Goldelse als Buch
[336] Goldelse als Buch. Wir sind überzeugt, der Name braucht nur genannt zu werden, um weit und breit freundliche Erinnerungen, einen wohlmeinenden Nachklang genußreicher Stunden zu wecken. Hat die Erzählung schon überall eine ungewöhnliche Aufmerksamkeit erregt, als sie im vorigen Jahre in unsern Blättern die Welt durchzog, so wird sie wohl kaum einer Empfehlung bedürfen, da sie nun allein kommt und die Kraft ihrer eigenen Schwingen erproben will. Nur über die Gründe, welche die Verlagshandlung bewogen haben, von ihrem bisherigen Grundsatze abzugehen und eine bereits von der Gartenlaube mitgetheilte Novelle noch einmal als Buch erscheinen zu lassen, glauben wir mit einigen Worten uns aussprechen zu müssen.
Ein Journal verfügt nur über ein bestimmtes, genau zugemessenes Terrain, auf welchem nicht alle zur Aufnahme bestimmten literarischen Producte in demselben Umfange Platz finden können, wie sie der freien Schöpfungskraft des Autors entwachsen sind. Um die wesentlichen Bestandtheile und Schönheiten einer interessanten Arbeit für ihre Leser zu retten und bei den ohnehin störenden Zwischenräumen von einer Nummer zur anderen den Gang der Entwickelung nicht unnöthig aufzuhalten, muß sich vielmehr eine Redaction oft genug mit zagendem Herzen zu dem eben so delicaten wie schwierigen Geschäfte entschließen, gerade den werth- und kraftvollsten Erzeugnissen hier einige duftige Blüthen, dort ein frisches Blatt, ein paar schöne Zweige und anmuthige Ranken hinwegzuschneiden. Auch Goldelse hatte leider dieser Procedur sich unterwerfen müssen und dabei manche charakteristische Scene, manchen schönen Gedanken, manche poetische Episode eingebüßt. Es war daher wohl eine Pflicht der Gerechtigkeit, nicht blos gegen den neu in die Literatur tretenden Verfasser, sondern auch gegen das Publicum, eine dichterische Leistung, die sich in ihrer verkürzten Gestalt einen so überaus warmen und zahlreichen Freundeskreis erworben, nun auch in der ganzen Frische und Fülle ihrer ursprünglichen Entfaltung dem Genusse und Urtheil darzubieten. Der so eben (bei E. Keil) erschienene Roman „Goldelse von E. Marlitt“ enthält also Vieles, was sich zwischen den Spalten der Gartenlaube nicht unterbringen ließ.
Für eine selbstständige Ausgabe sprachen aber, neben diesen mehr äußerlichen Rücksichten, auch Gründe innerer Art. Gerade weil die Redaction der Gartenlaube sich bewußt ist, auch auf den novellistischen Theil des Blattes stets eine sehr ernste Sorgfalt verwendet zu haben, und gerade weil sie ihren Lesern im Laufe der Jahre eine nicht unbeträchtliche Zahl anerkannt brillanter, nach Inhalt und Form wirklich vollendeter Erzählungen aus der Hand der bewährtesten Meister zu bieten vermochte, mußte ihr der glänzende Erfolg Goldelse’s, wenn auch einerseits eine sehr freundliche Erfahrung, so doch zugleich ein Gegenstand vielfältigen Nachdenkens sein. Denn giebt es auch für eine Redaction kaum eine größere Befriedigung, als ihre nach reiflicher Prüfung erlangte Ueberzeugung von der Vortrefflichkeit eines neuen Products durch den Beifall des Publicums besonders in denjenigen Fällen bestätigt zu sehen, wo es sich um eine Erkenntniß der ersten noch zaghaften Schritte eines frisch auftauchenden Talents handelt, so ist doch durch den bloßen Beifall der eigentliche Werth einer Erscheinung noch keineswegs endgültig festgestellt. Je weniger uns die unzweideutigsten Beweise über den günstigen Eindruck Goldelse’s in Zweifel ließen, um so mehr fühlten wir uns im Interesse unser eigenen Belehrung zu der Frage gedrängt: Worin lag denn nun der Reiz dieser Erzählung? Was war es, was ihr so schnell die Herzen namentlich der Frauenwelt gewonnen, wodurch sie nach Ueberwindung der ersten Eingangscapitel eine bis zum Schlusse sich steigernde Spannung erzeugt und nach ihrer Vollendung ein vielfach mit großer Innigkeit sich kundgebendes Gefühl der Befriedigung zurückgelassen hat?
Die naheliegende Vermuthung, daß hier vielleicht unedleren Neigungen, oberflächlichen und schlimmen Seiten des Zeitgeschmackes geschmeichelt sein dürfte, konnte von vornherein bei uns nicht Platz greifen. Denn eben die zarte und duftige Poesie, der keusche Hauch einer schönen und gesunden Sittlichkeit, welcher die Schöpfung durchweht, hatte uns zur Aufnahme derselben bestimmt, und eben im Hinblicke auf diese ihre Eigenschaften gewährte uns der Erfolg Goldelse’s eine wohlthuende Beruhigung in Betreff unseres deutschen Publicums. Was sich aber sonst noch in Bezug auf die Vorzüge und Mängel, auf Stoff und Gestaltung, auf Staffage und Colorit der Erzählung zur Erklärung ihrer Anziehungskraft unserem Urtheil ergeben hat, darüber hier eine Meinung auszusprechen, dürfte nicht unseres Amtes sein. Das Werk liegt jetzt in geschlossener Gestalt vor, damit es sich selbstständig seinen Weg bahne und nach bereits erlangtem Ruhm die Feuerprobe der Kritik bestehen möge.
Die neue Erzählung desselben Verfassers, deren Anfang die Leser an der Spitze unser heutigen Nummer finden, dürfte übrigens unserem Urtheil nach das Interesse des Publicums selbst in einem noch weit höheren Maße zu fesseln wissen, als dies Goldelse so erfreulich gelungen ist.