Gletscher und Eisberge
Gletscher und Eisberge.
Es war im März des Jahres 1893, als ich in der Nachbarschaft von Neufundland, auf einem deutschen Schnelldampfer den Atlantischen Ocean durchquerend, zum erstenmal einen Schwarm von Eisbergen beobachtete. Aus dem heiteren warmen Wetter der vorangehenden Tage hatte sich über Nacht eine empfindliche Kühle entwickelt, der Himmel blieb bedeckt und die Passagiere zogen sich in die Kajüten und Salons zurück. Gegen Mittag endlich ward es bei mäßigem Winde schneidend kalt, das Wasser erhielt sich auf dem Nullpunkt, die Lufttemperatur sank noch erheblich darunter. Plötzlich ward Eis gemeldet, und im nächsten Augenblick richteten sich, wie es bei derartigen Unterbrechungen der gewöhnlichen Oede des Meeres stets der Fall ist, hundert Fernrohre den Sendboten des Nordens entgegen, welche vor uns am westlichen Horizonte des Meeres auftauchten und unserem Dampfer entgegenzuschwimmen schienen. In Wirklichkeit hatten sie, von der eisigen, den grönländischen Küsten entspringenden Labradorströmung getragen, fast genau die Fahrtrichtung unseres Dampfers, der sie im Laufe einer knappen halben Stunde durch seine größere Geschwindigkeit überholte, wobei wir einen gewaltigen Berg aus verhältnismäßig naher Entfernung betrachten konnten. Waren die meisten Stücke, deren wir im ganzen acht bis zehn zu Gesicht bekamen, von mäßiger, in der Regel als „Kalbeis“ bezeichneter Größe, so reckten sich hier die schroffen, glatten Wände zu gewaltiger Höhe empor, die nach den Schätzungen der Seeleute mindestens 60 bis 70 Meter betragen mußte; schroff wie die Ufer einer felsigen Steilküste, stiegen die wellenumbrandeten, schneeweiß erglänzenden Flächen, von feinen Rissen unterbrochen, auf, um oben in ein dreieckiges Plateau ohne Spitzen und Zacken auszulaufen. Nur eine einzige, scheinbar völlig von diesem Block getrennte und doch aus derselben Eisscholle aufsteigende Spitze erhob sich schlank und steil wie ein gotischer Turm daneben und schien mit dem feinen Gipfel das Plateau noch um einige Meter zu überragen. Im ganzen mochten es, nach einer mäßig gegriffenen Schätzung, sechs bis sieben Millionen Kubikmeter Eis sein, welche in diesem Berge an [587] uns vorübertrieben, und wenn auch in nördlicheren Breiten nicht selten Eisberge von drei- bis vierfacher Größe angetroffen werden, so gehörte doch dieser Koloß bereits zu den selbst in Seemannskreisen als „groß“ bezeichneten.
Woher kommen nun diese riesenhaften eisigen Boten des Nordens? Wohin tragen sie ihre erstarrten Wassermassen, die einzigen, winzigen Süßwasser-Oasen inmitten der unendlichen Salzflut des Oceans? Wie lösen sie sich von der heimischen Scholle los und welchen Gesetzen sind sie vom Entstehen bis zur Auflösung unterworfen?
