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Gesammelte Schriften über Musik und Musiker/Vierter und fünfter Quartettmorgen

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Dritter Quartettmorgen Gesammelte Schriften über Musik und Musiker (1854) von Robert Schumann
Vierter und fünfter Quartettmorgen
Sechster Quartettmorgen


[265]
Vierter und fünfter Quartett-Morgen.


So viel sich aus diesen mehr geheimen Musiksitzungen für die Oeffentlichkeit schickt, mag hier in Kürze folgen. Geheim nenn’ ich sie, weil darin nur Manuscripte eines als Componist gänzlich unbekannten jungen Musikers, Hermann Hirschbach, gespielt wurden. Als Schriftsteller hat derselbe durch das Vordringende und Kecke seiner Ansichten, wie er sie in einigen Aufsätzen der Zeitschrift ausgesprochen, gewiß schon die Aufmerksamkeit des Lesers auf sich gelenkt. Durch solche Aussprüche gereizt mußte ich wohl das Außerordentlichste von ihm als Componisten fordern können, wenn ich mich auch gleich vornherein auf Verstandescalculationen gefaßt machte. Nicht ohne tiefe Theilnahme gedenk’ ich seiner Compositionen, und möchte mich in der Erinnerung stundenlang hineinvertiefen, dem Leser davon vorzusprechen. Vielleicht auch, daß das Doppelgängerische seiner Compositionsrichtung mit meiner eigenen (die Welt kennt sie schwerlich,) gerade mich für seine Musik empfänglich machten, sie mir rasch enthüllten. [266] So viel weiß ich aber, daß es das bedeutendste Streben, das ich unter jüngeren Talenten seit lange angetroffen. Die Worte suchen’s vergeblich, wie seine Musik gestaltet ist, was Alles sie schildert; seine Musik ist selbst Sprache, wie etwa die Blumen zu uns sprechen, wie sich Augen die geheimnißvollsten Mährchen erzählen, wie verwandte Geister über Flächen Landes mit einander verkehren können; Seelensprache, wahrstes Musikleben. Es waren drei große Quartetten und ein Quintett, die wir hörten, sämmtlich mit Stellen aus Goethe’s Faust überschrieben,[H 1] mehr zum Schmuck, als zur Erklärung, da die Musik an sich deutlich genug; ein sehnsüchtiges Drängen war’s, ein Rufen, wie nach Rettung, ein immerwährendes Fortstürzen, und dazwischen selige Gestalten, goldene Matten und rosige Abendwolken; ich möchte nicht gern zu viel sagen: aber der Componist schien mir in Augenblicken oft selbst jener Schwarzkünstler Faust, wie er uns sein Leben in schwebenden Umrissen der Phantasie vorüberführt. Außerdem sah ich von ihm eine Ouverture zu Hamlet, eine große Symphonie in vielen Sätzen, eine zweite bis in die Mitte vorgerückte, die in einem Athem hintereinander fortgehen soll, sämmtlich gleich phantastisch, lebenskräftig, in den Formen abweichend von allen bisher bekannten, wenn ich Berlioz ausnehme, mit einzelnen Orchesterstellen, wie man sie nur von Beethoven zu hören gewohnt, wenn er gegen die ganze Welt zu Felde ziehen und sie vernichten möchte. Und jetzt kommt mein „Aber.“ Wie bei erster Betrachtung uns [267] oft Bilder junger genievoller Maler durch die Großheit der Composition (auch der äußerlichen), durch Reichthum und Wahrheit des Colorits etc. völlig einnehmen, daß wir nur staunen und das einzelne Falsche, Verzeichnete etc. übersehen, so auch hier. Bei’m zweitenmal Anhören fingen mich schon einzelne Stellen zu quälen an, Stellen, in denen, ich will nicht sagen, gegen die ersten Regeln der Schule, sondern geradezu gegen das Gehör, gegen die natürlichen Gesetze der Harmoniefolgen gesündigt war. Dahin zähle ich nicht sowohl Quinten etc., als gewisse Ausgänge des Basses, Ausweichungen, wie wir sie oft von Weniggeübten anhören müssen. Solches wollte nun auch meinen Musikern nicht in den Kopf. Es gibt nämlich ein gewisses Herkömmlich-Meisterliches (bei Cadenzen etc.), das von der Natur anbefohlen scheint, und gründet sich darauf ein gewisser musikalischer hausbackener Verstand, der den Musikern von Profession fast durchgängig eigen. Verstößt der junge Componist gegen diesen, und wäre er noch so geistreich, so soll er nur sehen, wie sich jene vor ihm zurückziehen, ihn gar nicht wie zu den Ihrigen gehörend betrachten. Woher nun dieser Mangel an feinem Gehör, an richtiger Harmonieführung bei übrigens so großer Begabtheit, — ob der Componist vielleicht erst spät auf sein Talent aufmerksam, zu früh der Schule entnommen worden, — ob er in seiner Gedankenfülle, im Beherrschtwerden von einer meistens sehr tiefen, sinnigen Hauptmelodie der hohen Stimme die andern nicht gleichzeitig erfindet, oder ob [268] das Gehörorgan wirklich fehlerhaft, — ist eine eben so große Frage, als ob dem noch abzuhelfen sei. Die Welt bekömmt vielleicht nichts von diesen Arbeiten zu sehen; wenigstens würde ich, aufrichtig gefragt, ihre Herausgabe nur mit Bitte mancher Aenderung, der Ausscheidung ganzer Sätze gestatten.[H 2] Dies sei denn dem Componisten anheim gestellt. Hier galt es nur auf ein Talent aufmerksam zu machen, dem ich keines der neuern mir bekannten an die Seite zu setzen wüßte, dessen den tiefsten Seelenkräften entsprungene Musik mich oft im Innersten ergriffen.[H 3]




