzählte mir einmal, er arbeite im Hinblick auf eben dieses Pech ein neues philosophisches System aus, „die Philosophie des Selbstverständlichen“ mit dem Motto „natürlich!“
An Beispielen zu dieser Philosophie fehlt es nun freilich nicht, und jeder wird schon Zeiten – im besten Fall Tage gehabt haben, wo ihm alles quer ging, und wo von dem erfreulichen Augenblick an, als die gefüllte Kaffeetasse beim ersten Frühstück zutraulich in den Schoß ihres Besitzers hüpfte, bis zu dem nicht minder angenehmen Augenblick, wo derselbe Besitzer abends beim Schlafengehen mit dem Bett einbrach, er den ganzen Tag über geneigt war, alles Widerwärtige für selbstverständlich zu erachten und bei jedem neuen Mißgeschick höhnisch zu sagen: „natürlich!“
Ein solcher Tag pflegt mit Vorliebe dann anzubrechen, wenn große, wirthschaftliche Veranstaltungen und außergewöhnliche Vorkommnisse es gerade besonders wünschenswerth machen, daß sich alles glatt abwickelt.
Nie kocht die Köchin schlechter, als wenn der verwöhnte Freund des Hausherrn den bekannten „Löffel Suppe“ mitißt – nie sind die Kinder ungezogener, als wenn sich die einflußreiche Pathe einstellt, und nie ist mangelhafter Staub gewischt, als wenn die Anverwandte mit dem Falkenblick für derartige kleine Ungehörigkeiten ihr Haupt zur Thür hereinsteckt – natürlich!
Ein solcher fataler Tag drohte allem Anschein nach dem Hause des pensionirten Oberstlieutenants Solten anzubrechen. Das „große Reinmachen“, schon bei normalem Verlauf ein abgesagter Feind des häuslichen Friedens, war auf diesen Freitag angesetzt, der schon als „Freitag an sich“ in abergläubischen Gemüthern ein unangenehmes Vorgefühl erregte.
Der Hausherr hatte von dem Augenblick an, als seine Augen sich dem Licht des Tages öffneten, bereits jene Laune an den Tag gelegt, deren Wirkung auf die Umgebung sich am besten durch die Worte kennzeichnen läßt:
„Und des Donners Wolken hangen schwer herab auf Ilion.“
Ein Mann, der nichts mehr zu thun hat, ist ja leicht geneigt, sich Beschäftigung zu suchen, und wenn er einmal gar nichts anderes zu besorgen vorfindet, so wettert er eben auf Frau und Kinder – nur der gesunden Bewegung halber!
Mehrere Tage war der Gebieter des Hauses sehr nutzbringend untergebracht gewesen, und alle hatten die Wiege der kleinsten Tochter des Hauses gesegnet, da man diesem Möbel den erwähnten angenehmen Umstand verdankte. Diese Wiege erfreute sich nämlich eines hohen Gitters aus Eisenstäben, die soweit auseinander standen, daß ein mäßig beleibtes Kind beständig von der Sucht ergriffen werden mußte, zwischen diesen Stäben durchzukriechen; [782] immer wieder mußte die jugendliche Weltbürgerin von irgend einen gerade unbeschäftigten Angehörigen zurückgestopft werden, erheischte also eine fortwährende Aufsicht.
Der Vater hatte sich nun vor zwei Tagen ein netzartiges Drahtgeflecht meterweise aus der Eisenhandlung geholt und das Bettgitter äußerst kunstgerecht durchflochten, eine Leistung, die, wie er mit Stolz ausrechnete, dem Familienvermögen mindestens fünf Mark erhalten hatte.
Daß dieser dilettantische Eingriff in die Innungsrechte des Handwerkes einen kleinen Fehler hatte, indem an den beiden sich treffenden Enden des Drahtgeflechts lauter kleine Dornen und Enden heraussprießten und sich jeder, der einmal ohne besondere Aufmerksamkeit an dem Bettchen vorbeiging, handgroße Löcher in die Kleider riß – daß daher die Ersparniß auf der einen Seite eine Mehrausgabe von mindestens zwanzig Mark auf der andern bedingte, hielt der Vater für eine Erfindung weiblicher Bosheit und glaubte es einfach nicht.
An dem erwähnten Morgen nun hatte die Hausfrau sich gleich nach dem Aufstehen liebevoll über die Wiege der Kleinsten gebeugt, und beim Zurücktreten – ritz – ratz – riß sie sich ein rechtwinkliges Dreieck von so mathematischer Genauigkeit in den Morgenrock, wie es ihr Sohn, der Tertianer, in seiner Geometrie fast noch nie so schön und regelrecht gezeichnet hatte.
Stürmisch erwartete die gereizte Mutter ihren noch schlafenden Gatten und verlangte von ihm, als er noch kaum die Augen offen hatte, Mitgefühl und Reue über diesen neuesten Erfolg seiner Bastelleidenschaft. Ein lebhaftes Wortgefecht eröffnete den Morgen, und verstimmt begab man sich zum Frühstück.
Die größeren Kinder des Hauses waren bereits versammelt. Liesbeth, ein bildhübsches Backfischchen von fünfzehn Jahren, deren tiefblaue Augen unter dichten, schwarzen Wimpern sehr schelmisch hervorsahen, schien durch die ersichtliche üble Laune ihrer elterlichen Vorgesetzten nicht besonders beunruhigt zu sein. Sie wußte, daß sie bei solchen Anlässen als der Liebling des Vaters immer am besten wegkam, und hatte außerdem ein so glückliches Temperament, daß sie jeweilige Schelte schnell und sorglos abschüttelte und wieder so lustig war wie vorher. Das kleinste Kind schlief noch ahnungslos in der neuumflochtenen Wiege, die den ersten Grund zu der düstern Stimmung des Morgens gegeben hatte, und schon glaubte der Hausherr, daß das Frühstück wider Erwarten ohne besonderen Aerger vorübergehen werde.
Denn auch die beiden Jungens der Familie verhielten sich heute ziemlich ruhig. Der dicke Franz war vermöge seines grenzenlosen Phlegmas, das ihm den wenig schmeichelhaften Kosenamen „Pfund Wurst“ eingetragen hatte, nie sehr lärmend und, wenn er etwas zu essen und zu trinken hatte, so ausschließlich mit Leib und Seele dabei beschäftigt, daß er für Extravaganzen keine freie Minute fand.
Der dreizehnjährige Ernst fühlte daher die schwerwiegende moralische Verpflichtung, den täglichen Bedarf an Dummheiten für den Bruder mit zu besorgen, und kam dieser Empfindung aufs gewissenhafteste nach. Immer trug er das Bewußtsein irgend einer verborgenen Schandthat im Busen, die jeden Augenblick „herauskommen“ konnte!
Da Ernst seine eigenen Sachen beständig verlor, verlegte und zerbrach, so entnahm er mit einer Genialität, die zu den schönsten Hoffnungen berechtigte, alles Fehlende, oder vielmehr Ersatz dafür, wo er es eben konnte, und trug zum Beispiel heute – dem Vater zum Glück verborgen! – einen Bauer aus des Hausherrn Schachspiel als Kragenknopf mit dem tröstlichen Bewußtsein, daß derselbe ja vor Abend nicht gebraucht werde.