Wenn der Alpentourist auf seinen Streifereien im Hochgebirge auf die mächtigen Firnfelder und Eiszungen der Montblanc-, der Bernina- oder der Finsteraargletscher stößt, so sieht er es diesen schweigenden und scheinbar ruhenden Eiswüsten nicht an, welche Veränderungen ihnen die Erdrinde verdankt und welche Kämpfe um ihretwillen in der Wissenschaft bereits ausgefochten worden sind. Diese aus den Gebieten des ewigen Schnees meilenweit in die Zone grünenden Lebens hinabreichenden Eisströme erschienen vor hundert Jahren dem Geologen ebenso harmlos und unauffällig wie heute wohl noch den meisten Touristen, welche ohne geologische Vorkenntnisse die Alpen besuchen; erst in den zwanziger und dreißiger Jahren begann man über diesen Gegenstand, veranlaßt durch die zahlreichen über ganz Europa zerstreuten Funde sogenannten „erratischen“ Gesteins, anders zu denken. Früher hatte man es vorgezogen, diese oft riesenhaften, im platten Lande ohne jedweden Zusammenhang mit den nächsten Gebirgen lagernden Gesteine aus gewaltigen, von Erdbeben, Feuerausbrüchen oder Wasserfluten begleiteten Revolutionen der Erdrinde herzuleiten, statt aus jenen langsam aber stetig wirkenden Kräften, welche in Wahrheit den weitaus größten Anteil an der Bodengestaltung der Erde haben: Wasser und Eis, Hitze und Kälte, langsame Hebungen und ähnliche Faktoren. Hatte doch selbst ein Leopold von Buch, den Humboldt für den größten Geologen seiner Zeit erklärte, sich bei der Enträtselung der kolossalen Steinfunde im nördlichen Deutschland, deren Natur unabweisbar auf die skandinavischen Gebirge als Ursprung hinwies, keinen besseren Rat gewußt als die Annahme so gewaltiger Revolutionen in den nordischen Gebirgen, daß durch deren Gewalt die oft über tausend Centner schweren Steinblöcke 1000 Kilometer weit über das Baltische Meer geschleudert worden wären, eine, wie L. v. Buch selbst in einiger Verlegenheit zugesteht, ziemlich erschreckliche Vorstellung. Und doch war die Zeit bereits gekommen, in der die Kenntnis von der gewichtigen Rolle der Gletscher und des Eises für die geologischen Vorgänge sich Bahn zu brechen begann.
In den Jahren 1815 und 1817, dann aber häufiger finden sich in geologischen Werken des Auslandes vereinzelte Andeutungen davon, daß die Frage der erratischen Funde nur durch die Annahme früherer gewaltiger Gletscher gelöst werden könne, von denen die Gesteinsmassen, sei es unmittelbar, sei es mittels schwimmender Eisberge, vom Orte ihrer einstigen Lagerung an ihre heutigen Fundorte befördert worden seien. Von da an beginnt überhaupt erst die Wertschätzung und die genauere Untersuchung der Gletscher. Merkwürdigerweise sind es für Deutschland nicht die Werke eines Geologen, in denen wir der Gletscher- und Eiszeittheorie zum erstenmal Erwähnung gethan finden; ein Roman, Goethes „Wilhelm Meisters Wanderjahre“, ist es, in welchem (2. Buch, Kapitel 10) unter längerem Hin- und Widerreden über allerlei Erdentstehungstheorien auch des Eises und der Kälte als mitwirkender Kräfte gedacht wird. Gelegentlich eines Bergfestes streitet man hin und her über die Bildung der Erdrinde; Wasser, Feuer, Gase und Meteorstürze werden zum Aufbau herangezogen, und zuletzt „wollten zwei oder drei stille Gäste sogar einen Zeitraum grimmiger Kälte zu Hilfe rufen und aus den höchsten Gebirgszügen auf weit ins Land hingesenkten Gletschern gleichsam Rutschwege für schwere Ursteinmassen bereitet und diese auf glatter Bahn fern und ferner hinausgeschoben im Geiste sehen. Sie sollten sich bei eintretender Epoche des Auftauens niedersenken und für ewig in fremdem Boden liegen bleiben. Auch sollte sodann durch schwimmendes Treibeis der Transport ungeheurer Felsblöcke von Norden her möglich werden“. Mit feinem Spott auf die damals noch allgemein herrschenden Revolutionstheorien in geologischer Hinsicht setzt dann der Dichter hinzu: „Diese guten Leute konnten jedoch mit ihrer etwas kühlen Betrachtung nicht durchdringen. Man hielt es ungleich naturgemäßer, die Erschaffung einer Welt mit kolossalem Krachen und Heben, mit wildem Toben und feurigem Schleudern vorgehen zu lassen.“ Der französische Alpenforscher Charpentier hat auf Grund dieser ersten Vertretung der Gletscherwirksamkeit sein 1841 erschienenes Werk über die Gletscher, in welchem die Wichtigkeit derselben für die Erdgestaltung zum erstenmal ausführlich und unwiderleglich dargethan worden ist, dem damals bereits verstorbenen Dichter gewidmet.
