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Gesammelte Schriften über Musik und Musiker/Fragmente aus Leipzig

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Sonaten für das Pianoforte (3) Gesammelte Schriften über Musik und Musiker (1854) von Robert Schumann
Fragmente aus Leipzig
1838 (Anfang)


[203]
Fragmente aus Leipzig.
I.


Trefflicher Leser, es war nicht eher als heute möglich mich zum Niedersetzen zu bringen, um von all den Herrlichkeiten zu erzählen, die die vergangenen zwei Monate an Musik und Musikmenschen über uns ausgeschüttet — eben der Herrlichkeiten halber, die sehr vom Schreiben abhielten. Mendelssohn, Lipinski, die Lachner’sche Preissymphonie, Henriette Grabau, der durchfliegende Chopin, Anfang der Euterpe, Henriette Carl, Döhler, acht Abonnements-, eben so viel Extra-Concerte, Ludwig Berger, Anfang der Quartetten, Elisabeth Fürst, polnische, französische und englische Künstler (Nowakowsky, Brzowsky, Stamaty, Bennett), eine Menge anderer mit Briefen, Israeliten in Egypten, Symphonie von Reißiger, Theater, Bach’sche Motetten – – kurz Blüth’ auf Blüthe trieb es: jede Woche, jeder Tag brachte etwas.

Zuerst also, wie Alle wissen, daß Mendelssohn auch diesmal an der Spitze eines treuen Orchesters die [204] Hauptbegebenheiten leitete mit der Kraft, die ihm eigen ist und mit der Liebe, die ihm das allseitige Entgegenkommen einflößen muß. Wenn ein Orchester, ohne Ausnahme eines Einzelnen, an seinen Dirigenten hängt und glaubt, so gebührt unserm das Lob, wozu es freilich auch Grund haben mag. Von sogenannten Cabalen und dem Aehnlichen hört man hier nichts und so ist’s recht und müssen Kunst und Künstler gedeihen. –

Ihm zur Seite steht David, die Stütze des Orchesters, ein Musiker vom feinsten Korn. Auch die liebgewohnte Erscheinung der ersten Sängerin Frl. Grabau nicht zu vergessen, von deren Marienstimme die Zeit höchstens das genommen, was etwa noch zu erdig daran war. Endlich der tüchtigen Mitglieder nicht zu vergessen, als da sind die HH. Queisser, der Posaunengott, C. G. Müller, Uhlrich, Grenser, die erst da recht zu arbeiten anfangen, wo Andere schon ermatten.

Von solchen Kräften unterstützt und gehoben gab es bis jetzt acht Concerte im Gewandhaus.

Nur des Ausgezeichnetsten von dem, was sie an neuen Compositionen und Virtuosenleistungen Einheimischer und Fremder gebracht, kann hier Erwähnung geschehen.

Von neuen oder hier noch nicht gehörten Compositionen sei zuerst der wenig bekannten ersten Ouverture zu Leonore von Beethoven gedacht, die an Höhe der Erfindung die Mitte zwischen der gewöhnlichen in E dur und der großmächtigen in C dur, vielleicht das Ergreifendste, [205] was die Musik überhaupt aufzuweisen hat, behaupten mag. Bekanntlich gefiel die großmächtige in Wien wenig bei ihrer ersten Aufführung (Beethoven soll darüber geweint haben). Daher die verschiedenen Ouverturen. Hr. Schindler in Aachen hat noch eine.[1]

Sodann einer ganz neuen Ouverture zu (Shakespeare’s?) „Was Ihr wollt“[H 1] von Ferdinand Hiller. Es wäre schlimm, wollte man nach der Aufnahme von Seiten des Publicums einen Maßstab für ihren Werth oder für die Bildung des letzteren abnehmen. Der Grund der Kälte, wenigstens Stummheit, liegt allerdings zum Theil im Charakter der Ouverture selbst, deren feiner versteckter Humor durchaus mehr zum Nachdenken und Vergleichen, als zur Begeisterung auffordert. Das Publicum, wie der Einzelne, haben ihre hellen und dunkeln Stunden. Spiele man die Ouverture nur noch einmal und der Vorhang wird gewiß zum Schleier, hinter dem das überraschte Auge eine Menge lustiger und trauriger Gestalten in vielfältigen Trennungen und Vereinigungen wahrnehmen wird. Außer diesem höchst besonderen Grundton ist es aber auch der natürliche Wuchs, so zu sagen, und die künstlerische Gewandung, wodurch sich das Werk als Hiller’sches auszeichnet: an Geist überwiegt es ohne Weiteres alle die Gelegenheitsouverturen, mit denen uns der Himmel in neuer Zeit so oft bestraft.

[206] Sodann kam und ging unter unzähligen Pauken und Trompeten die Preis-Symphonie von Lachner. Die Zeitschrift hat über sie schon Rechenschaft gegeben.

Eben so blieben die Ouverture, einzelne Sätze und Finale aus der neuen komischen Oper „die Macht des Liedes“ von Lindpaintner unter der Erwartung. Jeder Kunstnaturnachlaß schmerzt, doppelt, wo Ausländischem oft so unverdiente Ehre widerfährt. Auch zeigte sich das Publicum bei dieser Gelegenheit beinahe gebieterisch, indem es einzelne zum Schluß Klatschende im Augenblicke zur Ruhe verwies. Vielleicht, daß die Oper auf der Bühne anders wirkt.

Die jüngste Neuigkeit war endlich eine Symphonie, die erste,[H 2] von Reißiger. Bei weitem aushaltender an innerer Kraft, als die Lachner’sche, kürzer, anspruchloser, schlägt sie vielleicht noch zu sehr in’s Gebiet der Ouverture hinüber. Da der stattliche Capellmeister selbst dirigirte, so war die freudige Aufnahme eine natürliche und ganz an der rechten Stelle. –

Dies das Bemerkenswertheste, im Ganzen wenig Erfreuliche über neugebrachte Compositionen. Von älteren meist Beethoven und Weber.

Noch erwähn’ ich den 27. October, den sich sicher mancher Gewandhausmusiker roth angestrichen im Gedächtniß. Was in andern Städten zur Alltäglichkeit herabgezogen worden, das Wiederverlangen von ganzen Orchestersätzen, mag in Leipzig als außergewöhnliche Auszeichnung gelten, wie sie eben in jeder Hinsicht das [207] Orchester durch hinreißenden Vortrag der großen Leonorenouverture an jenem Abend verdiente. Wie herrlich stand da die Kunst über den äußeren und inneren Spaltungen, die an einem Orte, wo sich so viele bedeutende Naturen durchkreuzen, freilich nicht ausbleiben können – und rückte Alles versöhnend aneinander.

Bilden so die größern Leistungen die Säulen des Musiklebens, so schlingen sich die der Virtuosen wie duftige Kränze hindurch, unter denen die schönsten wiederum: ein Violinconcert von David meisterlich gespielt, italiänische Bravourarien, von Frl. Fürst gesungen mit italiänischer Stimme und eigenthümlicher Manier, Claviersätze von Hrn. Theod. Döhler zum Entzücken gespielt und zum Wildwerden componirt, ein interessantes, vielleicht zu viel verschlungenes Violoncellconcert von J. B. Groß, eben so ein leichteres Quartettstück über eine Barcarole, von ihm, den HH. David, Uhlrich und Queisser wahrhaft reizend ausgeführt, vor allem das G dur-Concert von Beethoven für Clavier mit seinem großgeheimnißvollen Adagio, von Mendelssohn begeistert und begeisternd gespielt, sodann Violinvariationen von Fr. Schubert (nicht unserm), von Uhlrich glänzend vorgetragen, deutsche Arien von Weber und Spohr, von Hrn. Sösselmann aus Darmstadt gut gesungen, endlich ein Flötenconcert von Lindpaintner, von Hrn. Grenser mit der wohlthuenden Meisterschaft vorgetragen, die diesen Künstler so hoch stellt.




[208]
II.


Als ich heute die Zeddel der letzten zwölf Abonnementsconcerte durchflog, und mir die Buchstaben Manches der gehörten Musiken vollständig, Vieles halb zurückriefen, strebte die Phantasie Alles in ein Bild zusammenzufassen und unversehens stand eine Art blühender Musenberg vor mir, auf dem ich unter den ewigen Tempeln der ältern Meister neue Säulengänge, neue Bahnen anlegen sah, zwischendurch, wie Blumen und Schmetterlinge, lustige Virtuosen und liebliche Sängerinnen: Alles in so reicher Fülle und Abwechselung durcheinander, daß sich Gewöhnliches und Unbedeutenderes von selbst übersah.