Nebenbei hatte er sich gestern das väterliche Taschenmesser geborgt und die kleinere Klinge desselben war, wie das Messern in der Hand von Tertianern merkwürdigerweise öfter widerfährt, „ganz von selbst“ zerbrochen. Im Bewußtsein dieser beiden belastenden Umstände war es daher Ernst recht elend zu Muthe, und er konnte es kaum erwarten, heute in die Schule – einen ihm sonst tief verhaßten Aufenthalt! – zu gehen, obwohl das in der Stille der Nacht angefertigte Exercitium auch dort einen unfreundlichen Empfang in Aussicht stellte. –
Stumm und bedrückt frühstückte alles. – Plötzlich tönte aus dem Nebenzimmer ein schrilles Geschrei, die Thür wurde aufgerissen und die schon etwas bejahrte Köchin des Hauses stürzte unter gellendem Wehklagen ins Zimmer, auf ihren Schultern als unfreiwillige süße Last Franzens Eichhörnchen tragend, welches, mit bitterer Ironie „das zahme“ genannt, bei Gelegenheit der Fütterung seinem Käfig entschlüpft und der Küchenfee auf den Rücken gesprungen war – eine Lage, in der es sich entschieden mindestens ebenso unglücklich fühlte wie sein Opfer und die nur dadurch hingehalten wurde, daß es sich mit seinen Krallen in die Haare seiner Trägerin verfangen hatte.
Alles sprang auf. Der Vater – zum Glück der Vater höchsteigenhändig! – warf die Kanne mit der Milch um, die sofort in einer breiten plätschernden Straße auf die Dielen niedertroff. Die Mutter lief nach Wischtüchern, Liesbeth lachte, daß ihr die Thränen herunterliefen, die beiden Jungen aber faßten die Sache als Sport auf und rannten schreiend hinter der Köchin her, die, mit dem Eichhörnchen auf dem Rücken, wie von Furien gepeitscht, einem Cirkuspferde vergleichbar, immer rund um den Tisch raste.
Endlich befreite sich das unselige Hausthierchen unter Mitnahme eines Viertels von dem Gelock der Köchin; es jagte, von den Brüdern unter Hussa und Hallo verfolgt, unter alle Schränke, sprang auf den gedeckten Tisch, trat in die Butter und entfloh schließlich über das Sofa auf den Ofen, die Spuren seiner zierlichen Pfötchen in getreuer Butternachbildung auf dem dunkelgrünen Plüsch des Möbels zurücklassend – eine Thatsache, welche das Stichwort „natürlich!“ – gebieterisch herausforderte.
Eine allgemeine Ermattung folgte dem geräuschvollen Auftritt.
Die Köchin, eine kräftige Person, auf deren thätige Mithilfe und guten Willen man beim heutigen großen Reinmachen stark rechnete, zerfloß infolge von Schreck und Schmerz in Thränen und erklärte, dazu hätte sie sich nicht vermiethet, daß sie sich von „den jungen Herren ihren Biestern“ umbringen ließe – sie bekäme Magenkrampf! Mit dieser tröstlichen Versicherung wankte sie schluchzend hinaus.
Der Vater schlug ärgerlich nach seinen Söhnen und verwünschte Jungens und Eichhörnchen in einem Athem, so daß die beiden unschuldigen Schuldigen schon vor der gesetzlichen Schulzeit sich drückten mit der Versicherung „es haut schon dreiviertel,“ die neuerdings für „es schlägt“ beliebt wurde. Sie wurden mit allseitigem Segen entlassen und man hörte nur noch, wie sie auf der Treppe dem abholenden Freunde, „dem Schulze“, das Geheul der Köchin zu dessen namenloser Erheiterung dramatisch vortrugen. – Die Zurückbleibenden, einschließlich des Eichhörnchens, welches sich auf Umwegen auf die Gardinenstange gerettet und sich daselbst als verlegener, rother Knäuel ins Privatleben zurückgezogen hatte, fühlten die eingetretene Stille recht wohlthätig. Die Laune hob sich.
Zudem erschien eben der Briefträger, dieser stets willkommene Mann, und erwies sich auch heute als Friedensengel. Er brachte einen ganzen Stoß Postsachen für den Hausherrn, die, wenn sie sich auch bei näherer Betrachtung mit einer Ausnahme als uninteressante Geschäftsempfehlungen mit der verhaßten Dreipfennigmarke erwiesen, doch immerhin als Ableitung hochwillkommen waren.
Der Oberstlieutenant, ein Mann von System, der alles langsam und höchst ausführlich betrieb, namentlich seit der Dienst [783] ihm keine Zeitbeschränkung mehr auferlegte, brachte durch die umständliche Erledigung seiner Briefschaften die etwas ungeduldige Hausfrau oft zur Verzweiflung. So auch heute, wo sie mit jeder Fiber ihrer Seele die Beendigung des Frühstückes herbeisehnte, um mit dem Aufräumen des Wohnzimmers den Anfang des heutigen Greuels zu machen.
„Natürlich“ schien aber das Geschäft des Brieföffnens heute gerade gar nicht vor sich gehen zu wollen!
Erst ordnete der glückliche Empfänger seine Korrespondenz nach nur ihm bekannten Grundsätzen und legte jede Sorte, die Ränder der Umschläge nach Möglichkeit aufeinander passend, zusammen, und dann nahm er den einen eigentlichen Brief heraus, um ihn mit Hochgenuß zu betrachten.
„Nun!“ drängte seine Frau, „so mach’ ihn doch auf!“
„Geduld!“ sagte der Oberstlieutenant und drehte den Brief nachdenklich hin und her; „von wem kann denn der sein?“
Er studierte kopfschüttelnd den etwas unleserlichen Poststempel und das Siegel, wie es denn überhaupt eine Eigenthümlichkeit vieler Leute ist, daß sie sich eine halbe Stunde vor einem geschlossenen Briefe den Kopf über den Absender zerbrechen, statt einfach den Umschlag aufzumachen und sich davon zu überzeugen.
„Liesbeth,“ wandte er sich dann an seine Tochter, „ich habe mein Papiermesser auf meinem Schreibtisch liegen lassen!“
„Natürlich!“ sagte Frau Anna, „wenn es schnell gehen soll! – So mach doch einmal ohne Papiermesser auf!“
Der Oberstlieutenant sah sie groß an.
„Ja!“ sagte er dann mit tiefer Verachtung, „Du bist das imstande, Anna, den Umschlag so mit dem Zeigefinger im Zickzack aufzureißen – das kann ich nicht – so etwas ist angeboren!“
Anna schwieg – nicht aus Friedensliebe, sondern um die Verhandlungen nicht zu verlängern; Liesbeth brachte das Papiermesser.
Der Vater nahm es, begann aber noch nicht den Brief aufzuschneiden, sondern wiegte verwundert den Kopf und sah das corpus delicti an.
„Was ist denn nun wieder?“ frug seine Frau mit vor unterdrückter Ungeduld zitternder Stimme.
„Komisch!“ bemerkte der Oberstlieutenant sinnend, „die Postmarke ist links unten aufgeklebt – sonst sitzen sie doch immer rechts oben!“
Anna verschränkte die Finger, warf einen Blick nach oben und deutete durch beredtes Mienenspiel ihre Ansichten über die Männer im allgemeinen und über den ihrigen im besondern an. Die Zeit verstrich.
Endlich öffnete der Vater den Brief.
„Von wem ist er denn?“ frug die Frau.
„Ich muß doch erst lesen!“ gab der Oberstlieutenant mit erhobener Stimme zurück.
