Zum Inhalt springen

Gesunde und kranke Nerven

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Kurt Tucholsky
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Gesunde und kranke Nerven
Untertitel:
aus: Lerne lachen ohne zu weinen, S. 178-184
Herausgeber:
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1932 (EA 1931)
Verlag: Ernst Rowohlt
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Berlin
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: ULB Düsseldorf und Scans auf commons
Kurzbeschreibung:
Erstdruck in: Weltbühne, 14. November 1930
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite


[178]
Gesunde und kranke Nerven

Versuchen wir die drei großen Systeme: Freud – Adler – Jung möglichst kurz in ihrem innern Wesen (nicht in ihren ausgesprochenen Lehren) zu fassen, so könnte man vielleicht sagen:

In Freuds Forschungsarbeit spürt man überall den heißen Atem der Großstadt. Die Überhelle, die blendende Dialektik gehört dazu. Ein die andern nicht ruhenlassender, selbst nie ruhender Großstadt-Faust.

In der Adlerschen Schule ist überall Kleinstadt; jeder sieht dem Nachbar in die Fenster und kontrolliert eifersüchtig dessen Lebensstandard – wobei die Geltung bei dem andern das [179] Entscheidende ist. Anheimelnde Düfte der Mittelstandsküche in allen Gassen.

Mit Jung ist man weder in der Großstadt noch in der Kleinstadt, da ist man in frischer freier Alpenluft. Der Mensch als Bergwanderer nimmt zwar zeitweilig einen Führer, im übrigen aber ist er auf sich selbst und die eigne Kraft gestellt – neben ihm Fels und Erde, über ihm strahlender Himmel und kraftspendende Sonne.“

Diese brillante Charakteristik findet sich in einer kleinen Schrift: „Gesunde und kranke Nerven“ von Doktor L. Paneth (erschienen in Max Hesses Verlag, Berlin-Schöneberg). Solcher populärer Bücher über diesen Gegenstand gibt es viele – so eines wie dieses habe ich noch nie gesehn.

*

Man muß den abscheulichen Mißbrauch des psychiatrischen Vokabulariums wie übrigens den Mißbrauch jeder Fachterminologie in Betracht ziehen, um die Reife und Klarheit, die Sauberkeit und gelassene Überlegenheit zu würdigen, die in diesem Bändchen zu finden ist. Es ist ein A-B-C-Buch, aber nichts ist schwerer zu schreiben als ein Lehrbuch. Lehren heißt: vom innern Reichtum abgeben; man muß am Ende stehen, wenn man andern den Anfang zeigen will.

Paneth, ein berliner Nervenarzt, erklärt zunächst die zeitgegebenen Vorbedingungen der Nervosität und der Neurosen, Jahrgänge 1910–1930. Da ist nichts außer acht gelassen, und alles ist gesagt: die wirtschaftlichen Umstände, die große Stadt, die Unrast und die Maschine. Es ergibt sich daraus, daß die landesüblichen Neurosen viel mehr schematisiert sind als ihre Besitzer glauben, die sich alle so einmalig vorkommen. Sicherlich sind ihre falschen seelischen Schaltungen untereinander ein wenig verschieden, aber sie lassen sich doch fast alle [180] auf einen Generalnenner bringen. Paneth tut das, ohne zu schematisieren. Man kann, sagt er, die gegebenen Zeitumstände zwar nicht ausradieren – man kann sie aber, soweit es sich nicht um unmittelbare Not handelt, teilweise überwinden. Herein …? Ein Unentwegter.

„Guten Tag. Nervenkrankheiten? Bürgerliche Krankheiten. Kleinbürgerliche Vorurteile. Ihr Arzt ist ein Kleinbürger. Sie sind auch einer. Wenn der Fünfjahresplan durchgeführt wird, hört diese Schweinerei von selbst auf. Paneth läßt die gesamtwirtschaftliche Situation schon rein dialektisch außer acht; seine Folgerungen sind grobe, durch die Beschränktheit des bürgerlichen Gesichtskreises bedingte Fehler. Nur die materialistisch-dialektische Methode … die soziale Psychologie … die kapitalistische Produktion …“

Legen Sie es bitte solange auf den Stuhl. Denn so sehr wir gegen jene üble Anschauung Front machen, die die Wirtschaft ignoriert und so tut oder so tun möchte, als gebe es nur die „reine Seele“, eine Anschauung, die nichts von der materiellen Not, nichts vom Leid der Proletarier, nichts von den Ursachen dieser Not weiß: so sehr ist es an der Zeit, den Unentwegten mitzuteilen, daß man den Marxismus nicht wie eine Käseglocke über die Welt stülpen kann. Er deckt sie nicht. Ihr habt aus ihm eine dogmatische Religion gemacht. Wir machen das nicht mit.