Anmerkungen (H)

  1. [GJ] Die Mottos sind:
    1, zum E moll-Quartett:

    „Es möchte kein Hund so länger leben!“
    „Ich grüße dich, du einzige Phiole,
    Die ich mit Andacht nun herunterhole,
    In dir verehr’ ich Menschenwitz und Kunst.“

    2, zum B dur-Quartett:

    „O tönet fort, ihr süßen Himmelslieder!
    Die Thräne quillt, die Erde hat mich wieder!“

    3, zum C moll-Quintett:

    „Dem Taumel weih’ ich mich, dem schmerzlichsten Genuß,
    Verliebtem Haß, erquickendem Verdruß.
    Mein Busen, der vom Wissensdrang geheilt ist,
    Soll keinen Schmerzen künftig sich verschließen,
    Und was der ganzen Menschheit zugetheilt ist,
    Will ich in meinem innern Selbst genießen.“

    II.126

  2. [GJ] II.507, Anmerkung 22: Die hier genannten Werke sind später gedruckt worden, aber wohl schwerlich mit den von Schumann vorgeschlagenen Aenderungen. Um fremdem Einfluß zugänglich zu sein, war Hirschbach eine zu eigensinnige und schroffe Natur. Er veröffentlichte unverdrossen bis an sein Lebensende zahlreiche Kammermusik- und Orchesterwerke, ohne beim Publicum Theilnahme für seine Musik erwecken zu können. Die Verstandesthätigkeit war bei ihm überwiegend, wie er denn auch für einen hervorragenden Schachspieler galt.
  3. [GJ] II.507–508, Anmerkung 23: Vier Wochen vor dem Erscheinen dieses Berichts schrieb Schumann an Clara (13. Juli): „Eine große Erscheinung ist diese Woche an mir vorübergegangen; Du wirst den Namen in der Zeitschrift [unter zwei Aufsätzen] gelesen haben: Hirschbach. Er hat viel Faustisches, Schwarzkünstlerisches. Vorgestern machten wir Quartette von ihm; im Satz mangelhaft, in der Erfindung, im Streben das Ungeheuerste, was mir bis jetzt vorgekommen. In der Richtung einige Aehnlichkeit mit mir – Seelenzustände. Doch ist er viel leidenschaftlicher, tragischer als ich. Die Formen ganz neu, ebenso die Behandlung des Quartetts. Einzelnes hat mich im Tiefsten gepackt. Die kleinen Fehler überhört man bei solcher überstürzenden Phantasie. Außerdem Ouvertüre zu Hamlet, Ideen zu einem Oratorium ‚Das verlorene Paradies‘. Die Quartette sind Scenen aus Faust. Jetzt hast Du ein Bild. Dabei oft tiefste Romantik bei aller Einfachheit und rührender Wahrheit.“ An demselben Tage schrieb Schumann an Hirschbach, der von Berlin nach Leipzig gekommen war: „Wünschen Sie es, so soll meine offne Meinung über ihre Quartette in einem der nächsten ‚Quartettmorgen‘ der Zeitschrift erscheinen. Sie müßten mich als Componist kennen, um zu wissen, wie nahe wir zusammen gehen, wie ich alle Ihre Sphären obwohl mit leiserem Flügel berührt schon vor längerer Zeit. Dies lassen Sie mich noch sagen, Ihr Streben ist mir das ungeheuerste, das mir in neueren Kunstrichtungen vorgekommen, und wird von großen Kräften getragen. Einige Zweifel hege ich aber im Einzelnen und gegen Einzelnes, vorzüglich als Musiker. Ich werde Ihnen die Stellen angeben.“ Im folgenden Jahre rieth Schumann wiederholt zum Druck der Sachen. „Was ich helfen kann, thu’ ich.“ „Sie müssen Sich freilich zum Schritt entschließen und irgendwo anklopfen. Ich werde darüber nachdenken und Ihnen wieder davon anfangen.“
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