Die zitternde Erwartung seiner Frau und Tochter bemerkend, hielt er es für pädagogisch, diese unbefugte Neugier noch nicht zu befriedigen. Er las mit staunenswerther Langsamkeit und verschärfte die Qual seiner Damen noch, indem er durch lebhaftes Mienenspiel, Lächeln und kurze Ausrufe wie „aha!“ oder „nun sieh’ ’mal!“ auf einen höchst interessanten Inhalt des vorenthaltenen Schreibens schließen ließ.
Endlich war er fertig. Er erhob sich legte den Brief zusammen und steckte ihn in die Tasche.
„Nun bitte!“ rief Anna empört, „Du wirst uns doch wohl mittheilen, was Du erfahren hast, Emil!“
„Eigentlich wäre ich dazu durchaus nicht verpflichtet,“ erwiderte Emil, der heut seinen unausstehlichen Tag hatte, „aber da Euch ein Theil des Inhalts mit angeht, will ich ihn Euch nicht verschweigen. Mein alter Freund General Binder schreibt mir, daß sein Junge ein Kommando zur Centralturnanstalt bekommen habe und in den nächsten Tagen hier durchkommen werde. Er bitte, sich uns dann vorstellen zu dürfen.“
„Ein Lieutenant?“ frug Liesbeth mit großen Augen.
Der Vater lächelte – zum ersten Male an diesem Morgen.
„Ja!“ sagte er, „Du thust ja, als wenn Du noch nie einen Lieutenant gesehen hättest!“
„Wenigstens noch nie gesprochen!“ betonte Liesbeth wehmüthig, die sich entschieden durch diesen Mangel um eine der wichtigsten Lebensfreuden betrogen fand.
„Wird auch noch kommen!“ meinte der Vater behaglich, „Du kannst Dich vorläufig noch mit mir begnügen – ich bin ja auch einmal Lieutenant gewesen.“
„Gewesen!“ wiederholte Liesbeth bedeutsam. „Aber Papa,“ rief sie dann plötzlich, „das ist wohl der Bruder von Lina Binder, mit der ich in der Pension zusammen war!“
„Freilich – die liebtest Du ja so!“ sagte der Vater jetzt wohlgelaunter und schickte sich an, das Zimmer zu verlassen.
„Bitte, komm vor Tisch nicht wieder hier herein, Emil,“ rief ihm seine Frau nach, „wir fangen mit dieser Stube an und haben schon dreiviertel Stunden verloren!“
„Sei unbesorgt,“ gab der Oberstlieutenant zurück, „ich gehe bis zu Mittag aus. Großes Reinmachen ist kein so besonderes Vergnügen für mich, daß ich mich noch extra dazu setzen sollte!“
„Weiter fehlte mir auch nichts,“ bemerkte die Mutter, als sich die Thür hinter dem Hausherrn geschlossen hatte, „das wäre das Angenehmste, was ich mir denken könnte!“
„Ich hätte Dir ja gut helfen können, Mama,“ sagte Liesbeth bedauernd. „Kann ich nicht heute einmal aus der dummen Litteraturstunde wegbleiben?“
„Nein,“ entschied die Mutter, „Du hast erst vorigen Freitag versäumt – um zehn Uhr gehst Du ab!“
Das Hilfscorps, eine noch nicht erprobte Scheuerfrau – die gewohnte konnte nicht kommen – und die Köchin wurden nunmehr aufgeboten, und binnen wenig Minuten war das behagliche Wohnzimmer in ein Chaos verwandelt, in welchem Stühle ihre vier ungraziösen Beine in stummer Anklage gegen die Decke streckten, die Familienbilder wehmüthig mit dem Kopfe an der Wand lehnten, und gardinenlose Fenster hohläugig auf dieses Bild der Ungemüthlichkeit starrten.
Amalie, die bereits oben erwähnte Köchin, kreidebleich und mürrisch, mit einem vorwurfsvollen Tuch um den Kopf, erklärte auf die theilnehmende Frage der Mutter nach ihrem Befinden, „es wäre ihr in den Magen gekommen!“ ein unbestimmtes „es“, welches sich nach dem Vorgefallenen nur auf das – übrigens inzwischen wieder eingefangene – Eichhörnchen deuten ließ.
Die leidende Amalie betheiligte sich unter herausforderndem Aechzen an der allgemeinen Thätigkeit und hielt halblaute Selbstgespräche, in denen die Wendung „der Mensch kann nicht mehr wie arbeiten“ – „der Mensch kriecht eben so lange, bis er liegen bleibt!“ eine wohllautende Begleitmusik zu ihren Leistungen bildete.
Die Stimmung der Mutter wurde infolge dessen natürlich nicht gerade ausgelassen heiter.
Die Scheuerfrau, die sich einer namenlosen Bildung erfreute und, um diese zu beweisen, jedes Glas ohne ersichtlichen Grund „Pokal“ nannte, war entschieden in Fremdwörtern gewandter als im Aufräumen. Sie schmetterte alle Augenblicke zerbrechliche Gegenstände wie Fanfaren durch die Luft und jonglierte in einer so betrübenden Weise mit den Porzellanschätzen des Hauses, daß man sich immerfort lebhaft an einen Polterabend erinnert fühlte.
Nur eine abscheuliche gemalte Kachel, durch die eine böse Freundin der Familie diese einmal recht gekränkt hatte, und auf deren Zerbrechen man schon öfter Belohnungen gesetzt hatte, trotzte auch diesmal mit eiserner Stirn jedem Unfall und ging heil und häßlich aus den drohendsten Gefahren hervor. Das diesmalige Aufräumen war ihr übrigens als letzte Gnadenfrist gestellt, und sie sollte, wenn sie wieder ganz blieb, dann sofort auf einen Bazar zu wohltätigem Zweck geschenkt werden – den bewährtesten Ableiter für alle unbrauchbaren und verhaßten Gegenstände eines Haushalts.
Angesichts des Zerstörungstriebes der helfenden Scheuerfrau kommandirte die Mutter diese in die Küche, wo sie unter dem eisernen Geschirr entschieden unschädlicher toben konnte; als aber Frau Anna von diesem Abstecher und den dazu gehörigen Anweisungen ins Wohnzimmer zurückkehrte, fand sie ein neues Unheil vor.
Die Köchin, die heut jeder schonte wie ein rohes Ei, und die schon in jeder Ecke verstohlen Baldriantropfen aus einem Fläschchen gekneipt hatte, saß in einem Lehnsessel zusammengekauert und überraschte ihre Gebieterin durch die Erklärung, [786] der Magenkrampf „schmisse sie bis an die Decke!“ – was ja jedenfalls als eine achtbare Leistung anzusehen war.
„Nun, Amalie,“ sagte die Hausfrau gefaßt, „da müssen Sie eben zu Bett gehen – wir werden schon sehen, wie wir fertig werden!“
Nach einem kurzen, edlen Wettstreit ließ sich denn Amalie bewegen, sich selbst für invalid zu erklären, und wankte unter der heiteren Versicherung, daß sie „am liebsten so schreien möchte, daß man es Häuser weit hörte“, in ihr etwas abgelegenes Gemach, wo sie dieser Neigung ohne jegliche Störung von seiten der Außenwelt obliegen konnte und wohin sie den ewig warmstehenden ungeheuren Topf voll Kaffee mitnahm, der zu jeder Köchin so untrennbar gehört wie die Eule zur Minerva.
Die Zurückbleibenden, Mutter und Tochter, sahen sich verstört und rathlos an.