Was in der Zeit von älteren Compositionen gegeben wurde, findet man in den vorhergehenden Nummern in der Chronik notirt. Manche Leute glauben ihr Möglichstes zu thun, wenn sie auf „einen Mozart,“ „einen Haydn“ etc. als auf große Meister aufmerksam machen. Als ob man das nicht an den Sohlen abgeschliffen haben müßte! Als ob es sich nicht von selbst verstände, ob man ihre Musik nicht in- und auswendig kennen müsse! Nur die D moll-Symphonie macht ihnen noch zu schaffen und sie fragen, ob sie denn eigentlich nicht über die Grenzen des Rein-Menschlichen hinausginge? – Freilich soll man Beethoven nach Zollen messen (nach König Lear’schen aber gewiß) und das Studium der Partitur thut das Uebrige.

[209] Dankbar aber vor Allem muß man anerkennen, wie sich die Direction, namentlich in dieser Saison, angelegen sein ließ, Manuscripte, weniger Gekanntes, kurz Neues vorzuführen. In dieser Hinsicht möchten sich kaum die Weltstädte mit dem kleinen Leipzig messen. Und wenn man sich auch in Manchem getäuscht fand, so wurden doch Urtheile angeregt, Meinungen festgestellt, hier und da auch freudige Aussichten eröffnet. So gab es neue Symphonieen vom Stuttgarter Molique, vom Capellm. Strauß in Carlsruhe, vom MD. Hetsch in Heidelberg. Das Publicum stimmte in seinem Urtheil über sie fast zusammen, obgleich ohne Zweifel der ersteren der Vorrang gebührt. In allen geschickte Arbeit, wohlklingende Instrumentation, treues Festhalten an die alte Form, sonst aber nachweislich überall Anklänge an Dagewesenes, in der von Strauß, besonders im ersten Satz, so auffallend, in Ton- und Tactart, Form und Idee, daß man den ganzen ersten Satz der heroischen Symphonie wie eine Gestalt am Wasser abgespiegelt sehen kann, aber freilich umgestürzt und blässer.

Ganz besondere Erwähnung gebührt der von Eduard Marxsen für groß Orchester instrumentirten sogenannten Kreuzer’schen Sonate von Beethoven, von der schon Hr. Ritter von Seyfried in diesen Blättern gerühmt, wie es die mit ungewöhnlicher Instrumentkenntniß, mit Liebe und Phantasie im Beethoven’schen Geist geschriebene Partitur verdient. Dagegen scheint mir der Gedanke, das im Original fehlende Scherzo durch eines aus der [210] großen, in einer ganz andern Lebens- und Kunstepoche entstandenen B dur-Sonate zu ersetzen, in so hohem Grade unglücklich, ja auch die Instrumentation dieses Satzes im Vergleich zu den andern so ungeschickt und wie von einer andern Hand herrührend, daß ein ordentlicher Beethovener darüber eher wüthend, als in die Heiterkeit des Leipziger Publicums einstimmen müßte; der dithyrambische Aufschwung im letzten Satz machte das verkehrte Einschiebsel allerdings durchaus vergessen. Seien hiermit alle Concertdirectionen um Aufführung dieser prachtvollen, in’s Große gemalten Copie eben so angegangen, wie um Hinweglassung des Scherzo’s und machten sie sich den reproducirenden Componisten zum Todfeind dadurch.

Wenn sich die neugebrachten Symphonieen also in ziemlich gleichen Kreisen bewegten, so waren die neuen Ouverturen ihrer innern und äußern Verschiedenheit halber um so merkwürdiger. Florestan fragte neulich schelmisch genug: „zu welchem Stück von Shakespeare denn die meisten Ouverturen geschrieben würden“[H 4] etc.: bei den vier fraglichen wäre jedoch der Witz nichts weniger als gut anzubringen. Eine zur Oper „der Besuch im Irrenhaus“ von J. Rosenhain in Frankfurt verrieth freilich viel Sympathie zu unsern westlichen Nachbarn, und Schönes, Sonderbares und Gemeines wechselte darin so rasch, daß man nirgends Fuß fassen konnte; indeß zeugte sie auch von einem gewandten Talent, dem, wenn es noch Würdigeres leisten sollte, nur mehr Wachsamkeit [211] über einen angebornen Leichtsinn anzurathen wäre. In einem phantastischen Vorspiel zu Raupach’s „Tochter der Luft“ von Spohr stellte sich seine bekannte Eigenthümlichkeit mehr als je heraus, seine elegisch klagenden Violinen, seine wie vom Hauch berührt anklingenden Clarinetten, der ganze edle leidende Spohr; im Ganzen bin ich jedoch nicht klar worden und die Partitur konnte ich mir nicht verschaffen. Um so genauer kenn’ ich die gegebene Ouverture von Ferdinand Hiller, Namens „Fernando,“ spanischen Charakters, ritterlich, durchweg interessant, überaus sorgsam und fein gearbeitet, nach Beethoven’scher Bedeutsamkeit strebend, im Hauptrhythmus aber leider Note auf Note auf einen Gedanken von Franz Schubert (aus einem Marsch in C dur)[H 5] so genau gebaut, daß sie mir (auch im Grundcharakter) wie eine größere Ausführung dieses Schubert’schen Marsches vorkam. Mit nicht minder Freude habe ich oft „die Najaden,“ Ouverture von William Sterndale Bennett, durchlesen: ein reizendes, reich und edel ausgeführtes Bild. Wenn sie sich allerdings an das Mendelssohn’sche Genre anlehnt (wie ja auch Mendelssohn sich an die Ouverture zu Leonore), ja wenn er Alles, was sich von Anmuth und Weiblichkeit in Weber, Spohr und Mendelssohn findet, wie zu einer Tonfluth vermischt und davon aus vollen Bechern reicht, so ist es eben geistige Brüderschaft, die die Vorzüge Anderer lebendig in sich aufgenommen und sich zu eigen gemacht hat. Welche blühende Poesie aber überdies in dem Werk, wie [212] innig im Gesang und zart im Bau, welch’ schöne weiche Instrumente! Gegen den Vorwurf einer gewissen Monotonie kann man sie indeß kaum in Schutz nehmen; namentlich gleichen sich die zwei Hauptthema’s zu viel.

Interessant waren die einzelnen Scenen aus Faust vom Fürsten Radzivil. Bei aller Hochachtung für das Streben des erlauchten Dilettanten, will es mir scheinen, als hätte man dem Werk durch das allzu große Lob von Berlin aus eher geschadet. Die wirklich äußerst unbehülflich instrumentirte Ouverture schon müßte dem Musiker die Augen öffnen, wenn nicht die Wahl der Mozart’schen Fuge gleich von vorneherein dem Beurtheiler. Wenn sich der Componist der Aufgabe der Ouverture nicht gewachsen fühlte und die gewiß nicht zu verwerfende Idee, ein Faustdrama mit einer Fuge, der tiefsinnigsten Form der Musik, zu eröffnen, nicht auszuführen vermochte, so gab es doch gewiß noch andere,[H 6] mehr Faust’schen Charakters, als die von Mozart, die doch Niemand ein Meisterstück nennen kann, wenn man anders welche von Bach und Händel kennt. Der Eintritt der Harmonika[H 7] und der nacheinander aufgebaute Dreiklang wirkt im Anfang allerdings eigen und schauerlich, in der Länge aber geradezu quälend, daß man sich wegwünschte. Und dann meine ich, ist doch mit einem einzigen gewiß zwei Minuten aushaltenden Cis dur-Accord zu wenig musikalische Kunst entwickelt. Vielem Einzelnen der folgenden Nummern kann aber Niemand ihren eigenthümlichen Werth absprechen, eine unbefleckte Phantasie, eine so zu [213] sagen fürstliche Einfalt, eine Erfindungskraft, die die Sache oft an der Wurzel packt.