Wie wohl jedermann bekannt, ist seit mehreren geologischen Epochen das wichtigste Umbildungsmittel der Erdoberfläche der Kreislauf des Wassers, der, durch die Antriebskraft der Sonnenwärme unterhalten, ohne Unterlaß das feuchte Element aus den Meerestiefen auf die Höhen der Länder und Gebirge hebt und von dort in gewissen vorbezeichneten Wegen zum Meere zurückführt. [588] Welche Einwirkungen auf die Erdoberfläche dabei stattfinden, erkennen wir, wenn wir unsere deutschen Ströme auf ihrem Durchbruch durch die Mittelgebirge begleiten, wenn wir bedenken, daß der Ganges und Brahmaputra in ihrem Delta ein Land größer als Bayern aufgehäuft haben, während das Delta des Niger das Königreich Württemberg, das des Mississippi Holland, das des Nils Westfalen an Ausdehnung hinter sich läßt; selbst die Donau hat sich ein Delta geschaffen, welches das Herzogtum Sachsen-Meiningen an Umfang übertrifft; um aber solche Länder, deren aufgeschwemmter Boden 10 bis 100 Meter stark ist, zu schaffen, mußten buchstäblich Berge abgetragen werden. Liegt doch beispielsweise in dem 18 Meter hohen Schwemmlande der Zwillingsflüsse Ganges-Brahmaputra eine Bodenmasse aufgehäuft, aus dem sich ein Gebirge von der Größe des Harzes und von wahrscheinlich noch bedeutenderer Höhe errichten ließe!
Wir wissen, daß die atmosphärischen Niederschläge den Boden in zweierlei Gestalt erreichen: als Regen im Flachlande und in warmen Gegenden, als Schnee im Hochgebirge, in den kalten Zonen und im Winter auch unter den gemäßigten Breiten. Lediglich der letztere Teil wird im Frühling und Sommer von der höher steigenden Sonne geschmolzen und reiht sich unmittelbar dem Gefälle der Bäche und Ströme ein, für Gebirge aber und Polarländer giebt es eine Grenze, jenseit deren der gefallene Schnee nicht mehr schmilzt, sondern sich aufhäuft, eine Grenze, welche in den Tropen auf die gewaltigsten Bergesgipfel, bis 5000 Meter und höher steigt, in den gemäßigten Zonen auf 3000 bis 4000 Meter, im Umkreis der Pole aber bis zum Meeresniveau hinabreicht. Sämtliche oberhalb dieser Grenze gefallenen Niederschläge müssen nun, da sie als Wasser nicht abfließen können, in fester Form zu Thale gelangen, denn wenn dies nicht geschähe, hätten sich z. B. die Alpen nach einer Berechnung des jüngst verstorbenen englischen Forschers John Tyndall allein in christlicher Zeit schon um 1600 Meter erhöhen müssen, und die Eisfelder Norwegens, Grönlands, Islands müßten längst ins Ungeheure gewachsen sein. In Wirklichkeit entledigen sie sich ihrer Schneelast genau so sicher und regelmäßig, wie niedere Gebirge ihre Regenmengen zu Thale senden, und die Alpen belehren uns, daß der Sturz in Lawinenform und das langsame Gleiten in Eisgestalt die beiden Wege sind, auf denen es geschieht. Von den Lawinen sei hier nur soviel mitgeteilt, daß sie allerdings nur in Gebirgen mit steilen Hängen, also z. B. nicht in dem eine einzige rundliche Kuppe bildenden Grönland, zur Schneeabfuhr beitragen können, daß ihre Rolle aber in den Alpen und in allen ähnlichen Gebirgen mit hoher Niederschlagsmenge durchaus nicht so gering ist, als man wohl meinen möchte. Im St. Gotthardgebiete allein sollen nach Oberinspektor Coaz die Lawinen, welche dort 500 von der Natur vorgezeichnete Bahnen haben, jährlich 300 Millionen Kubikmeter Schnee über die Eisgrenze ins Thal tragen.