„Natürlich muß die Amalie heut krank werden,“ nahm die Mutter endlich mit einiger Bitterkeit das Wort, „aber Liesbeth, nun hilft es nichts – Du mußt nun doch von der Litteraturstunde zu Haus bleiben und mir helfen!“
„Hurrah!“ rief Liesbeth lustig und warf das Staubtuch, mit dem sie eben beschäftigt gewesen war, in die Luft, „was geht mich die Litteraturstunde an? Du weißt doch, Mutter, daß ich zehnmal lieber hier helfe, als in die dummen Stunden gehe, wo ich doch nur schlafe – wir haben noch dazu heut den alten Sebastian Brant mit seinem Narrenschiff – auf den habe ich immer einen Haß gehabt! Darf ich mich richtig zum Reinmachen anziehen? Bitte, Mama!“
„Kindskopf!“ sagte die Mutter lachend und strich ihr über die Wange, „mach Dir die Arbeit nur zum Spiel, obwohl das mit bald sechzehn Jahren auch aufhören könnte!“
Als Liesbeth nach wenig Minuten wieder ins Zimmer trat, war sie ihrer Aufgabe gemäß verwandelt. Die Kleiderärmel, bis über die Ellbogen aufgestreift, ließen zwei zierliche Arme frei, eine mächtige, dunkelblaue Latzschürze verbarg das Kleid vollständig und ein türkisch buntes Tuch, das wie bei den böhmischen Obstfrauen um den Kopf geknotet war, stand allerliebst zu dem frischen, feinen Gesichtchen.
Die Mutter betrachtete ihr reizendes Töchterchen mit heimlichem Wohlgefallen.
„So ist es ja ganz ordentlich,“ sagte sie kühl, „und nun werde ich einmal sehen, ob Du schon vernünftig bist! Ich muß draußen in der Küche und Speisekammer nachsehen und übertrage Dir, diese Stube jetzt ganz fertig zu machen. Das Gröbste ist ja geschehen, jetzt nimm Dir alle Nippsachen noch einmal vor, wasche sie gründlich ab und stelle sie wieder an ihren Platz. Die guten Krüge konnte ich der ungeschickten Person draußen doch nicht in die Hand geben! Wie das heute werden soll, weiß ich nicht!“
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Mit sorgenvollem Kopfschütteln verließ die Mutter das Zimmer und überließ es der kleinen Wirthschaftlichen, ihren verantwortliche Aufgabe nach besten Kräften zu erfüllen.
Das Backfischchen, glückselig, ohne Beaufsichtigung zu sein und alles nach Gutdünken angreifen zu können, begann denn auch mit Feuereifer sein Werk und stand bald vor einem großen Kübel mit heißem Wasser, in dem es die Staubspuren von den Porzellankrügen abspülte.
Ihre Gedanken – wie junge Gedanken nun einmal sind, bei denen eben das erste Fluggefieder sich zu regen beginnt – blieben nicht ganz streng bei der Sache! Sie flogen über die Stube, über das Haus hinaus in die blaue Luft, auf die Schlittschuhbahn – in die Tanzstunde – und schließlich in das nächste Jahr hinein – auf den ersten Ball!
Die Zukunft lag vor ihr wie der Wintertag da draußen – klar, heiter, funkelnd und flimmernd – in ungetrübter Schönheit, da es in Luftschlössern bekanntlich keinen Schatten giebt! Daß in etwas unbestimmter, aber ganz herrlicher Gestalt auch ein Märchenprinz in diesem Luftschloß wohnte, wird uns wohl jede Leserin glauben – auch wenn sie nicht mehr fünfzehn Jahre alt ist – und am Ende auch mancher Leser!
Unter den Erscheinungen der Wirklichkeit hatte bisher keiner auch noch so entfernt vermocht, an Liesbeths erträumten Helden heranzureichen, der gewissermaßen als ein Extrakt sämmtlicher gelesenen Schriften „für die reifere Jugend“ und etlicher verstohlen genossener harmloser Liebesgeschichten sich darstellte und je nach der zuletzt gelesenen als ein in allem Sport bewanderter, strahlender, formgewandter Salonheld – oder auch als düsterer, unheimlicher Rinaldo mit einer unbegreiflichen Grobheit gegen alle Damen sich die Herzen eroberte.
[822] In solche Gedanken vertieft, arbeitete Liesbeth schweigsam und eifrig weiter.
Die Thür des Zimmers, welches der Haustreppe und dem Flur gegenüber lag, war nur angelehnt, und die Flurthür ebenfalls nicht geschlossen, da alle Augenblicke jemand hinaus oder herein lief.
So konnte es geschehen, daß ein junger Offizier, der eben die Treppe heraufstieg, alle Eingänge zur Wohnung gastfreundlich offen fand und, nachdem sein Klingeln nicht beantwortet worden war, nach Soldatenart zum entschiedenen Angriff auf die Festung überging, in den Flur trat und die nächste Thür sachte aufmachte.
Liesbeth stand, mit dem Rücken gegen ihn gewendet, auf einer kleinen Steigeleiter und hob eben mit übermächtiger Anstrengung und einigem Seufzen einen schweren Krug mit beiden Armen empor, um ihn auf das Sims über der Thür zum Nebenzimmer zu setzen.
Der junge Mann sah einen Augenblick mit belustigter Miene auf die zierliche Mädchengestalt, die sich auf die Zehenspitzen hob und vergeblich versuchte, die Höhe der Thür zu erreichen. Dann trat er mit einem freundlichen „Lassen Sie mich das mal machen!“ neben die Leiter, und während Liesbeth vor Schreck, Ueberraschung und Erstaunen wortlos mit einem flinken Satz auf den Boden sprang, nahm er ihr den Krug aus den Händen und stellte ihn an seinen Platz.
Sie stand schweigend, dunkel erröthet, mit gesenkten Augen vor ihm – wie sie es machte, daß sie ihn trotzdem genau sah, das mußte sie am besten wissen!
„So!“ sagte er gemüthlich und sah mit lächelndem Wohlgefallen auf das reizende Gesicht unter dem bunten Tuch, „nun habe ich Ihnen einen Gefallen gethan – thun Sie mir auch einen Gefallen – melden Sie mich einmal beim Herrn Oberstlieutenant!“
Er hielt ihr seine Visitenkarte hin.
In Liesbeth empörte sich bei dieser etwas nachlässigen Anrede jeder Blutstropfen – sie warf den kleinen Kopf hochmüthig zurück und hätte beinah eine mehr wie kurze Antwort gegeben, als ihr wie ein Blitz der Gedanke durch den Sinn flog: „Er hält dich für das Stubenmädchen!“ und im selben Augenblick war ihr Entschluß gefaßt.
Sie wollte diesem strahlenden, hübschen, blonden Helden, der im ersten Augenblick alle Gebilde ihrer Phantasie in das Schattenreich geworfen und deren Stelle eingenommen hatte, nicht in ihrer wahren Gestalt erscheinen – sie hätte sich ja in ihrem Zofenkostüm zu Tode schämen müssen! – nein, sie wollte jetzt Aschenbrödel bleiben und bei der ersten Gelegenheit, wo der junge Offizier wieder käme, als strahlende Prinzessin erscheinen – vorausgesetzt, daß sie ausnahmsweise bis zehn Uhr aufbleiben durfte!