Neu, d. h. erst hundert Jahr alt, war auch das D moll-Concert für Clavier von J. S. Bach, von Mendelssohn gespielt und vom verstärkten Saitenquartett begleitet. Vieles, was mir bei diesem erhabenen Werk, wie bei einigen Scenen aus einer der Gluck’schen Iphigenien an Gedanken beikam, möchte ich hier sagen. Ein Blick auf den weiten Weg, den wir noch zurückzulegen haben, verhindert mich daran. Eines soll aber je eher je besser die Welt erfahren. Sollte sie es wohl glauben, daß in den Musikschränken der Berliner Singakademie, welcher der alte Zelter seine Bibliothek vermacht, noch wenigstens sieben solcher Concerte und außerdem unzählige andere Bach’sche Compositionen im Manuscript wohlbehalten aufbewahrt werden? Nur wenige wissen es; sie liegen aber gewiß dort. Ueberhaupt, wär’ es nicht an der Zeit und von einigem Nutzen, wenn sich einmal die deutsche Nation zu einer vollständigen Sammlung und Herausgabe sämmtlicher Werke von Bach entschlösse?[2] Man sollte meinen und könnte ihr vielleicht dann die Worte eines Sachkundigen, der sich S. 76 dieses Bandes d. n. Ztschr. über dies Unternehmen ausläßt, als Motto voransetzen. Dort heißt es nämlich:

„Daß Sie Sebastian Bach’s Werke herausgeben wollen, ist etwas, was meinem Herzen, das ganz für

[214]

die hohe große Kunst dieses Urvaters der Harmonie schlägt, recht wohl thut und ich bald im vollen Kaufe zu sehen wünsche etc.“[H 8]

Man schlage nur nach! –

Und jetzt zu den Sängerinnen und Virtuosen, die diese nie genug zu lobenden Concerte verschönerten als Arabesken. Gewöhnlicheres übergeh’ ich. So sind es denn von ersteren, Frl. Grabau, wie immer fertig, fest, künstlerisch, echt, und Frl. Werner, Novizin, jung, frisch an Stimme und Gestalt, talentvoll. B. Molique’s meisterliches Spiel seines D moll-Concertes (Jemand meinte, B moll läge hier näher) ist schon in diesen Blättern erwähnt worden, eben so W. Bennett’s innig musikalisches Leben im Vortrag. Als Kunstgenüsse erster Art bleiben noch zu erwähnen das E moll-Concert von Spohr, von David gespielt, Posaunenvariationen von C. G. Müller, von Queisser geblasen, das Es dur-Concert von Beethoven und das in G moll von Mendelssohn, von Mendelssohn gespielt, d. h. in Erz gegossen nach seiner Weise.

Den Beschluß des diesjährigen Concertcyklus machte die neunte Symphonie von Beethoven. Das unerhört schnelle Tempo, in dem der erste Satz gespielt wurde, nahm mir geradezu die ganze Entzückung, die man sonst von dieser überschwenglichen Musik zu erhalten gewohnt ist. Dem dirigirenden Meister gegenüber, der Beethoven kennt und verehrt, wie so leicht Niemand [215] wieder, mag dieser Ausspruch unbegreiflich scheinen, und endlich, wer könnte hier entscheiden, als Beethoven selbst, dem dies leidenschaftliche Treiben des Tempo’s unter Voraussetzung eines makellosen Vortrags vielleicht gerade Recht gewesen? So muß ich denn diese Erfahrung, wie so manche, zu meinen merkwürdigsten musikalischen zählen, und mit einiger Trauer, wie schon allein über das äußere Erscheinen des Höchsten ein Meinungszwiespalt entstehen kann. Wie sich aber freilich im Adagio alle Himmel aufthaten, Beethoven wie einen aufschwebenden Heiligen zu empfangen, da mochte man wohl alle Kleinigkeiten der Welt vergessen und eine Ahnung vom Jenseits die Nachblickenden durchschauern. –




III.


Es mag wohl über zehn Jahre her sein, daß sich in einem unscheinbaren hiesigen Locale einige junge Musiker versammelten, theils gute alte Werke, theils ihre eigenen neusten aufzuführen, oder auch sich unter einander hören zu lassen.[H 9] Mitglieder auf Mitglieder meldeten sich; nach und nach verlautete auch im Publicum davon; Theilnahme und Neugierde trieb Mehre hinein; die geheime Gesellschaft bekam Muth, führte größere Werke mit größeren Mitteln auf, gab sich einen Namen, Euterpe, wählte einen Ausschuß und in einem anerkannt guten Musiker, Hrn. C. G. Müller, einen [216] Director. Schon im Winter 1835 verlegte die Gesellschaft ihr Uebungszimmer in einen anständigen, schönen Saal.[H 10] Daß er immer gedrückt voll, bezeugte ihr die wachsende Gunst des Publicums — und so gab es auch im vergangenen Winterhalbjahre vom 12ten November[H 11] bis 14ten März zwölf solcher Concerte, und wenn man etwa Montags fragte: „ob es Abends nicht irgend was gäbe“ bekam man auf echt Leipzigerisch meistens zur Antwort: „’s ist Euterpe.“ Im Grunde mußte sich aber die ehrenwerthe Gesellschaft ihre Concertabende recht zusammenborgen, da die meisten Mitglieder auch im Theater, in den Gewandhaus-, Extra- und andern Concerten mitspielen und es nur wenige Tage gibt, wo es nicht hier und da zu thun gäbe. Dieses Nichtbestimmtsein eines eigentlichen Concertabends gibt aber dem Institut sogar einen leichten Anstrich von poetischer Freiheit, und stehen die Euterpisten nun wirklich vor ihren erleuchteten Pulten, so spielen sie so frisch zu, daß sie Einem sogar lieber als irgend eine fürstliche Capelle, wo Niemand zucken soll mit den Augen und selig sein in der Musik. Zur Sache! Die ursprüngliche Tendenz des Vereins also, Aufführung der besten Werke der besten Meister, dann von Compositionen Neuerer (Einheimischer wie Fremder), endlich Vortrag von Solo-, auch Ensemblestücken von Mitgliedern und Nicht-Mitgliedern des Vereins, gilt auch jetzt noch fort, nur daß sich das Ganze auf eine höhere Stufe gehoben hat, daß mit mehr Wahl verfahren wird. Gesang ist durchaus ausgeschlossen,[H 12] [217] was Manches gegen sich, aber auch das für sich hat, daß so der Verein eine bestimmte Farbe bekommen, ja daß er sich zu seinem Vortheil nur im Instrumentalen befestigt.

Die Ausführung der Symphonieen und Ouverturen gibt der in den Gewandhausconcerten nicht viel nach, natürlich, da es meist Musiker von daher sind. Spielt man dort mit mehr Respect, so hier mit mehr Keckheit; steht dort der Director felsenfest im Tempo, so geht es hier in einem Beethoven’schen Scherzo über Kopf und Hals dem Ende zu. Beide Institute sind einander nützlich, beide von größtem Einfluß auf die verschiedenen Stände der Zuhörer. Gewisse Fehler dürften freilich nie vorkommen und müßten mit einer Art Tod bestraft werden; so blies ein Euterpist in den ersten Tacten des Allegretto der 7ten Symphonie von Beethoven ein verdammtes Cis; doch wollen wir solche Fälle neckenden Cobolden beimessen, die sich zufällig wohl einmal in eine Oboeröhre verkrochen. Von den Symphonieen der Meister gab es nun die in C moll, D dur, die Pastoral-, F dur und eine gewisse in A dur von Beethoven, von Mozart die in C dur mit der Fuge (Jupiter), von Haydn die in Es dur, von Spohr die Weihe der Töne: — von Mitgliedern der Gesellschaft eine ältere in D dur und die oft besprochene in C moll von C. G. Müller, eine in F moll von F. L. Schubert: — von Fremden eine in G moll von Gährich. In den Ouverturen war ebenfalls schönste Auswahl von ältern getroffen, unter [218] denen namentlich die zu Samori vom pedantisch-genialen Abt Vogler zu erwähnen; von neusten gab es welche von Attern, Conrad und von Berlioz die zu den Vehmrichtern,[H 13] welche letztere für ein Ungeheuer ausgeschrieen ist, während ich in ihr nichts als eine nach gutem Schnitt, klar gehaltene, im Einzelnen noch unreife Arbeit eines französischen Musikgenies entdecken kann, das jedoch hier und da einige Blitze schleudert, wie Vorläufer des kommenden Gewitters,[H 14] das in seinen Symphonieen ausdonnert. In den heimischen Euterpesaal zurückkehrend, so sticht freilich nach solchen Donnerwettern ein Concertino für Horn u. dgl. schwächlich genug ab, wie wir denn die Vorträge der Solisten getrost übergehen können, da die von gänzlich unbekannten nicht der Art, daß sie eine strenge Kritik aushalten könnten, die der bekannteren (wie Queisser, Uhlrich, Grabau) anderweitig genug bekannt sind. Damit sei aber nicht gemeint, daß die Euterpe die ersten Versuche junger Virtuosen ausschließen solle, im Gegentheil sei sie gebeten, diese vorbereitende praktische Schule für öffentliches Auftreten und Concertroutine fortbestehen und Allen, die aufzutreten wünschen, offen stehen zu lassen.