Kommen wir indes zu den Gletschern zurück, welche für die Entwässerung des Hochgebirges doch die wichtigsten Kanäle bleiben. Wir wissen heute, daß wir in diesen langgestreckten Eiszungen buchstäblich gefrorene Ströme vor uns haben, welche ihre erstarrten Fluten zwar langsam, aber ebenso sicher wie die Ströme der Ebene, ins Thal wälzen. Was bei dieser Bewegung starrer, häufig riesig breiter und dicker Eisströme das Wunderbarste bleibt, ist der Umstand, daß weder enge Schluchten noch große Plateaus, weder Felsenriffe noch hohe Absätze sie im geringsten aufzuhalten vermögen. Bei der leichtesten Biegung seines Bettes bricht zwar der Gletscher mit donnerartigem Krachen auseinander und es öffnen sich jene steilen, gähnenden Spalten, welche schon so manchem Gletscherforscher gefährlich geworden sind, aber gleich hinter der Biegung wächst der Strom wieder zur starren Masse zusammen. Der gewaltige Rhonegletscher hat vor Trelaporte eine Breite von 2240 Metern und ein tägliches Vorrücken von 15 bis 18 Centimetern, dann schließen sich plötzlich (vergl. das obenstehende Bild) die Felsen zu einem granitenen Schraubstock von kaum 840 Metern Breite zusammen, und wie sich ein Strom unter schäumenden Wirbeln durch diese Felsenenge stürzen würde, so preßt sich auch der Gletscher unter Brechen und Reißen mit verdreifachter Geschwindigkeit hindurch, um dann wieder zu demselben gewaltigen Eisstrom sich auszudehnen, der er vorher war. Ja, ein Nebengletscher dieses Stromes wird von 770 auf 82 Meter Breite zusammengepreßt und selbst eine solche Felsenenge vermag ihn nicht [589] aufzuhalten. An anderen Stellen wirft sich die ganze Masse des Gletschers in wilden Trümmern, sogenannte „Gletscherkaskaden“ bildend, über hohe Abhänge hinab, unten aber setzt sich der Lauf der unzerstörbaren Eiszunge mit der alten Regelmäßigkeit wieder fort bis an den Endpunkt des Gletschers, wo die Sonnenstrahlen alljährlich ebensoviel von seiner Fläche hinwegschmelzen, als der Nachschub herbeiträgt.
Fragen wir nach der Kraft, welche die meilenlangen, gewaltigen Eisströme über ihr oft beinahe wagerechtes Bett unablässig in die Tiefe treibt, so ist es, genau wie im fließenden Wasser, lediglich die Schwere. Wenn auf den eisigen Hochflächen, auf den Abhängen und in den menschenverlassenen Kesseln der Hochalpen im Winter der meterhohe Schnee sich lagert und die Decke Jahr für Jahr dicker wird, so lastet schließlich der Druck der oberen Schichten so stark auf den unteren, daß diese allmählich aus dem weichen Zustande des Schnees in den körnigen, harten, eisähnlichen des Firns verwandelt werden. Von den steileren Gipfeln fegt der Sturm die Schneedecke hinweg oder sie gleitet herab, und der Vorrat langer Jahrhunderte sammelt sich schließlich in den Mulden zwischen den Graten des Gebirgs. Das sind die meilenweiten Firnfelder, welche den Schnee der Hochgebirge in lautloser Arbeit zu hartem Eise umwandeln und dabei wohl auf den sechsten bis achten Teil seines Volumens verdichten. Endlich sucht sich die ungeheure Last einen Ausweg; durch eine Lücke in der Umwallung oder über den Rand der Firnmulde hinweg wird sie langsam ins Thal hinabgepreßt, durch den von oben wirkenden Druck immer mehr zusammengedrückt und schließlich in hartes, klingendes, sprödes Eis verwandelt. „Spröde“ sagen wir, obwohl sich dieser Ausdruck mit der durch meilenweite Thäler sich schlängelnden Gletscherzunge schlecht zu vereinigen scheint. Aber durch eingehende, schon 1858 von Tyndall abgeschlossene Beobachtungen und Versuche ist es erwiesen, daß das Eis der Gletscher in der That, obwohl es sich durch enge Spalten zwängt und über lange Thalbetten fast buchstäblich hin„fließt“, doch so spröde ist wie Glas. Lediglich seine Eigenschaft, unter der gewaltigen Pressung nach jeder Trennung sofort wieder zusammenzufrieren, sobald sich neue Berührungsflächen bieten, ermöglicht es, daß der Gletscher trotz aller Brüche, aller Stürze und Querschnittsänderungen dem Auge immer wieder die gleiche zusammenhängende Eismasse darbietet; sonst müßte er auf seinem Wege zu Staub und Trümmern zerrieben werden.