In diesem Entschluß nahm sie mit gesetzter Miene die Karte in Empfang und sagte mit großer Ruhe: „Der Herr Oberstlieutenant wird sehr bedauern – er ist ausgegangen!“
„Ach so – und hier ist der Reinmacheteufel los, wie ich sehe!“ bemerkte der Lieutenant lachend, „da komm’ ich wohl recht ungelegen?“
„Ich glaube,“ stotterte Liesbeth, „ich glaube – die Herrschaften erwarteten Sie heut noch nicht – wenn Sie vielleicht morgen –“
„Nein,“ sagte der junge Mann kurz, sah vor sich nieder und drehte verdrießlich an seinem Schnurrbart, „ich reise heut nachmittag wieder ab.“
Ein Wehegefühl zerfleischte das Herz des Backfischchens – ade, du schöner Traum!
„Und ich hätte die Herrschaften so gern gesprochen,“ fuhr der Gast ärgerlich fort, „ich hatte außer einer Visite noch eine Bitte an die Damen – es ist ja wohl eine Tochter hier, nicht wahr? – ein halbwüchsiges Schulmädel, wenn ich recht berichtet bin.“
Liesbeth hätte den Gegenstand ihrer Schwärmerei in diesem Augenblick mit kaltem Blut ermorden können!
„O nein!“ erwiderte sie mit blitzenden Augen, „das Fräulein ist erwachsen – sie geht nicht mehr in die Schule, sondern nimmt nur noch einzelne Stunden.“
„So?“ frug der Lieutenant verwundert, „ich dachte doch, sie wäre erst fünfzehn Jahre – meine Schwester sagte mir so.“
Liesbeth schwieg vernichtet angesichts dieser beschämenden Wahrheit.
„Nun einerlei,“ setzte der Sprecher hinzu und warf erst jetzt wieder einen Blick in das Gesicht seines Gegenübers, der seine Züge wieder erhellte, „älter wie fünfzehn Jahre sind Sie wohl übrigens auch noch nicht, mein Kind?“
„Doch!“ stieß Liesbeth mit Nachdruck hervor, ihr Gewissen durch die Thatsache beschwichtigend, daß sie fünfzehn und ein halbes sei! –
„Na, mehr wie sechzehn sind Sie gewiß nicht,“ fuhr der junge Offizier fort, „in jedem Fall sind Sie noch sehr jung, um sich schon unter fremden Leuten Ihr Brot zu verdienen!“ setzte er mit weichem Ton und einem mitleidigen Blick hinzu.
Liesbeth erwiderte nichts und wendete sich ab.
„Er ist himmlisch!“ dachte sie für sich, „wenn er bloß noch nicht wegginge!“
„Hören Sie einmal,“ begann der Fremde nach einer Weile wieder, „wie heißen Sie übrigens?“
In Liesbeths Kopf jagte sich in fliegender Eile eine Menge herrlicher Namen, die sie sich immer gewünscht hatte – aber dann schienen sie ihr wieder für ein Stubenmädchen zu schön und zu unwahrscheinlich – so sagte sie gar nichts!
„Nun?“ frug der blonde Held und bückte sich lächelnd, um ihr ins Gesicht zu sehen, „ist das ein Geheimniß?“
„Nein,“ sagte sie mit raschem Entschluß, „ich heiße – Christel!“
„Also – Christel,“ fuhr er fort, „ich habe die höchste Eile – könnten Sie mir einen Auftrag besorgen?“
„Sehr gern!“ erwiderte sie halblaut.
„Das ist nett von Ihnen!“ sagte der junge Mann vergnügt; „es handelt sich um ein Weihnachtsgeschenk für meine Schwester.“
„Ja?“
„Dieses Wurm ist nämlich ebenso alt wie das Backfischchen hier und wird wohl auch dieselbe Handschuhnummer haben. Nun giebt es hier solche Spezialität von Handschuhkasten mit Handschuhen, die Ihr kleines Fräulein voriges Jahr für meine Schwester besorgt hat; sie wird sich ja wohl noch erinnern.“
„Ja, ich weiß,“ sagte Liesbeth eifrig.
„Nun, und dieselben soll ich dies Jahr zu Weihnachten beschaffen; würden Sie mir das etwa besorgen, da ich doch Ihr kleines Fräulein nicht sprechen kann? Sechs Paar Handschuhe in verschiedenen Farben – zeigen Sie mal! Ihre Hand wird wohl auch das Kaliber haben!“
Liesbeth steckte entschlossen die beiden kleinen Hände, die sie fraglos verrathen hätten, unter die Schürze.
„Meine Hände sind zu abgearbeitet,“ sagte sie kurz, „die zeige ich nicht!“
Wieder traf sie der mitleidige Blick, der vorhin schon solches Unheil angerichtet hatte – der junge Mann sah ernsthaft aus.
„Also, meine liebe Christel,“ fuhr er nach einer kleinen Pause fort, besorgen Sie mir solch’ einen netten Kasten mit sechs Paar Handschuhen – Ihr kleines Fräulein sucht ihn gewiß aus, wenn Sie sie recht schön darum bitten – und lassen Sie das Packet an diese Adresse hier abschicken!“
Er riß ein Blatt aus seinem Notizbuch, kritzelte ein paar Worte darauf und gab es ihr.
„Und hier haben Sie zwanzig Mark, die können Sie dafür verputzen – und hier – für Ihre Mühe!“
Er hielt ihr ein Goldstück und eine einzelne Mark hin. In Liesbeths Kopf wirbelte es aufs entsetzlichste durcheinander. Sie sollte ein Trinkgeld annehmen – unmöglich! Und that sie es nicht, so verrieth sie ihr Inkognito!
Sie nahm mit spitzen Fingern das Goldstück und ließ die Mark unberührt.
„Bitte!“ stammelte sie erglühend.
„Na, ohne Umstände!“ sagte der Lieutenant gutmüthig und schob ihr, deren Widerstand er für falsche Bescheidenheit hielt, das Geldstück mit sanfter Gewalt in die Hand, „und nun, Christel, sagen Sie den Herrschaften meine Empfehlung! Hoffentlich treffe ich sie zu Haus, wenn ich übers Jahr wieder hier durch komme! Adieu, Christel – ich hoffe, es geht Ihnen immer gut und Sie bekommen mal einen guten Mann!“
„Ich danke!“ brachte Liesbeth mühsam hervor.
„Und hier – geben Sie meine Karten ab,“ setzte er noch eilig hinzu, nickte freundlich und klirrte zur Thür hinaus – und Liesbeth stand mit dem Gelde und dem Zettel in der Hand da und sah ihm nach wie verzaubert.
Was hatte ihr dieser so nüchtern anfangende Tag doch für ein herrliches Abenteuer gebracht! Davon konnte man ja ein ganzes Leben lang zehren!
Wie freundlich, wie sicher, wie gutmüthig und wie hübsch [823] war dieser junge Kriegsgott! Und wie schade – wie jammerschade, daß er nicht mehr wiederkam – bis übers Jahr!
Sie ließ die Hände in den Schoß sinken und vergaß ihre Arbeit, ihre Pflicht, das Durcheinander der Stube – kurz alles, was wirklich und greifbar um sie her war! Dann nahm sie die Visitenkarten vor. „Kurt Binder“ las sie halblaut, „Kurt – wie aus einer Geschichte!“
Eine von den Karten konnte sie gewiß aus der Schale stibitzen! Und die Mark! das war ja ein herrliches Andenken!
Sie ergriff den kleinen Lederlappen, den sie zum Blankreiben des silbernen Theekessels mitgenommen hatte, und begann aus Leibeskräften die Mark zu putzen, so eifrig, daß sie den Schritt der Mutter überhörte, die eilig herein kam.