Hatte man nun noch nicht genug an den 32 Concerten im Gewandhaus und Hotel de Pologne, so konnte man sich ruhiger in den Quartetten ergehen, die Hr. Concertmeister David mit Hrn. Uhlrich, Grenser und Queisser veranstaltet. Leider gab es nur vier, die nächsten Winter wenigstens zu verdoppeln wären. [219] Die Herren sind bekannt; namentlich erhalte uns der Himmel diesen Concertmeister.

Wenn wir so mit einigem Stolz auf drei Institute sehen, wie sie, mit Begeisterung an den edelsten Werken unseres Volkes aufgezogen, kaum eine andere deutsche Stadt aufzuweisen hat, so wird sich mancher Leser gefragt haben, warum die Zeitschrift mit einem Bericht über die einzelnen Leistungen oft so lange angestanden. Bekennt es Schreiber dieser Zeilen offen, so ist seine doppelte Stellung als Redigent und als Musiker daran Schuld. Den Musiker interessirt nur das Ganze, und von den Einzelnen nur die Bedeutendsten; als Redigent möchte er von Allem sprechen. Als Musiker müßte er Manches verschweigen, was der Redigent der Vollständigkeit wegen erwähnen müßte. Wo aber auch Zeit hernehmen, alles Einzelne gründlich und mit Nutzen für die Künstler zu besprechen! Denn mit Phrasen, wie: „hat sich Beifall erworben, fand Theilnahme, wurde sehr beklatscht,“ wird nichts vom Fleck gebracht, Alles verwaschen, Niemand geehrt, Meister und Schüler über einen Leisten geschlagen. So werden wir auch künftighin, immer mehr die Sache als die Person im Auge, die Ereignisse in größern Zeiträumen zusammenfassen, wo sich das Kleinere von selbst ausscheidet und ein schärferer Abriß des Ganzen sich herausstellt, — den Lebenden und Nachfolgenden aber ein erfreuliches Bild der Jugendkraft und des schwungvollen Lebens, dem die Musikgeschichte unserer Stadt kein ähnliches an die Seite zu stellen hat.




[220]
IV.


Ist mir’s doch heute wie einem jungen muthigen Krieger, der zum erstenmal sein Schwert zieht in einer großen Sache! Als ob dies kleine Leipzig, wo einige Weltfragen schon zur Sprache gekommen, auch musikalische schlichten sollte, traf es sich, daß hier, wahrscheinlich zum erstenmal in der Welt neben einander, die zwei wichtigsten Compositionen der Zeit zur Aufführung kamen — die Hugenotten von Meyerbeer und der Paulus von Mendelssohn. Wo hier anfangen, wo aufhören! Von einer Nebenbuhlerschaft, einer Bevorzugung des Einen vor dem Andern kann hier keine Rede sein. Der Leser weiß zu gut, welchem Streben sich diese Blätter geweiht, zu gut, daß, wenn von Mendelssohn die Rede ist, keine von Meyerbeer sein kann, so diametral laufen ihre Wege auseinander, zu gut, daß, um eine Charakteristik Beider zu erhalten, man nur dem Einen beizulegen braucht, was der Andere nicht hat, — das Talent ausgenommen, was Beiden gemeinschaftlich. Oft möchte man sich an die Stirn greifen, zu fühlen, ob da oben Alles noch im gehörigen Stande, wenn man Meyerbeers Erfolge im gesunden musikalischen Deutschland erwägt, und wie sonst ehrenwerthe Leute, Musiker selbst, die übrigens auch den stilleren Siegen Mendelssohn’s mit Freude zusehen, von seiner Musik sagen, sie wär’ etwas. Noch ganz erfüllt von den Hochgebilden der Schröder-Devrient[H 15] im Fidelio, ging ich zum erstenmal in die Hugenotten. Wer freut [221] sich nicht auf Neues, wer hofft nicht gern! Hatte doch Ries mit eigener Hand geschrieben, Manches in den Hugenotten sei Beethoven’schem an die Seite zu stellen etc.! Und was sagten Andere, was ich? Geradezu stimmte ich Florestan bei, der, eine gegen die Oper geballte Faust, die Worte fallen ließ: „im Crociato hätte er Meyerbeer noch zu den Musikern gezählt, bei Robert dem Teufel habe er geschwankt, von den Hugenotten an rechne er ihn aber geradewegs zu Franconi’s[H 16] Leuten.“ Mit welchem Widerwillen uns das Ganze erfüllte, daß wir nur immer abzuwehren hatten, kann ich gar nicht sagen; man wurde schlaff und müde vom Aerger. Nach öfterem Anhören fand sich wohl manches Günstigere und zu Entschuldigende heraus, das Endurtheil blieb aber dasselbe, und ich müßte denen, die die Hugenotten nur von Weitem etwa dem Fidelio oder Aehnlichem an die Seite zu setzen wagten, unaufhörlich zurufen: daß sie nichts von der Sache verständen, nichts, nichts. Auf eine Bekehrung übrigens ließ’ ich mich nicht ein; da wäre kein Fertigwerden.

Ein geistreicher Mann hat Musik wie Handlung am besten durch das Urtheil bezeichnet, daß sie entweder im Freudenhause oder in der Kirche spielten. Ich bin kein Moralist; aber einen guten Protestanten empört’s, sein theuerstes Lied auf den Bretern abgeschrieen zu hören, empört es, das blutigste Drama seiner Religionsgeschichte zu einer Jahrmarktsfarce heruntergezogen zu sehen, Geld und Geschrei damit zu erheben, empört die [222] Oper von der Ouverture an mit ihrer lächerlich-gemeinen Heiligkeit bis zum Schluß, nach dem wir ehestens lebendig verbrannt werden sollen.[3] Was bleibt nach den Hugenotten übrig, als daß man geradezu auf der Bühne Verbrecher hinrichtet und leichte Dirnen zur Schau ausstellt. Man überlege sich nur Alles, sehe, wo Alles hinausläuft! Im ersten Act eine Schwelgerei von lauter Männern und dazu, recht raffinirt, nur eine Frau, aber verschleiert; im zweiten eine Schwelgerei von badenden Frauen und dazwischen, mit den Nägeln herausgegraben für die Pariser, ein Mann, aber mit verbundenen Augen. Im dritten Act vermischt sich die liederliche Tendenz mit der heiligen; im vierten wird die Würgerei vorbereitet und im fünften in der Kirche gewürgt. Schwelgen, morden und beten, von weiter nichts steht in den Hugenotten: vergebens würde man einen ausdauernd reinen Gedanken, eine wahrhaft christliche Empfindung darin suchen. Meyerbeer nagelt das Herz auf die Haut und sagt: „seht, da ist es, mit Händen zu greifen.“ Es ist Alles gemacht, Alles Schein und Heuchelei. Und nun diese Helden und Heldinnen, — zwei, Marcell und St. Bris, ausgenommen, die doch nicht gar so elend [223] zusammensinken. Ein vollkommner französischer Wüstling,[4] Nevers, der Valentine liebt, sie wieder aufgibt, dann zur Frau nimmt, — diese Valentine selbst, die Raoul liebt, Nevers heirathet, ihm Liebe schwört[5] und sich zuletzt an Raoul trauen läßt, — dieser Raoul, der Valentine liebt, sie ausschlägt, sich in die Königin verliebt und zuletzt Valentine zur Frau erhält, — diese Königin endlich, die Königin all’ dieser Puppen! Und dies läßt man sich Alles gefallen, weil es hübsch in die Augen fällt, und von Paris kömmt — und ihr deutschen sittsamen Mädchen haltet euch nicht die Augen zu? — Und der Erzkluge aller Componisten reibt sich die Hände vor Freuden! Von der Musik an sich zu reden, so reichten hier wirklich keine Bücher hin; jeder Tact ist überdacht, über jeden ließe sich etwas sagen. Verblüffen oder kitzeln ist Meyerbeer’s höchster Wahlspruch und es gelingt ihm auch beim Janhagel. Was nun jenen eingeflochtenen Choral anlangt, worüber die Franzosen außer sich sind, so gesteh’ ich, brächte mir ein Schüler einen solchen Contrapunct, ich würde ihn höchstens bitten, er möcht’ es nicht schlechter machen künftighin. Wie überlegt-schaal, wie besonnen-oberflächlich, daß es der Janhagel ja merkt, wie grobschmiedmäßig dieses ewige Hineinschreien Marcell’s „Eine feste Burg“ etc. Viel macht man dann aus der [224] Schwerterweihe im vierten Act. Ich gebe zu, sie hat viel dramatischen Zug, einige frappante geistreiche Wendungen und namentlich ist der Chor von großer äußerlicher Wirkung; Situation, Scenerie, Instrumentation greifen zusammen, und da das Gräßliche Meyerbeer’s Element ist, so hat er hier auch mit Feuer und Liebe geschrieben. Betrachtet man aber die Melodie musikalisch, was ist’s als eine aufgestutzte Marseillaise? Und dann, ist’s denn eine Kunst, mit solchen Mitteln an so einer Stelle eine Wirkung hervorzubringen? Ich tadle nicht das Aufbieten aller Mittel am richtigen Orte; man soll aber nicht über Herrlichkeit schreien, wenn ein Dutzend Posaunen, Trompeten, Ophykleiden und hundert im Unisono singende Menschen in einiger Entfernung gehört werden können. Ein Meyerbeer’sches Raffinement muß ich hier erwähnen. Er kennt das Publicum zu gut, als daß er nicht einsehen sollte, daß zu viel Lärm zuletzt abstumpft. Und wie klug arbeitet er dem entgegen? Er setzt nach solchen Prasselstellen gleich ganze Arien mit Begleitung eines einzigen Instrumentes, als ob er sagen wollte: „seht, was ich auch mit Wenigem anfangen kann, seht, Deutsche, seht!“ Einigen Esprit kann man ihm leider nicht absprechen. — Alles Einzelne durchzugehen, wie reichte da die Zeit aus! Meyerbeer’s äußerlichste Tendenz, höchste Nicht-Originalität und Styllosigkeit sind so bekannt, wie sein Talent, geschickt zu appretiren, glänzend zu machen, dramatisch zu behandeln, zu instrumentiren, wie er auch einen großen [225] Reichthum an Formen hat. Mit leichter Mühe kann man Rossini, Mozart, Hérold, Weber, Bellini, sogar Spohr, kurz die gesammte Musik nachweisen. Was ihm aber durchaus angehört, ist jener berühmte, fatal meckernde, unanständige Rhythmus, der fast in allen Themen der Oper durchgeht; ich hatte schon angefangen, die Seiten aufzuzeichnen, wo er vorkömmt (S. 6, 17, 59, 98, 77, 100, 117), ward’s aber zuletzt überdrüssig. Manches Bessere, auch einzelne edlere und großartigere Regungen könnte, wie gesagt, nur der Haß wegläugnen; so ist Marcell’s Schlachtlied von Wirkung, so das Lied des Pagen lieblich; so interessirt das Meiste des dritten Actes durch lebendig vorgestellte Volksscenen, so der erste Theil des Duetts zwischen Marcell und Valentine durch Charakteristik, ebenso das Sextett, so das Spottchor durch komische Behandlung, so im vierten Act die Schwerterweihe durch größere Eigenthümlichkeit und vor Allem das darauf folgende Duett zwischen Raoul und Valentine durch musikalische Arbeit und Fluß der Gedanken — — Was aber ist das Alles gegen die Gemeinheit, Verzerrtheit, Unnatur, Unsittlichkeit, Un-Musik des Ganzen? Wahrhaftig, und der Herr sei gelobt, wir stehen am Ziel, es kann nicht ärger kommen, man müßte denn die Bühne zu einem Galgen machen, und dem äußersten Angstgeschrei eines von der Zeit gequälten Talentes folgt im Augenblicke die Hoffnung, daß es besser werden muß.