Denn die Frage, die einmal durch einen Diskussionsredner aufgeworfen wurde: „Psychoanalyse oder Marxismus?“ ist etwa so intelligent gestellt wie die Antithese: Universität oder Krankenhaus? Kranke gehören in ein Krankenhaus, Studenten auf eine Universität. Die Kreise schneiden sich gar nicht.

Und hier steckt der ungeheure Fehler, der unsereinen veranlaßt, dauernd nach zwei Seiten sehen zu müssen.

[181] Nach rechts, wo die Bürger stehen, die alles, was auf der Welt geschieht, nur an ihren wirtschaftlichen Interessen messen, Leute, die diese ungeheure Hetze gegen Rußland inszenieren, Menschen, denen noch die dümmste Nachricht über Rußland willkommen ist, weil der Bolschewismus ihr geronnenes schlechtes Gewissen darstellt, und die jedes von den unsäglichen deutschen Provinzzeitungen abgedruckte Schauertelegramm über Stalin mit einem Aufatmen lesen: „Gottseidank. Also brauchen wir die Löhne nicht zu erhöhen. Also ist unser Bankkonto richtig. Lasset uns beten.“ Sie werden auch diese Vorbehalte so auffassen. Sie haben die Philosophie ihres Geldes.

Und nach links müssen wir sehn, wo unentwegte Marxisten mit einer sicherlich großen Theorie alles heilen wollen: die Krankheiten und die echten Seelennöte, an denen jeder von uns zu tragen hat, die Neurosen, die aus dem Wirtschaftlichen herrühren, und jene geistigen Betriebsstörungen, die ewig sind wie die Welt. Die fanatische Wut, womit jede Andeutung abgelehnt wird, daß es vielleicht auch noch außerhalb der marxistischen Gedankengänge etwas gebe, was für den Menschen von Wichtigkeit ist, läßt an die verzweifelten Versuche der katholischen Kirche denken, eine stets Neues gebärende Welt zu meistern. Es ist ihr, trotz allem, nicht gelungen. Die unentwegten Marxisten haben die Philosophie ihrer Gesinnung.

Ja, also Paneth. Die Heilmittel, die er für den Neurotiker dieser Epoche gibt, sind klein; er sagt das auch, denn es gibt nicht allzuviele solcher Medizinen. Es sind ganz einfache Dinge dabei, über die nur jemand spötteln kann, der nicht weiß, was Turnen und Atmen, was Meditation und was der Körper ist. Das hat die Arbeitersportbewegung längst erkannt; es gibt da bereits außerordentlich vernünftige Anweisungen und Belehrungen, wie man wenigstens der kleinern Übel Herr werden [182] kann. In dem Augenblick, wo ein Unternehmer oder eine Gewerkschaft versuchen, solche Winke dazu zu mißbrauchen, sie unter der Marke „Dienst an der Gemeinschaft“ an Stelle des Klassenkampfes zu setzen, ist die schärfste Abwehr am Platz. Lediglich als Hilfsmittel aber ist dergleichen erlaubt.

Paneth spricht dann über die Neurosen des Geschlechtslebens in musterhafter und vorbildlich ruhiger Weise; wie denn überhaupt dieses Buch eine Geisteshaltung aufweist, die in Deutschland so ungeheuer selten ist: es ist gelassen. Paneth sagt, wie es ist; er versucht, Anweisungen zu geben, aus seelischen Schwierigkeiten herauszukommen, und eine gute Diagnose ist ja oft eine halbe Heilung, besonders im Sexuellen. Herein …? Ein Hitler-Mann.

„Heil! Ihr verdammten Syrier! In jüdischer Geilheit habt ihr die Psychoanalyse erfunden, um euern dreckigen Trieben freie Bahn zu schaffen! Nichts ist euch heilig, während wir uns sehr heilig sind. Ihr verseucht die Städte und das Land mit eurer niedrigen Auffassung vom Geschlechtlichen, dem ihr ohne Weihe frönt! Ihr denkt überhaupt nur an blonde Weiber! Wir denken an schwarzgelockte Männer. (Ihr stürzt euch auf die Weiber. Wir uns auf die Männer.) Ihr erkennt keine Zucht an und keine Sitte. Syrier. Asiaten. Eunuchen. Schmarotzer. November-Verbrecher. Demokraten. Bolschewisten. Man sollte euch schlagen, daß die rote Suppe spritzt. Im übrigen sind wir die deutsche Kultur! Heil!“