„Aber Liesbeth!“ rief die Hausfrau schon in der Thür, „das ist alles, was Du geleistet hast? Ich denke, Du bist halb fertig! Natürlich!“
Liesheth sah beschämt zu Boden.
„Und was machst Du denn jetzt?“ fuhr die Mutter strafend fort.
„Ich putze!“ sagte Liesbeth verlegen.
„Das sind ja Dummheiten!“ rief die Mutter ärgerlich. „Du bist doch wirklich noch zu gar nichts zu gebrauchen! So ein großes Mädchen!“
Liesbeth flog ihrer Mutter ungestüm um den Hals.
„Ach Mama – schilt nicht! ich kann nichts dafür! Denke Dir, der Lieutenant Binder war hier und läßt Euch schon grüßen!“
„Und Du hast ihn hier angenommen?“ frug die Mutter, starr vor Entsetzen, „in diesem Aufzug?“
„Er kam ja unangemeldet herein!“ rief Liesbeth mit so aufgeregter Stimme, daß die Mutter ihre Tochter ganz verwundert ansah, „und ich habe Stubenmädchen gespielt, und er denkt, ich heiße Christel – –“ schloß sie und tanzte wie toll in der Stube herum.
Die Mutter schüttelte bedenklich den Kopf.
„Na, Du scheinst heut die Litteraturstunde mit Nutzen versäumt zu haben,“ sagte sie gedehnt, „nun hilf mir aber hier – jetzt ist’s genug des Unsinns!“
Als dieser bedeutsame Tag zu Ende war und die Wohnung sich wieder in dem Zustand befand, den man von gebildeten Räumen zu erwarten und zu verlangen berechtigt ist, schlich Liesbeth noch einmal in das Zimmer der Brüder, wo Ernst noch mit lauten Verwünschungen gegen das Schicksal und den Klassenlehrer an einem Aufsatz über die Freuden des Winters sich abquälte, während Franz schon schlief.
„Ernst!“ begann das Backfischchen verlegen und zögernd, „ich möchte Dich etwas fragen!“
„Na, dann mach rasch!“ brummte Ernst, „ich habe noch zu ‚ochsen‘!“
Uneingeschüchtert durch die zarte Bezeichnung, die der Tertianer für die Pflege der Wissenschaften wählte, legte ihm Liesbeth die Hand auf die Schulter.
„Ernst, kannst Du Löcher bohren?“ frug sie.
„In was?“ erkundigte sich der Befragte vorsichtig, um sich nicht zu allzu schwierigen Leistungen zu verpflichten.
Liesbeth nahm verlegen ihren Zopf in die Hand und zupfte an der Bandschleife, die ihn zusammenhielt.
„In ein Markstück!“ sagte sie halblaut.
Der Tertianer schob das Heft zur Seite.
„Ja!“ entschied er dann, „ich kann’s! – aber Du mußt mir auch meinen Schluß machen! Du kannst ruhig etwas Schwulst anbringen,“ setzte er hinzu, als ihn die Schwester zweifelhaft ansah, „unser Ordinarius ist so ein Schmachtlappen, der liest solchen Blödsinn gern, wie ihn die Mädchen schreiben!“
Dergestalt ermuthigt, nahm Liesbeth den Platz ihres Bruders am Schreibtisch ein, und während Ernst mit unsäglicher Kraftanstrengung und unter abscheulich quietschendem und knarrendem Geräusch das Markstück durchbohrte, schrieb das Backfischchen mit glühenden Wangen und klopfendem Herzen einen Schluß an den Aufsatz über die Freuden des Winters, der so schwungvoll und empfindungsreich wurde, daß der Lehrer bei späterer Zurückgabe des stilistischen Meisterwerks drohend bemerkte. „Zuletzt hat wohl jemand anders sich Deiner erbarmt, Solten – ich habe bei Dir noch nie ein solches zartes Verständniß für die Schönheit des Winters und den Mondschein auf der kalten Eisfläche entdeckt“ – und Ernst, der sich dabei in einer recht peinlichen Lage befand, sah sich zur Verbergung seiner Verlegenheit genöthigt, in der großen Pause seinen besten Freund durchzuprügeln, der seiner Behauptung nach bei der Rede des Lehrers „gegrinst“ hatte.
Liesbeth aber befestigte glückselig ihr Markstück am Bettelarmband und erwiderte auf die erstaunte Frage ihrer Angehörigen und Freundinnen, was denn dieses sonderbare Anhängsel zu bedeuten habe, mit unerschütterlichem Ernst: „Es ist ein Talisman!“
Zwei Jahre waren seit jenem großen Tage im Soltenschen Hause hingegangen.
Liesbeth war nun wirklich „erwachsen“ – das Ziel ihrer Wünsche erreicht, und sie sah von der sonnigen, frühlingsfrischen Höhe ihrer siebzehn Jahre „hinein in das blühende Land!“
Daß im Lenz auch manchmal ein lustiger Sturmwind und eine übermüthige Laune weht, das gehört dazu – und man müßte schon ein ganz besonderer Griesgram sein, um sich nicht ganz gern von einem solchen schütteln zu lassen.
Das empfand auch der Papa Oberstlieutenant, der für alle Streiche und Tollheiten des Töchterchens im schlimmsten Fall nur ein nachsichtiges „na, na“ hatte, so daß die Mutter oft klagte: „Mit den armen Jungen bist Du immer so streng, und das Mädel kann thun und lassen, was es will!“
Der Vater schmunzelte behaglich.
„Die Jungen machen ihre Dummheiten später ohne väterliche Aufsicht, liebe Anna,“ sagte er, „in einem Alter, wo das arme Mädel schon lange vernünftig geworden ist – das bedenke!“
Und nach der halb wehmüthigen Mahnung des alten Walzertextes
„Des Lebens Mai – zwei drei –
Ist bald vorbei – zwei drei!“
gab sich auch die Mutter zufrieden und ließ den kleinen Uebermuth gewähren.
Augenblicklich war es aber still im Hause bei Soltens, denn Liesbeth hatte sich für einige Wochen auf Besuch zu der Familie des Generals Binder begeben, deren Sohn wir bei Gelegenheit des „großen Reinmachens“ kennenlernten und deren Tochter ja Liesbeths Pensionsfreundin war.
Mit welchem innern Herzklopfen und welcher äußern Gleichgültigkeit die kleine Heuchlerin diese Einladung anhörte – wie nachlässig sie auf die Frage der Mutter: „Nun, hast Du Lust, zu fahren?“ erwiderte: „Wie Du meinst, liebe Mama!“ – das muß man erlebt haben, um es zu glauben.
Die Mutter hatte, eingedenk der erstmaligen Begegnung mit dem Lieutenant, ihre stillen Bedenken und trug dieselben auch dem Vater vor. „Sie war ziemlich aus dem Häuschen, kann ich Dir sagen,“ meinte sie zweifelhaft.
„Ach Unsinn!“ sagte der Vater, „sie hat den Menschen fünf Minuten lang gesehen und dann nie wieder – so sind siebzehnjährige Mädel nicht, daß sie zwei Jahre lang an solcher Geschichte hängen!“
Die Mutter schwieg unüberzeugt.
„Und außerdem,“ schloß der Vater, „steht der Lieutenant in B… und Liesbeth geht nach M…, also wird sie ihn gar nicht sehen!“
Dieser Einwand entschied, und Liesbeth befand sich nun schon seit mehreren Wochen im Schoße der Generalsfamilie und hatte auch dort jung und alt bald ganz für sich erobert.