Haben wir so den Gletscher als einen thatsächlichen Strom von Eis kennengelernt, so ist dabei nicht zu vergessen, daß er anderseits auch gewaltige Unterschiede von gewöhnlichen Strömen zeigt. So vor allem in der Langsamkeit seines Laufes. Schon wurde erwähnt, daß der Rhonegletscher je nach seiner Breite ein tägliches Vorrücken von 15 bis 50 Centimetern aufweist. Größere, von einem stärkeren Druck getriebene Gletscher schreiten aber auch schneller fort, wie diejenigen Norwegens und des Himalaya beweisen, und wie weite Grenzen der Eisgeschwindigkeit gesteckt sind, beweisen die Riesengletscher Grönlands, die es bis auf 20 Meter [590] im Tage bringen. Immerhin sind das unbeträchtliche Geschwindigkeiten. Wie lange ein Teil des Gletschers braucht, um das ganze Bett zu durchmessen, das haben mehrere Vorfälle veranschaulicht. Am unteren Ende des Bossonsgletschers in der Montblanc-Gruppe kamen seinerzeit die Kleiderreste dreier Alpenforscher zum Vorschein, welche 41 Jahre zuvor unweit des Gipfels in einer Eisspalte verunglückt waren, und im Jahre 1892 erschien auf dieselbe Weise am Ende des Parrotgletschers ein unversehrter Rock, welcher sich alsbald als derjenige des italienischen Alpenklubmitgliedes und späteren Finanzministers Pelazzi erwies, der ihn 16 Jahre zuvor in einer Gletscherspalte, kaum 900 Meter höher, verloren hatte. Um die ganze Ausdehnung der 14 Kilometer langen Gletscherreihe am Montblanc zu durchmessen, braucht ein einzelnes Eisstückchen nach Helmholtz 120 Jahre, ist es aber dann als Wassertropfen in die den Gletscherbach aufnehmende Rhone gesprungen, so bedarf es nur noch der kurzen Frist von 10 Tagen und der Tropfen hat seinen Kreislauf in den Schoß des Meeres zurückgelegt. Angesichts dessen könnte auch die geologische Thätigkeit der Gletscher geringfügig erscheinen, aber man muß bedenken, daß ihr Querschnitt, also auch ihre Masse, eine ganz andere ist als diejenige selbst großer Ströme, daß sie oft Hunderte von Metern tief die Felsenthäler ausfüllen und ihr Bett mit einem Druck und einer Gewalt angreifen, gegen welche das Nagen des Wassers belanglos ist. Wie gewaltig die nagenden, stürzenden und fortschaffenden Wirkungen dieser wandernden Eiszungen sind, läßt sich schwer beschreiben. Welche Ausdehnung schon die Moränen, diese langgestreckten Stein- und Schutthalden auf dem Gletscherrücken, annehmen können, zeigt die Mittelmoräne des Unteraargletschers, welche, bei einer Breite bis zu 200 Metern, nicht weniger als 42 Meter hoch ist (s. S. 588). Es sind mitunter Blöcke von 1000, ja von 2000 bis 3000 Kubikmetern Gehalt, welche von den heutigen Alpengletschern meilenweit fortgetragen werden, und oft bildet sich dabei die Form eines sogenannten „Gletschertischs“, indem das Eis unter dem Blocke zum Teil wegschmilzt. So sind die Wirkungen nach oben hin, an den vom Gletscher gestreiften Thalwänden; ungleich gewaltiger werden sie an der Thalsohle sein, wo die ganze Wucht der Gletscherlast sich langsam über den Boden hinschiebt. Da werden die Felszacken zerbrochen und widerstandslos mitgenommen, die härtesten Steine gleich Spiegeln geschliffen, und wie auf dem Rücken, so wälzt sich auch am Grunde des Gletschers eine Moräne hinab, die später, wenn das Eis zurückweicht, ganze Thäler füllen und Alpenseen aufstauen kann. Wieviel Anteil die Gletscherthätigkeit an der Bildung der tiefen Alpenthäler hat, läßt sich noch nicht mit Bestimmtheit sagen. Doch ist es nicht unmöglich, daß die heute von donnernden Sturzbächen durchrauschten Schründe ihre Entstehung zum größten Teile der wühlenden Kraft ehemaliger Gletscher verdanken. Denn einst haben sich ja die Eisströme der Alpen, wie hundert Zeugnisse beweisen, bis über den Jura hinaus ins deutsche Land erstreckt, und nur 300 bis 400 Kilometer grünenden oder doch wenigstens von der Eisdecke frei gebliebenen Bodens trennten ihre Ausläufer von denen des ungleich riesigeren Eisstromes, der sich wahrscheinlich zur gleichen Zeit von Skandinavien aus durchs Baltische Meer über die norddeutsche Tiefebene ergoß. Das war vielleicht die Zeit, wo an der norwegischen Küste jene tief in das Felsufer schneidenden Fjorde ausgeschliffen wurden, deren Entstehung ohne die Eisthätigkeit unerklärlich wäre, und zu denen die noch jetzt von Gletschern erfüllten Fjorde der Grönlandküste ein lebendiges Gegenstück bilden.