Na, es ist gut; hier haben Sie eine Zigarre. Nichts zeigt die erschreckende Geistlosigkeit dieser deutschen Bewegung, gehätschelt von den Richtern, geduldet von zahllosen Polizeiverwaltungen, bezahlt von den Unternehmern, die eine Garde gegen die Wut der Arbeitslosen brauchen und zwei Garden gegen ihre eignen Arbeiter, bejubelt von ratlosen, ausgepowerten Proletariern, besonders auf dem Lande … nichts [183] zeigt die traurige Geistesverfassung dieser Leute so an, wie die völlige Verständnislosigkeit gegenüber der Zeit, in der sie leben. Sie sehen nicht. Sie hören nicht. Und der irdische Kirdorf ernährt sie doch.

Nicht zu spüren, wie diese Heilmethoden dem Gefühl für die tiefe Not entsprungen sind, in der die Zeitgenossen stecken; niemals die Sprechstunde eines Seelenarztes in der Großstadt besucht zu haben; immer die eigne, sprungbereite Plumpheit auf die andern zu projizieren und nicht zu begreifen, daß in der Sexualität vom Grinsen bis zum Lächeln alle Stadien möglich sind … man muß schon ein Hitler-Mann sein, um das vollbringen zu können. Paneth steht selbstverständlich weit über diesem Sumpf. Er ist für die Sittlichkeit, nicht für das Muckertum.

Er ist vor allem kein Hohepriester, und das macht das Buch und den Mann so sympathisch. Er wirft manchen seiner Berufskollegen rechtens vor, wie jeder von ihnen auf sein „System“ schwört, als ob man alle Kranken nach einer einzigen Methode behandeln könnte. Das betont auch Jung, grade bei ihm ist das doppelt beachtlich, weil er die psychoanalytischen Elemente noch in den fernen Kulturen Asiens erkennt, ohne sie nun kopierend zu übernehmen. Paneth sieht die Sache so an:

Der durchschnittliche städtische Mitteleuropäer befindet sich fast immer im Vorstadium der Neurose. Was kann man für ihn tun?

Man kann ihn analysieren. Damit ist die Sache jedoch nicht abgetan, wie die extremen Freudianer glauben. Man muß nicht nur analysieren, nicht nur auflösen, man muß auch wieder zusammensetzen, also die von Jung geforderte Synthese suchen. Man muß den Menschen zu sich selber verhelfen – schon in der Soziologie Simmels findet sich die schöne Erkenntnis, [184] daß es fast niemand zu sich selber gebracht hat. Und hier zu helfen: das ist keine Aufgabe des Marxismus und keine des Nationalismus – das ist eine Aufgabe der Seelenkunde.

Die Definitionen des Panethschen Buches sind für jeden, der unter sich und unter seiner Zeit leidet, eine kleine Erlösung. Paneth sagt allerdings, daß es dem Neurotiker in den meisten Fällen nicht möglich sein wird, sich selber zu heilen, weil er sich dazu in Arzt und Patienten spalten müßte, was nicht ungefährlich ist, und weil er dann sehr viel Kraft auf diesen Heilungsversuch in sich verwendet, also grade das tut, was er zu tun kaum fähig ist. Es muß schon einer da sein, der den Knaben an die Hand nimmt und ihn über den Damm führt. Und man kann nur wünschen, daß in den öffentlichen Beratungsstellen der Krankenhäuser viele solcher Männer säßen, wie Paneth einer ist. Was zu bezweifeln sein dürfte: der Durchschnittsarzt steckt noch tief im mechanistischen Darwinismus.

Und auch für den, der das Buch nicht aus egoistischen Interessen liest, springt viel Lehrreiches über die Zeit heraus, die ja von Neurotikern repräsentiert wird. (Hier sei Hitler ausgenommen; er ist nicht einmal ein Besessener. O, wäre er wenigstens verdreht!) Zu Ende formuliert ist bei Paneth die Definition der Zeit-Störungen; statt: Spannung – Entspannung finden wir: Erschlaffung – Krampf; Explosionen, die „nur heftig sind, aber nicht stark“ … lest das nach.

Und legt das Büchlein in die richtige Schublade. Es ist keine Bibel, sondern eine Fibel. Es ist der saubere Versuch, auf dem Gebiet der Seelenkunde, nicht losgelöst von allem andern, aber auch nicht fachlich überbetont, den Menschen zu helfen. Sie haben es nötig.