Die Schulfreundschaft mit Lina Binder war aufs schnellste aufgefrischt worden, die Mädchen vertrugen sich herrlich und genossen die schöne Zeit glückselig miteinander.
Nur das Haupterforderniß der gegenseitigen Vertraulichkeit, das Beichten, wollte nicht recht blühen. Lina hatte zwar schon geheimnisvolle Erlebnisse aus der Tanzstunde und tief erregende Begegnungen auf der Schlittschuhbahn berichtet und Gegenseitigkeit verlangt – aber Liesbeth schüttelte den Kopf.
„Bei uns zu Hause ist kein Mensch, in den man sich verlieben könnte – in der ganzen Stadt nicht!“ versicherte sie mit großer Entschiedenheit, als die Freundin sie eines Abends unmittelbar vor dem Schlafengehen etwas ausfragte.
„Darum bist Du wohl zu uns gekommen?“ lachte Lina.
Aber unerwarteterweise nahm Liesbeth diesen harmlosen Scherz bitter übel, brach in Thränen aus und ging zu Bett, ohne der Freundin zu verzeihen, so daß diese, als am andern Morgen alles wieder gut war, sich die milde Frage erlaubte: „Bei Dir [824] rappelt’s wohl manchmal?“ eine bescheidene Erkundigung, die Liesbeth mit überlegenem Schweigen beantwortete.
Um die Weihnachtszeit sollte unsere kleine Heldin natürlich nach Hause kommen. Da in der befreundeten Familie der Sohn zu diesem Feste erwartet wurde, so war dies ein nagender Schmerz – aber was half’s!
Es schien, als sollte Liesbeth ihr Ideal vom Reinmachetag her nicht wiedersehen und die Mark am Bettelarmbande die einzige Beziehung bleiben, die sie zu ihm haben durfte.
Da traf eines Morgens die überraschende Nachricht ein, daß der Lieutenant mit einem Kameraden, der mehrere Jahre nicht zum heiligen Abend daheim gewesen war, den Urlaub getauscht hätte und schon am nächsten Tage bei den Seinigen eintreffen würde, um diesmal im November vierzehn Tage bei den Eltern zu verleben.
Eine freudige Aufregung bemächtigte sich der ganzen Familie. Die Stube für den Sohn wurde aufs schönste geschmückt, und Lina forderte Liesbeth auf, sich an der Herstellung eines „Willkommen“-Transparents zu betheiligen, welches sie für den Bruder mit unsäglichem Aufwand von Oelpapier anfertigte.
Aber Liesbeth lehnte ab.
„Ich kenne ihn ja gar nicht!“ sagte sie kurz.
„Ja, richtig!“ bemerkte die andere, „es war eigentlich schade, daß er Euch damals nicht zu Hause traf, als er bei Euch war!“
„Hat er Dir davon erzählt?“ frug Liesbeth athemlos.
„Weiter nichts, als daß er ins Hauptscheuerfest gekommen sei,“ versetzte die ahnungslose Freundin.
„So!“ sagte Liesbeth gedehnt.
„Er ist göttlich!“ rief die begeisterte Schwester, „Liesbeth, Du wirst Dich bis über beide Ohren in ihn verlieben – ich sage es Dir!“
„Höchst unwahrscheinlich!“ erwiderte Liesbeth würdig.
„Du wirst schon jetzt roth!“ jubelte Lina, „das ist nett von Dir!“ Und sie umarmte die Freundin vor Freude.
Liesbeth zuckte mit gut gespielter Unbefangenheit die Achseln.
„Wenn ich nicht bei Euch zu Besuch wäre, würde ich jetzt etwas sagen!“ meinte sie kühl.
„Thu Dir keinen Zwang an!“ ermuthigte Lina freundlich.
„‚Schaf!‘ würde ich sagen,“ erwiderte die Freundin mit großer Ruhe, machte eine Pirouette auf dem Absatz und ging in ihre Stube. – – –
Der Erwartete war endlich angekommen, und am Theetisch wurde es Liesbeth vergönnt, ihr Ideal wiederzusehen! Sie gab sich, als sie an diesem Abend im Begriff war, einzuschlafen, mit innerer Befriedigung das Zeugniß, daß sie sich tadellos benommen hätte.
„Er“, im Tagebuche so: ER (mit zwei großen lateinischen Buchstaben) bezeichnet, war zwar womöglich noch bezaubernder geworden seit ihrer ersten Begegnung, und als er ihr vorgestellt wurde, konnte sie sich eines höchst peinlichen, wie ihr schien, bis in die Augäpfel sich erstreckenden Erröthens nicht erwehren, welches, schlecht gerechnet, drei Minuten lang anhielt – aber sie erwiderte, trotz dieses verhaßten Uebelstandes, seine Verbeugung gerade so kurz, so gehalten und so obenhin wie die meisten siebzehnjährigen Damen, die auf die Wahrung ihrer weiblichen Würde eifrig bedacht sind.
Er hatte nicht viel mit ihr gesprochen an jenem ersten Abend, da die Seinigen ihn natürlich sehr in Anspruch nahmen, aber ab und zu sah er sie flüchtig und mit einer Art von fragendem Blick an, als wollte er sagen: „Wo der Tausend habe ich doch dieses allerliebste Mädchen schon einmal gesehen?“ was für Liesbeth jedesmal eine wahre Folterqual bedeutete.
Ob er sich innerlich über die Sache noch weiter den Kopf zerbrach, mußte dahingestellt bleiben. In jedem Falle begann er vom folgenden Tage an, dem jungen Gaste des Hauses seine besonderen Aufmerksamkeiten zu widmen. Dieselben verstiegen sich schon in den ersten vierundzwanzig Stunden bis zum Wollehalten, was stets als ein äußerst bedrohliches Anzeichen zu betrachten ist.
Die kurze Zeit, die Liesbeth noch im Hause des Generals vergönnt war, gestaltete sich denn von Tag zu Tag reizender und bedeutsamer, und ihre heldenhaften Versuche, die kühnen Hoffnungen und Pläne ihres Herzens vor sich selbst für „Blödsinn“ zu erklären, wurden merklich schwächer und lebensunfähiger.
Am Tage vor der drohenden Abreise sollte noch ein kleines Tanzfest stattfinden, und die Mädchen saßen am Fenster zusammen und nähten Cotillonschleifen aus buntem Band.
„Du!“ begann Lina nach einem ziemlich langen beiderseitigen Stillschweigen.
Liesbeth erhob die Augen von der Arbeit. „Was giebt’s?“
„Wie findest Du Kurt?“ frug Lina mit einem kleinen Triumphblitz in den Augen, der ihrer Freundin nicht entging.
Liesbeth wendete eine wahrhaft übermenschliche Selbstbeherrschung an, um nicht roth zu werden – es glückte – ausnahmsweise glückte es!
„Nun?“ wiederholte Lina, als ihre Frage unbeantwortet blieb, „ich will wissen, wie Du Kurt findest?“
„Ganz nett!“ sagte Liesbeth herablassend.
Lina sah sie sprachlos an.
„Ganz nett?“ wiederholte sie in schneidendem Ton, „nun, das nimm mir nicht übel – das ist wirklich großartig!“
In diesem Augenblick zeigte sich der Besprochene in der Thür.