[226]
V.


— — Wenden wir uns mit einigen Worten zu einem Edleren. Hier wirst du zum Glauben und zur Hoffnung gestimmt und lernst deine Menschen wieder lieben; hier ruht es sich wie unter Palmen, wenn du dich müde gesucht und nun eine blühende Landschaft dir zu Füßen liegt. Es ist der Paulus ein Werk der reinsten Art, eines des Friedens und der Liebe. Du würdest dir schaden und dem Dichter wehe thun, wolltest du es nur von Weitem mit Händel’schen oder Bach’schen vergleichen. Worin sich alle Kirchenmusik, worin sich alle Gottestempel, alle Madonnen der Maler gleichsehen, darin gleichen sie sich; aber freilich waren Bach und Händel, da sie schrieben, schon Männer, und Mendelssohn schrieb beinahe ganz Jüngling.[H 17] Also das Werk eines jungen Meisters, dem noch Grazien um die Sinne spielen, den noch Lebelust und Zukunft erfüllen; nicht zu vergleichen mit einem aus jener strengern Zeit, von einem jener göttlichen Meister, die ein langes heiliges Leben hinter sich, mit den Häuptern schon in die Wolken sahen.

Der Gang der Handlung, das Wiederaufnehmen des Chorals, den wir schon in den alten Oratorien finden, die Theilung des Chors und der Einzelnen in handelnde und betrachtende Massen und Personen, die Charaktere dieser Einzelnen selbst, — über dies wie über anderes ist schon vielfach in diesen Blättern gesprochen. [227] Auch daß die Hauptmomente zum Nachtheil des Eindrucks des Ganzen schon in dem ersten Theile der Handlung liegen, daß die Nebenperson Stephanus wenn nicht ein Uebergewicht über Paulus erhält, so doch das Interesse an diesem schmälert, daß endlich Saulus mehr wirkt in der Musik als Bekehrter, denn als Bekehrender, ist ebenfalls richtig bemerkt worden, so wie daß das Oratorium überhaupt sehr lang ist, und bequem in zwei zerfallen könnte. Anziehend zum Kunstgespräch ist vor Allem Mendelssohn’s dichterische Auffassung der Erscheinung des Herrn; doch meine ich, man verdirbt durch Grübeln und könnte damit den Componisten nicht ärger beleidigen, als hier in einer seiner schönsten Erfindungen. Ich meine, Gott der Herr spricht in vielen Zungen, und den Auserwählten offenbart er ja seinen Willen durch Engelchöre; ich meine, der Maler drücke die Nähe des Höchsten durch oben aus dem Saum des Bildes hervorschauende Cherubköpfe poetischer aus, als durch das Bild eines Greises, das Dreifaltigkeitszeichen etc. Ich wüßte nicht, wie die Schönheit beleidigen könnte, wo die Wahrheit nicht zu erreichen ist. Auch hat man behaupten wollen, daß einige Choräle im Paulus durch den seltenen Schmuck, mit dem sie Mendelssohn umgeben, an ihrer Einfalt einbüßten. Als ob die Choralmusik nicht eben so gut Zeichen für das freudige Gottvertrauen, wie für die flehende Bitte habe, als ob zwischen „Wachet auf“ etc. und „Aus tiefer Noth“ etc. kein Unterschied möglich wäre, als ob das Kunstwerk nicht [228] andere Ansprüche befriedigen müsse, als eine singende Gemeinde! Endlich hat man den Paulus sogar nicht einmal als ein protestantisches Oratorium, sondern nur als Concertoratorium gelten lassen wollen, wobei ein Gescheuter den Mittelweg vorschlug, es doch „protestantisches Concertoratorium“ zu nennen. Man sieht, Einwendungen, und auch begründete lassen sich machen, und der Fleiß der Kritik soll auch in Ehren gehalten werden. Dagegen vergleiche man aber, was dem Oratorium Niemand nehmen wird, — außer dem innern Kern, die tiefreligiöse Gesinnung, die sich überall ausspricht, betrachte man all’ das Musikalisch-Meisterlich-Getroffene, diesen höchst edlen Gesang durchgängig, diese Vermählung des Wortes mit dem Ton, der Sprache mit der Musik, daß wir Alles wie in leibhaftiger Tiefe erblicken, die reizende Gruppirung der Personen, die Anmuth, die über das Ganze wie hingehaucht ist, diese Frische, dieses unauslöschliche Colorit in der Instrumentation, des vollkommen ausgebildeten Styles, des meisterlichen Spielens mit allen Formen der Setzkunst nicht zu gedenken — man sollte damit zufrieden sein, meine ich. Eines nur habe ich zu bemerken. Die Musik zum Paulus ist im Durchschnitt so klar und populär gehalten, prägt sich so rasch und für lange Zeit ein, daß es scheint, der Componist habe während des Schreibens ganz besonders darauf gedacht, auf das Volk zu wirken. So schön dieses Streben ist, so würde eine solche Absicht künftigen Compositionen doch etwas [229] von der Kraft und Begeisterung rauben, wie wir es in den Werken derer finden, die sich ihrem großen Stoffe rücksichtslos, ohne Ziel und Schranke hingaben. Zuletzt bedenke man, daß Beethoven einen Christus am Oelberg geschrieben, und auch eine Missa solemnis, und glauben wir, daß, wie der Jüngling Mendelssohn ein Oratorium schrieb, der Mann auch eines vollenden wird.[6] Bis dahin begnügen wir uns mit unserm und lernen und genießen davon.