Und damit wären wir bei den Grönlandsgletschern, den Geburtsstätten der atlantischen Treibeismassen, wieder angelangt. Hier sehen wir alles, was die Alpen in dieser Hinsicht noch bieten, ins Ungeheure gesteigert. Der Große Aletschgletscher, der Riese unter den Alpengletschern, bildet mit seiner Länge von 24 Kilometern bei fast 2 Kilometern Breite und mit seinen beinahe 100 Quadratkilometer umfassenden Firnmulden schon eine ganz achtungswerte Eiswüste. Was aber bedeutet das gegen die Eisströme Grönlands, welche sich, meilenbreit und bis zu 500 Meter dick, mit 60- bis 80facher Geschwindigkeit fortwälzen und von Firnmeeren gespeist werden, die einen Erdteil bedecken! Seit Nansens Durchquerung Grönlands im Jahre 1888 wissen wir, daß das gesamte Binnenland dieses ungeheuren Polargebietes eine einzige, schwach ansteigende, durchweg mit 300 bis 1000 Meter dickem Firneise bedeckte Wüste ist, um welche sich lediglich an der Meeresküste ein schmaler, oft durch Eishänge und Gletscherströme unterbrochener Streifen kahlen oder teilweise grünen Bodens windet. Diese ganze Firnmasse, welche ihre eigene ungeheure Schwere über den geneigten Boden der Küste zutreibt, findet nun, wenn man den neueren Forschungen folgt, ihr Ende hauptsächlich in 25 bis 30 gewaltigen Gletschern, die sich nicht wie diejenigen anderer Länder in Bächen fortsetzen, sondern unmittelbar ins Meer münden und hier teils abschmelzen, teils, wohl zum größten Teil, als Eisberge abbrechen. Der Gletscher, welcher sich im Eisfjord von Jacobshavn, an der Westküste Grönlands, ins Meer senkt und wohl der gründlichst untersuchte des ganzen Gebietes ist, schreitet, 5 Kilometer breit und 200 bis 300 Meter dick, täglich mit 15 Meter Geschwindigkeit vor und wälzt in derselben Zeit genug Eis ins Meer, um zwei solcher Berge zu entsenden, wie ich sie oben nach eigener Anschauung geschildert habe. Das Losbrechen dieser riesigen Eisschollen vom Gletscherende und der Kampf der einzelnen Eisberge untereinander in dem vom Sturze aufgewühlten Wasser des Fjordes ist von Augenzeugen als eines der gewaltigsten Naturschauspiele geschildert worden, welche die Erde bietet. Nach Dr. H. Rink in Christiania, einem der neueren Besucher Grönlands, dürften etwa 7 oder 8 Gletscher sich demjenigen des Jacobshavn-Fjordes an Mächtigkeit zur Seite stellen lassen, aber das würde auch schon genügen, um dem Eismeere jährlich das Material zu Tausenden der riesigsten Eisberge und zu Treibeisschollen von unermeßlicher Ausdehnung zu geben.
Verfolgen wir nun den weiteren Lauf des vom Gletscher abgestoßenen Eises, so lagert dasselbe vorläufig in und vor der die Eiszunge aufnehmenden Bucht, um alsdann von der an Grönland vorüberstreichenden Strömung, der „Polar-“ oder „Labradortrift“, ergriffen und in südlichere Regionen entführt zu werden. Dort, in der warmen Golfströmung, finden auch die Eisberge, nachdem sie wohl oft einen Weg von 6000 bis 8000 Kilometern aus dem Innern Grönlands bis zum Breitengrade Roms zurückgelegt haben, ihr Ende, um als Wasserdunst, von den Strahlen der Sonne emporgehoben, den alten Kreislauf wieder zu beginnen.