„Darf man in diese hochwichtige Konferenz eintreten?“ frug er lachend, als beide jungen Damen bei seinem Erscheinen verstummten, „oder werden hier Geheimnisse verhandelt?“
„Gar nicht!“ sagte Lina mit einem boshaften Blick auf die Freundin, „Liesbeth hat Dir mir soeben Dein Zeugniß ausgestellt!“
[826] „Seit Sexta eine unangenehme Sache für mich!“ bemerkte Kurt ernsthaft, „darf ich fragen, wie es ausgefallen ist?“
„Sie hat gesagt, Du wärst ‚ganz nett‘!“ gab Lina zur Auskunft, stand auf und ging hinaus.
Die beiden blieben allein und schienen zunächst von ihrer Ungestörtheit wenig Vortheil ziehen zu wollen, denn keines von beiden sprach ein Wort.
Liesbeth nähte mit einem Eifer, als sollte sie ihr Brot damit verdienen, daß sie Cotillonschleifen anfertigte; das versäumte Rothwerden von vorhin hatte sich jetzt mit wahrhaft lähmender Heftigkeit eingestellt – sie hoffte im stillen, daß ihre Stellung mit tief gesenktem Kopf diese peinliche Thatsache verbergen würde.
Der junge Mann hatte in einem Sessel ihr gegenüber mit verschränkten Armen Platz genommen und sah sie lächelnd an.
„Ganz nett,“ sagte er dann, „nun, das ist ja immer schon etwas!“
„Das finde ich auch!“ brachte Liesbeth mühsam hervor. Sie fühlte sich namenlos beängstigt unter dem nachdenklich prüfenden Blick ihres Gegenübers und richtete mit der Schere erbarmungslose Verheerungen unter dem bunten Bande an.
Das Bettelarmband klirrte bei ihren unruhigen Bewegungen.
„Darf man das Armband einmal bewundern?“ frug der junge Mann harmlos und streckte die Hand danach aus, „ich habe gehört, die jungen Damen wissen darin ganz besonders raffinirte Dinge zu erfinden!“
„Um keinen Preis!“ rief Liesbeth, ganz blaß werdend, „das darf niemand sehen!“
„Hoho!“ sagte der Lieutenant, belustigt durch ihren Eifer, „das scheint mir ja eine gefährliche Sache zu sein! Aber ich bin diskret – ich bringe das Gespräch auf etwas anderes,“ fuhr er scheinbar ganz unbefangen fort, „ich wollte Sie schon dieser Tage immer nach jemand fragen – darf ich?“
Liesbeth fühlte alle Schrecken des Geächteten über ihrem Haupte.
„Bitte!“ erwiderte sie fast unhörbar.
„Als ich vor zwei Jahren durch A… kam,“ begann er langsam, indem er seine Augen noch immer fest auf ihrem Gesicht ruhen ließ, „und den vergeblichen Versuch unternahm, Ihrem Herrn Vater meine Aufwartung zu machen, da war bei Ihnen gerade großes Scheuerfest!“
„So?“ erwiderte Liesbeth anscheinend sehr verwundert.
„Ja, denken Sie ’mal!“ fuhr er gemüthlich fort, „und die Damen der Familie waren natürlich nicht sichtbar!“
„Natürlich!“ wiederholte Liesbeth mechanisch.
Kurt bückte sich tief, um ihr in die Augen zu sehen – ein erfolgloses Unternehmen, denn die dichten, schwarzen Wimpern hoben sich auch nicht um eine Linie weit.
„Da hatten Sie solch ein allerliebstes Stubenmädchen,“ sagte er lachend, „sie hieß Christel – was ist denn aus der geworden?“
Liesbeth warf einen hilflosen Blick umher und suchte nach einem Vorwand, das Zimmer zu verlassen – sie antwortete nicht.
„Ist sie noch bei Ihnen?“ frug der erbarmungslose Gegner weiter.
„Nein!“ murmelte Liesbeth.
Der Lieutenant lehnte sich in seinen Sessel zurück und sah zur Decke empor.
„Schade,“ meinte er nachdenklich, „es war das niedlichste Persönchen, das ich jemals gesehen habe!“
Liesbeth schwieg.
„Sie wird gewiß auch eine gute Hausfrau werden,“ bemerkte der Lieutenant mit einem halb ernsten, halb neckenden Blick auf das Mädchen, „meinen Sie nicht?“
„Ich hoffe!“ erwiderte Liesbeth tapfer, mit dem Muth der Verzweiflung.
„Ich hoffe auch!“ sagte der junge Mann jetzt in einem plötzlich ganz ernsthaften Ton, „und wissen Sie, was ich mir eigentlich ausgedacht habe?“
„Nein – das kann ich doch unmöglich wissen!“ stammelte Liesbeth mit einem letzten Versuch, unbefangen zu sein.
„Ich wollte immer nur ein Mädchen heirathen wie jene Christel,“ gab er ruhig zurück, „glauben Sie, daß sie mich nehmen würde?“
Liesbeth stand hastig auf – die Bandschleifen flatterten wie aufgescheuchte Vögel von ihrem Schoß herunter zur Erde.
„Das weiß ich nicht!“ flüsterte sie fast unhörbar.
Er lachte etwas verlegen.
„Nun wahrhaftig, ich weiß es auch nicht!“ sagte er und stand auf, „aber wie denken Sie denn darüber?“ fuhr er fort und faßte die Hand mit dem Bettelarmband, die Liesbeth ihm nicht entzog.
„Fragen Sie sie doch!“ erwiderte sie und hing den Kopf.
Da ging das Bettelarmband auf und fiel kirrend zur Erde – er lag schon auf einem Knie, hob es auf und hielt es ihr hin.
„Ich habe noch keine Antwort,“ setzte er dringend hinzu.
„Sehen Sie sich doch das an!“ flüsterte Liesbeth in tiefster Verlegenheit.
Er hielt das kleine, rasselnde Ding in der Hand und warf einen verständnislosen Blick darauf.
„Ich begreife nicht!“ sagte er dann und zuckte die Achseln.
„Das ist ja die Mark, – die Sie – die Sie – die damals die Christel als Trinkgeld bekommen hat,“ rief Liesbeth und machte nach diesem Bekenntniß einen kühnen Versuch, an ihm vorbei zur Thür zu gelangen.
Aber er hielt sie fest.
„Liebe Liesbeth!"“ sagte er mit ganz unsichrer Stimme und feuchten Augen, „aber wissen Sie – das finde ich furchtbar rührend von Ihnen!“ –
Und als Lina fünf Minuten später wieder ins Zimmer kam, fand sie ein glückseliges Brautpaar, und die Cotillonschleifen lagen alle am Boden. Sie konnte sich in ihrer stürmischen Freude über diese Wendung der Dinge aber doch nicht enthalten, triumphierend zu bemerken: „Habe ich Dir’s nicht gleich gesagt, Liesbeth, daß Du Dich in ihn verlieben würdest?“
„Als wenn ich das jetzt erst gethan hätte!“ rief Liesbeth glücklich und unvorsichtig.
Die Eltern unserer kleinen Freundin waren zuerst nicht sehr entzückt über das Ergebniß dieses Ausfluges in die Welt. „Kaum hat man etwas an den Töchtern, da verloben sie sich – natürlich!“ brummte der Oberstlieutenant.
Aber dieses „natürlich“ hatte doch einen starken Beigeschmack voll Wohlgefallen und geschmeichelter väterlicher Eitelkeit.
An Liesbeths Polterabend trat die „Christel“ natürlich in höchsteigner Person mit Staubtuch und Besen auf und gab allen anwesenden jungen Damen den Rath, bei vorkommenden Scheuerfesten ja fleißig Hand anzulegen – wie Figura zeige, sei das oft eine ganz glänzende Spekulation.