Und jetzt zu einem Schlußurtheil über zwei Männer und ihre Werke, die die Richtung und Verwirrung der Zeit am schärfsten charakterisiren, zu gelangen. Ich verachte diesen Meyerbeer’schen Ruhm aus dem Grunde meines Herzens; seine Hugenotten sind das Gesammtverzeichniß aller Mängel und einiger wenigen Vorzüge seiner Zeit. Und dann — laßt uns diesen Mendelssohn-Paulus hochachten und lieben, er ist der Prophet einer schönen Zukunft, wo das Werk den Künstler adelt, nicht der kleine Beifall der Gegenwart: sein Weg führt zum Glück, jener zum Uebel.[7]

  1. Es ist die seitdem als Nr. 2. bei Breitkopf und Härtel erschienene.
  2. Der Gedanke hat sich zur Freude aller Künstler seitdem verwirklicht (1852).
  3. Man lese nur die Schlußzeilen der Oper:

    Par le fer et l’incendie
    Exterminons la race impie
    Frappons, poursuivons l’hérétique!
    Dieu le veut, Dieu veut le sang,
    Oui, Dieu veut le sang!

  4. Worte wie „je ris du Dieu de l’univers“ etc. sind Kleinigkeiten im Texte.
  5. D’aujourd’hui tout mon sang est à vous etc.
  6. Mendelssohn hat die Prophezeiung erfüllt (Elias). –
  7. Der obige Artikel hat dem Verf. seiner Zeit bedeutende Angriffe eingebracht, namentlich in Pariser und Hamburger Blättern, aber auch ein Lob von einem sehr würdigen Mann —, von Fr. Rochlitz. Es verhielt sich so damit: Eine musikalische Freundin, dieselbe, der die „Erinnerungen“ im Jahrgang 1839 (Bd. XI, No. 28—30) gewidmet sind, vermittelte zwischen ihm und dem jüngern Künstleraufwuchs in der Art, daß sie ihm meist auf dem Pianoforte Musikalisches, wie von Mendelssohn, Chopin, Florestan und Eusebius u. A. mittheilte, ausnahmsweise wohl auch Kritisches, wie obige Fragmente. Nach Lesung des letztern ertheilte ihr Rochlitz eine Antwort, die, von der Freundin mir zum Andenken im Original hinterlassen, ein Zeugniß von der entschiedenen Gesinnung des edlen Kunstrichters, der sich damals schon dem Greisenalter näherte, geben mag.
     D. 14. Septbr. 1837.
    Meinen verbindlichsten Dank für die zurückfolgende Mittheilung. Seit Jahren habe ich über Musik Nichts, ganz und gar Nichts gelesen, was mir — wie ich nun bin und seyn kann — so innerlichst wohlgethan hätte. Helle, festgefaßte, festgegründete, überall, wo Vernunft und Recht gilt, geltende Ansichten; reine, würdige, edle Gesinnung — und Beides nicht blos, was jene Musikwerke, ja nicht blos, was Musik überhaupt betrifft; ein bedachtsam zusammengefaßtes, haltungsvolles, und dabey doch frischbelebtes, zwanglos sich bewegendes Wesen in der Darstellung: das finde ich in diesem Aufsatze, und zwar von der ersten bis zur letzten Zeile. Dabey eine Unpartheilichkeit, die selbst am Teufel anerkennt, was er Gewandtes und Tüchtiges darlegt: so wie am Freunde, daß und wo er kein Engel ist — ja, die an diesem noch mehr Menschlichkeiten zugiebt, als manche andere Leute (ich z. B.) dafür erkennen. Dies Alles habe ich hier gefunden und meyne, alle Leser, bei denen, wie gesagt, Vernunft und Recht gilt, und an welchen allein dem Verfasser gelegen seyn kann — werden es gleich mir finden. So wird er, der Verfasser, hiermit sicherlich zum Guten, und nicht allein in unmittelbarer Beziehung auf jene Werke, mitwirken, redlich, aufrichtig, eindringlich. Wo aber dies geschieht, da wird bald oder später auch geschehen wie es dort, nach verwandten Voraussetzungen, heißt: es wird euch das Andere Alles zufallen — von selbst kommen. Und das ist, was ich ihm, dem Verf., von Herzen wünsche.
    Was sollen Sie aber mit alledem? Gar nichts, liebe Freundin, außer eine Bestätigung empfangen, es sey mir mit meinem Dank für die Mittheilung Ernst gewesen.
     Rchz. [H 18]

Anmerkungen (H)

