Graf Alexander von Würtemberg
[532] Graf Alexander von Würtemberg, der jung verstorbene geniale Dichter, erzählte oft und gern die nachfolgende Scene aus seinem Reiseleben: In Gesellschaft eines Führers bestieg er den Montblanc, d. h. er stieg eben so hoch, als das mit Hülfe eines Führers möglich ist. Auf einem der höchsten Felsen klebt eine Kapelle. Ein schlichtes Muttergottesbild im kleinen Häuschen, ein Kupferstich, eine elende Votivtafel – das war Alles! „Das ist das wahre Gnadenreich,“ sagte der Führer. Der Teppich von Blumen, das frische Grün und der glänzende Schnee rings umher – fürwahr! das schlechte Kirchlein war schöner, als all’ die vielgepriesenen Dome in Mailand und Köln und Straßburg. Der Führer betet sehr lange; Graf Alexander, hinter der Kapelle auf die Kuppe des Felsens emporgeklettert, wartet und wartet. „Jetzt zähl’ ich noch Hundert, dann ruf ich ihn. Nein, er soll fortbeten.“ – Und so zählt er wieder Hundert und wartet wieder fünf Minuten.
Auf einmal athmet er schwer, vor den Augen wird’s ihm schwarz, er hört einen Knall, wie von Millionen Donnern und Kanonen, und darauf Lawinen wie ein Peletonfeuer. Vom nahen Berge ist eine senkrechte Felsenwand, vielleicht so hoch wie der Straßburger Münster, auf den angrenzenden hohlen Gletscher gestürzt, über welchen der Weg führte. Daher dieser furchtbare Knall. Noch ganz betäubt fühlte der Graf einen Schlag auf die Schultern. Sein Führer wars. Er deutete hinab auf die Kapelle und sagte: „Das ist das wahre Gnadenreich!“ – Hätte der Graf das Gebet seines Führers um fünf Minuten gekürzt, wären sie beide auf dem Gletscher zerschmettert.