  1. [GJ] Ouverture zur Oper „Was Ihr wollt“.
  2. [GJ] in Es dur, später als Werk 120 gedruckt.
  3. [GJ] Anmerkung 2: Auch Schumann scheint sich angeregt gefühlt zu haben, zu diesem Shakespeareschen Drama Musik zu schreiben, als er sich in den ersten vierziger Jahren dem Orchester zugewandt hatte; doch ist die Ausführung des Gedankens unterblieben. Louis Ehlert erfuhr das aus Schumanns Munde bei einer besonderen Veranlassung. Ehlert war 1843 Schüler des Leipziger Conservatoriums geworden, suchte Schumann einmal in seiner Wohnung auf und legte ihm eine Orchestercomposition zur Beurtheilung vor. „Freundlich setzte er sich mir gegenüber“ (so schrieb mir Ehlert) „und las den Titel: Ouvertüre zu Romeo und Julie. ,Sie haben es also gewagt‘, sagte er mit leisester Stimme, ,ich habe es nie gewagt‘. Die Wirkung auf mich war niederschmetternd. Ich entriß ihm das unglückselige Machwerk und ließ ihn trotz aller seiner Bitten keine Zeile darin lesen.“ II.491
  4. [GJ] Euseb antwortete gutmüthig: „zu Romeo und Julie“.[H 3] Florestan meinte aber wohl zu „viel Lärm um Nichts“. [Anm. der N. Zeitschr.]
  5. [GJ] II.18: Werk 121 Nr. 1:
    [WS] Franz Schubert, Deux Marches Caractéristiques Nr. 1 C-Dur, D 968b,1 (früher D 886) op. posth. 121 für Klavier zu vier Händen.
  6. [GJ] z. B. die bekannte fünfstimmige in Cis moll aus dem Wohltemperirten Clavier, der zufälligerweise das Thema der Mozartschen Fuge als Gegenthema hätte dienen können. [Anm. der N. Zeitschr.] II.19
  7. [GJ] Anmerkung 3: Harmonika, Glasglockeninstrument, aus 50 Glocken bestehend, die sich um eine eiserne wagerechte Achse drehen und durch Berührung mit feuchten Fingern zum Tönen gebracht werden. Der Klang ähnelt dem der Geige mit Sordinen. II.491
  8. [GJ] Aus einem Briefe Beethovens (vom 15. Januar 1801) an den Capellmeister Hofmeister, Firma Hofmeister & Kühnel (jetzt C. F. Peters) in Leipzig.
  9. [GJ] Anmerkung 8: Der Musikverein Euterpe wurde 1824 gegründet durch die Musiker Sipp, Kretzschmar, Fölck, Sommerfeld, Rosenkranz und den stud. jur. Hermsdorf. Sie versammelten sich im ersten Winter (1824, 25) in Sipps Junggesellenwohnung zur Pflege der Kammermusik, gingen aber alsbald an die Ausführung kleinerer Orchestersachen, als sich ihnen in demselben Winter noch sechs andere junge Musiker angeschlossen hatten. 1828 nahm der stetig wachsende Verein den Namen „Euterpe“ an. Hermsdorf hatte das Ehrenamt eines Vorstehers, Sipp war Concertmeister. Vergl. „Der Musikverein Euterpe zu Leipzig“, ein Gedenkblatt zur 50jährigen Jubelfeier desselben, von K. W. W[histling]. Leipzig 1874. II.493
  10. [GJ] Das alte, ein Jahrzehnt später abgebrannte Hôtel de Pologne. II.40
  11. [WS] bei GJ: 24. October
  12. [GJ] Nicht ganz richtig! es waren schon Gesangsachen zum Vortrage gekommen. II.40
  13. [GJ] Erste, durch Schumann veranlaßte Aufführung eines Berliozschen Werkes in Deutschland. II.41
  14. [GJ] ursprünglich: „des kommenden prächtigen Gewitters“. II.41
  15. [GJ] Anmerkung 9: Keine Bühnenkünstlerin hat einen gleich mächtigen Eindruck auf Schumann hervorgebracht wie die geniale Wilhelmine Schröder-Devrient. Einer Notiz im Jahrgang 1835 (II, 148) über ihre Mitwirkung in einem Concerte fügte er die Worte hinzu: „Wer lobt, stellt sich gleich, sagt Goethe: wir schweigen also.“ Nach ihrem Auftreten in der „Schweizerfamilie“ heißt es: „Wie sich alle Herzen ihrer Liebenswürdigkeit zuwenden, so weicht das Urtheil ihrem Genius.“ An der Spitze von Nr. 25 des Jahrg. 1837 (VI, 99) stehen an Stelle des Mottos die mit einem Kranz eingefaßten Worte: „Am Tag, wo Mad. Schröder-Devrient den Fidelio gab.“ Etwas weiter (S. 114) steht folgende Notiz, aber ohne jede Namensnennung: „Allgemeiner Enthusiasmus. Wo man hinhört, nichts als von Ihr. Sie verdient es und alles Herrliche. Heute spielt sie zum letztenmal den Romeo zu einem milden Zweck; der Dank vieler Unglücklichen und der Aller folgt ihr.“ Gelegentlich des Gastspiels einer jungen Sängerin als Fidelio bemerkte Schumann (S. 190), daß die Schröder in dieser Rolle nun einmal „das denkbar Höchste“ gäbe. Am 6. April 1840 berichtete er: „Nach langen Entbehrungen sahen wir gestern wieder eine deutsche Oper und eine große Künstlerin, Mad. Schröder-Devrient im Fidelio. Sie gab ihn so vollendet, wie wir ihn nur je von ihr gesehen zu haben uns erinnern können.“ – Nach ihren Liedervortragen am 28. März 1841 im Gewandhause sagte Schumann von der „Künstlerin und Dichterin“, daß sie, „so lange sie noch einen Ton in Herz und Kehle habe, ihn immer entzücken werde,“ (S. Seite 308.) Im Jahre 1844 widmete Schumann ihr den Liedercyklus „Dichterliebe“. Auch verehrte er ihr sein Manuscript von „Frauenliebe und Leben“. II.493–494
  16. [GJ] II.59. Der seiner Zeit berühmte Circusdirector Franconi in Paris hatte durch die mit allem Raffinement von ihm in Scene gesetzten „Mimodramen“ die außerordentlichsten Erfolge erzielt. Ueber eines dieser Spectakelstücke — „L’empereur“ — berichtet Börne in seinen Briefen aus Paris. (Nr. 16.)
  17. [GJ] Mendelssohn war 25 Jahre alt, als er den Paulus anfing. II.63
  18. [GJ] Diesen Brief hatte Schumann schon in der Zeitschrift, wenige Tage nach Rochlitz’ Tode (16. Dec. 1842 [WS: am 23. December 1842 Google]), abgedruckt mit der Anmerkung: „Obiger Brief war an eine Freundin gerichtet, die Rochlitz einen Aufsatz aus unsrer Zeitschrift (über Meyerbeers Hugenotten und Mendelssohns Paulus zum Lesen zugesandt hatte; die klare, manchmal an Goethe erinnernde Sprach- und Denkweise des verehrten Verstorbenen bezeugt auch dieses Schreiben, an die zu erinnern der Zweck seines Abdrucks ist.“
    Was Schumanns Stellung zu Meyerbeer betrifft, über dessen Kunstrichtung er mit so unverhohlenem Zorn den Stab bricht, so ist an der Hand der Neuen Zeitschrift zu erweisen, daß er nicht etwa aus persönlicher Gereiztheit gegen Meyerbeer so rücksichtslos verfuhr. Es hatte auch niemals eine persönliche Begegnung der beiden stattgefunden; erst im December 1846 waren sie gleichzeitig in dem Wiener Künstlerverein „Concordia“ als Gäste anwesend, wo sie aber — wie Hanslick als Augenzeuge berichtet — „einer dem andern sorgfältig auswichen.“
    Von der ersten Notiz an, welche die Zeitschrift über Meyerbeer brachte (1834, S. 72 Google), bis zum 9. April 1837, wo Schumann die Hugenotten selbst hörte, wurde Meyerbeers und seiner künstlerischen Erfolge stets aufmerksam und wohlwollend gedacht, insbesondere über den großen Erfolg der Hugenotten alsogleich berichtet. Ein erster Bericht darüber (IV, 117 Google) war Schumann nicht eingehend genug; eine zweite von ihm veranlaßte Correspondenz druckte er mit der Anmerkung ab (1836, V, 19 Google): „Im früheren Bericht schien uns der eigentliche musikalische Theil der Oper nicht ausführlich genug behandelt, weshalb wir Herrn Mainzer um einen von seiner Hand ersuchten.“ Nachdem Schumann kurze Zeit nachher (V, 42) Veranlassung genommen, einer „schönen Handlung“ Meyerbeers zu gedenken, daß dieser sich nämlich „auf mündliches Ersuchen des Hofrath Winkler in Dresden, des Vormundes der Kinder von Carl Maria v. Weber, sogleich bereitwillig gefunden hat, eine von Weber angefangene komische Oper fertig zu machen“, meldete er bald darauf die zu erwartende Aufführung der Hugenotten in Leipzig, die aber erst am 9. April 1837 stattfand. Schumann schrieb darüber (1837, VI, 122 Google): „Endlich haben wir auch die Hugenotten gesehen und sind mit unseren Gedanken über ihre Tendenz im Ganzen vollkommen im Reinen, doch muß man sie mehrmals hören, um auch Kleineres nicht zu übersehen … Später also mehr.“ Unterm 20. April berichtete er: „Die Hugenotten haben bis jetzt mit immer mehr abnehmendem Beifall drei Vorstellungen erlebt. Die Zeitschrift wird späterhin eine ausführlichere Kritik über das an guter wie an schlechter Musik überreiche Werk bringen.“ Eine Notiz vom 9. Juni lautete: „Nr. 99 der ,eleganten Zeitung’ [Google] bringt einen scharfen Artikel über die Hugenotten. Der darin ausgesprochenen Aufforderung [daß sich nämlich auch die musikalischen Zeitungen darüber vernehmen lassen möchten] wird nachgekommen werden.“ Am 5. Sept. erschien in den „Fragmenten aus Leipzig“ Schumanns Kritik, die viel Aufsehen und Widerspruch erregte. Schumann beharrte bei seinem ablehnenden Urtheil. Im Mai 1838 [WS: am 18. Mai 1838 Google] schrieb er: „Gestern die Hugenotten. Man weiß, was wir davon halten. Mad. Schröder-Devrient gab die Valentine und veredelte, so viel in ihren Kräften stand; mehr kann aber auch das Genie nicht und aus Puppen keine Menschen machen. Ihretwegen hielten wir den Abend aus, und das einzige ,ich liebe Dich’ macht sie uns auch in dieser Rolle werth und unvergeßlich. Im Übrigen überlassen wir das Stück seinem Schicksal. Blasirtheit und Gemeinheit täuschen nur auf kurze Frist.“ Derselben Verurtheilung Meyerbeers begegnet man auch in späteren Zeitschrift-Notizen (1842, XVI, 12 Google; XVII, 4 Google). In der ohne Zweifel von Schumann [496] geschriebenen Recension eines Gesangalbums (1842, XVI, 61 Google [WS: trotz dieser Einschätzung hat GJ (ebensowenig wie MK) den mit „W.“ unterzeichneten Artikel nicht in seine Sammlung der von Schumann ausgegliederten Schriften aufgenommen]) heißt es über den Meyerbeerschen Beitrag: „Meyerbeer ist wenigstens ein geborener Deutscher. Seinen Bußgesang, gestehen wir, hätten wir am liebsten vermißt; Himmel, wie kann der Mann häßlich componiren! Das Lied macht auf uns den Eindruck wie gewisse alte Bilder, wo aus den Mäulern der Abconterfeiten lange Zettel heraushängen, aus denen ihre quaest. Seelenstimmung auf das Deutlichste noch einmal in Worten zu lesen. Was ist Herrn Meyerbeer geschehen, daß er auf einmal so jammert und bußpsalmt? Hat er nicht Ruhm, nicht Geld, nicht Neider? Bleibe er doch in seinem alten Stile. Zur Umkehr ist es zu spät.“ — Auch in den vertraulichen Mittheilungen Schumanns ist seine Beurtheilung Meyerbeers dieselbe. (Vgl. Schumanns Briefe, Neue Folge, 1886 S. 179f. Internet Archive) — Hanslick erzählt (Frankls „Sonntagsblätter“ 1847 S. 96 ÖNB-ANNO), daß er im Gespräch mit Schumann (1846) „die abfälligsten Äußerungen“ über Meyerbeers Musik eingetauscht habe. „Alle diese Controversen machten mich kritischer und rigoroser, ohne meine Meinung umzustoßen, und selbst der Tadel des verehrten Schumann konnte nur zwar sehr erklärlich, aber nicht allgemein giltig erscheinen. Denn es gibt wohl unter den musikalischen Zeitgenossen nicht zwei schroffere Extreme. Schumann: tiefe, in sich versenkte Innerlichkeit; Meyerbeer: glänzende hervortretende Äußerlichkeit. Der tiefsinnige Florestan konnte sich unmöglich für eine Ausdrucksweise begeistern, welche der seinigen diametral entgegengesetzt war.“ — Als Schumann 1850 Meyerbeers Propheten gehört hatte, trug er in sein „Theaterbüchlein“ statt jeder kritischen Bemerkung nur ein † ein. —
    Was die am Eingang dieser Anmerkung erwähnten „Angriffe“ anbelangt, die Schumann in Folge seiner Hugenottenkritik erfuhr, so wird eine Probe davon genügend zeigen, mit welcher Art von Gegnern Schumann es zu thun hatte. Das folgende Curiosum ist der „Eisenbahn“, einer hauptsächlich von literarischem Klatsch lebenden, jetzt längst vergessenen Zeitschrift „zur Beförderung geistiger und geselliger Tendenzen“ entnommen und bildet die Einleitung eines anonymen Berichts über eine am 13. Nov. 1838 in Leipzig erfolgte Aufführung der Hugenotten:
    „Schade, daß Herr Robert Schumann in Leipzig dieses neueste Opernwerk Meyerbeers durch einige Federzüge aus der Reihe der lebenden Tondichtungen gestrichen hat! Seitdem Herr Robert Schumann den Compositeur des „Crociato“ und „Robert“ einen mnsikalischen Ignoranten, einen Melodien-Piraten, einen plumpen Effectpinsler genannt hat, seitdem sind die „Hugenotten“ und „Robert der Teufel“ überall, wo sie zur Aufführung kamen, jämmerlich durchgefallen. Das ist die Macht eines großen musikalisch-kritischen Kopfes gegenüber einem solch trivialen Bettel-Musikanten wie Meyerbeer, der nur drei so armselige Opernmusiken geschrieben, die in die Herzen dreier Völker übergegangen! Ich habe vor der neulichen Aufführung der Hugenotten auf der Leipziger Bühne noch ein Mal mit dem Todesschweiße auf der Stirn, mit geräderten Gliedern das durchgearbeitet, was Herr Robert Schumann in seiner musikalischen Zeitung gegen diese Hugenotten als Anathema geschleudert, und bei Gott, jedes einzelne Musikstück ist mir überraschender, origineller, ergreifender denn früher erschienen. Mein guter Herr Robert Schumann, da werden Sie noch viel musikalische Zeitungs-Makulatur liefern müssen, da mögen Sie noch zehn Jahre fort und fort deutschdümmeln, da müssen Sie noch viele jeanpaulisirende Wort-Knüppel für den Setzerkasten in den kritischen Urwäldern auflesen und noch manchen Wagen voll romantischer Stil-Stoppeln von dem musikalisch-kritischen Brachfelde in die Scheune ziehen, bis es Ihnen gelingen wird, [497] den Namen Meyerbeer da hinabzuziehen, wo Sie ihn eigentlich zu sehen wünschten. Sie sind ein gutes, frommes „Eusebius-Gemüth“, Herr Robert Schumann, aber lassen Sie den Haß gegen Meyerbeer! Sie blamiren sich schrecklich damit! Wozu die Feder eingetaucht in Bitterkeiten oder in bittern Schnaps, wenn sie über Meyerbeer schreiben soll? Mendelssohn Bartholdy steht auch ohne diese Ihre Diatriben gegen Meyerbeer groß da! Bedenken Sie, Herr Robert Schumann, daß wenn Sie einmal die Augen zugedrückt haben, Niemand mehr von Ihnen in der weiten Welt, nicht einmal in Kleinzschocher [Dorf bei Leipzig] sprechen wird, Meyerbeer hingegen wahrscheinlich sogar die Existenz Ihrer musikalischen Zeitung überleben dürfte. Wenn die Leute in Eutritzsch [Dorf bei Leipzig] oder Paris Ihre Schmähungen gegen Meyerbeer zufälligerweise in die Hände bekommen, Herr Robert Schumann, so müssen sie der Ueberzeugung sein, daß aus Ihnen der verunglückte Compositeur, dessen verworrene Clavier-Compositionen keinen Abgang finden, der Teufel des Neides seine verspottende Zunge gegen den Compositeur der Hugenotten herausstreckt! Das ist die schwache Seite der sogenannten „gelehrten Musikbeurtheiler“, die auch componiren wollen, aber an Ueberfluß des Gedanken-Mangels laboriren, daß sie, wenn einmal eine großartige Erscheinung in der Compositions-Welt hervortritt, diese als einen lächerlichen Popanz, als ein gauklerisches Schemen-Bild erklären wollen. Herr Robert Schumann möchte so gern den deutschen Berlioz in Duodez-Format spielen! Aber dazu fehlt ihm noch Alles! Geist, Tiefe der kritischen Anschauung, Ausdrucks-Grazie und Weltton! — Mit Herrn Robert Schumann wäre ich fertig, jetzt zur Darstellung der Hugenotten! Neu waren heute Demoiselle Schlegel-Valentine“ etc.
    Ich vermuthe, daß Banck, der 1838 wieder einige Zeit in Leipzig lebte, diesen Artikel, wenn nicht verfaßt, so doch beeinflußt hat. Wie er alles mißbilligte, was von Schumann ausging, so hatte er auch dessen Hugenotten-und Paulus-Kritik mißbilligt. Mir erscheint der Umstand etwas verrätherisch, daß in dem Eisenbahn-Bericht ein Ausdruck Schumanns citirt wird, der sich in der Zeitschrift überhaupt nur ein einziges Mal findet und daher wohl nur einem genaueren Kenner derselben gegenwärtig sein konnte. Dieser Ausdruck („schönes Eusebiusgemüth“) kommt im Jahrgang 1835 (vgl. Bd. 1, S. 36 [WS: richtig: Jahrgang 1834, S. 74 Google]) vor, also zu einer Zeit, als Banck noch Mitarbeiter an der Zeitschrift war. Für recht unwahrscheinlich halte ich’s, daß der Redacteur der „Eisenbahn“, Fr. Wiest, der kurz zuvor als junger Journalist von Wien nach Leipzig gekommen war, diesen Ausdruck noch nach Verlauf von drei Jahren im Gedächtniß behalten hätte, — vorausgesetzt, daß er die namentlich in Wien fast ganz unbekannte Schumannsche Zeitschrift gelesen haben sollte. Bei der gehässigen Stellung Bancks zu Schumann ist die Annahme seiner Betheiligung an dem Schmähartitel wohl gerechtfertigt. Schumanns um Michaelis 1838 erfolgte Uebersiedelung nach Wien ermuthigte augenscheinlich seine Gegner in Leipzig, stärkere Hebel in Bewegung zu setzen, um der neuen Zeitschrift den Boden zu entziehen. Fehlte es doch auch nicht an Versuchen, den stellvertretenden Redacteur derselben, Oswald Lorenz, zum Abfall zu bewegen. Lorenz äußerte sich darüber in einem Briefe vom 1. October 1879: „Bei einer zufälligen, vielleicht auch nicht zufälligen Begegnung fragte mich Papa Wieck (in Bancks Begleitung), was ich von Schumann (damals in Wien befindlich) für Nachrichten habe. Im Lauf des Gesprächs machte er mich aufmerksam, daß die Allgem. (Finksche) Mus.-Ztg. ein Feuilleton hergestellt habe und sonstige Fortschrittsthaten ausübe, und daß jetzt Gelegenheit und [498] Veranlasssung für mich zu selbständigem Auftreten u. s. w. sich darbiete. Bestimmtere Erklärungen unterblieben; vielleicht wurde ich als unbrauchbar erfunden. Schumann, dem ich Meldung davon machte, ist weder schriftlich, noch später mündlich darauf eingetreten, weshalb auch ich schwieg. Einen Zweck aber hatte die Verbrüderung sicher.“ „Von einer Conspiration Beider“ — schrieb Lorenz ein anderes Mal — „bin ich überzeugt, durch welche vielleicht nach mehr als einer Richtung hin geangelt wurde.“ Vgl. Anmerk. 4 und 45. Anmerkung 10, II.495–498 Commons
Sonaten für das Pianoforte (3) Nach oben 1838 (Anfang)
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