Geheimnisvolle Schiffskatastrophen
Am 16. Januar 1878 verließ die französische Brigg „Paris“ den an der australischen Ostküste gelegenen kleinen Hafen von Newcastle, um eine Ladung Gold aus den reichen Minen von Gulgong, sowie eine Menge wertvoller Felle im Auftrage von Mellin & Co. in Newcastle nach London zu bringen. Diese Exportfirma hatte mit der Versendung der kostbaren Güter längere Zeit gezögert, da ihr von den Newcastle anlaufenden Fahrzeugen nicht eines zuverlässig genug erschienen war, um ihm eine Ladung im Werte von eineinhalb Millionen Mark anzuvertrauen. Erst die „Paris“, ein neuer, gut bemannter und vorzüglich geführter Schnellsegler, der Eigentum des Kapitäns Parelle war, genügte den Ansprüchen der vorsichtigen Kaufleute, die nach Abschluß der Verhandlungen mit Parelle Schiff und Ladung bei der Gesellschaft Britannia in Sydney mit 1 548 000 Mark versicherten.
Die Brigg, die außer dem Kapitän eine Besatzung von vierzehn Köpfen, alles Franzosen, hatte, wurde für diese Reise aufs beste ausgerüstet und ging dann zu einer Jahreszeit in See, in der in jenen Breiten unerwartete Wetterstürze am wenigsten zu befürchten sind. Als einziger Fahrgast befand sich Thomas Burkins, der unverheiratete Teilhaber der Firma Mellin & Co., an Bord; er wollte den wertvollen Transport persönlich überwachen. Die Brigg schlug den Weg nach Norden ein, um durch die Torresstraße in die indischen Gewässer und von da weiter durch den Suezkanal nach ihrem Bestimmungsorte zu gelangen. [158] Verabredungsgemäß sollte sie dabei den Hafen von Colombo auf Ceylon anlaufen, wo Mellin & Co. ein Zweiggeschäft besaßen und den Laderaum des gecharterten Schiffes mit weiteren Waren füllen lassen wollten.
Bereits im April desselben Jahres wurde die „Paris“, die in Colombo bis dahin nicht eingetroffen war, dem Hafenamt in Newcastle als überfällig gemeldet. Alle Nachforschungen nach ihrem Verbleib waren erfolglos. Daß die Brigg einem Unwetter zum Opfer gefallen sein konnte, erschien so gut wie ausgeschlossen, da nach den angestellten Ermittlungen volle sechs Wochen nach der Abreise des Schiffes in den in Betracht kommenden Meeresteilen das günstigste Wetter geherrscht hatte. Besonders die Versicherungsgesellschaft Britannia in Sydney tat alles, um über das Schicksal des wertvollen Fahrzeugs irgend einen Aufschluß zu erlangen. Ihre mit Hilfe eines Dampfers monatelang ausgeführte Nachsuche hatte kein Ergebnis.
Inzwischen war die Firma Mellin & Co., die sich bei diesem Geschäft zu stark belastet und vorher schon mehrere verfehlte Unternehmungen wettzumachen gehabt hatte, infolge des Verlustes der „Paris“ in Konkurs geraten. Nach englischem Recht sind die Schiffsversicherungsgesellschaften erst verpflichtet, die Versicherungssumme für ein verloren gegangenes Fahrzeug, sowie dessen Ladung auszuzahlen, wenn dieses ein volles Jahr lang überfällig ist. Außerdem beträgt die zu erlegende Versicherungssumme stets nur drei Viertel des versicherten Wertes, so daß die Firma also eine Einbuße von weit über eine Viertelmillion Mark erlitt. Eduard Mellin, der überlebende Teilhaber, löste das Geschäft auf und kehrte mit den Seinen als armer Mann nach England zurück.
[159] Zwei Jahre später, im Frühjahr 1880, schickte die holländische Kolonialregierung den Vermessungsdampfer „Wilhelminje“ nach Neuguinea, um die Fahrstraßen zwischen den im Südwesten dieser großen Insel liegenden Archipelen abloten und danach neue Seekarten herstellen zu lassen. Während der Erledigung dieser Aufgabe hielt sich das genannte Vermessungsschiff auch einige Zeit in der Egeronstraße auf, die die felsige, wildzerklüftete Insel Selaroe von Jamdena, der bedeutendsten der Timorlautgruppe, trennt. Selaroe ist so gut wie unbewohnt. Nur an der Nordküste hausen einige Hundert Malaien, die sich kümmerlich durch Fischfang ernähren.
Am 23. August 1880 unternahm der Schiffsarzt der „Wilhelminje“, Doktor Maesters, in der Dampfpinasse einen mehrtägigen Jagdausflug nach dem südlichen Teile der Insel, wo nach den Berichten der Eingeborenen Bergziegen häufig anzutreffen sein sollten. Auf der Fahrt entlang der zumeist abfallenden Küste wurde die Pinasse am Abend des zweiten Tages von einem Sturme überrascht. Nach längerem Suchen fand sie eine schmale, von haushohen Wänden eingeschlossene Einfahrt, die in eine ausgedehnte, völlig geschützte Bucht mündete. Die Nacht verbrachte Doktor Maesters mit seinen vier Begleitern an Bord des kleinen Fahrzeugs. Man hatte es vorsichtshalber inmitten der Bucht verankert, da man in dieser verlassenen Gegend immerhin mit einem Überfall durch malaiische Piraten rechnen mußte.
Nach Tagesanbruch unternahm die Pinasse eine Rundfahrt durch die Bucht, die mit ihren verschiedenen sich teilweise tief in die Felsenwildnis hineinerstreckenden Armen wie geschaffen für einen Seeräuberschlupfwinkel [160] schien. In einem dieser Arme lag mit gerefften Segeln vor seinen beiden Ankern ein Schiff, das am Bug in Goldbuchstaben den Namen „Paris“ trug, völlig verlassen, aber ganz unversehrt. Auch die Ladung, die aus Kisten mit Goldkörnern und Fellen bestand, schien unangetastet. Dagegen stellte Doktor Maesters bei genauer Untersuchung fest, daß die Küche noch vor nicht allzu langer Zeit benützt worden sein mußte. Speisereste in einem Kochtopf und zwei Schüsseln, sowie ein Häufchen wenig vertrockneter Kartoffelschalen wiesen darauf hin. Außerdem hatte die Kajüte des Kapitäns unzweifelhaft bis vor kurzem einem Menschen zum Aufenthalt gedient, und die Jolle war nicht an Bord, sondern fand sich später an einer flachen, sandigen Stelle des Buchtarmes; sie hatte also dem oder den rätselhaften Bewohnern der Brigg zum Verkehr mit dem Lande gedient.
Diesen Tatbestand meldete die „Wilhelminje“ nach Newcastle, da von hier aus die „Paris“ den Schiffspapieren zufolge ihre letzte Reise angetreten hatte. Daraufhin entsandte die gleichfalls benachrichtigte französische Regierung – die Brigg war ja unter französischer Flagge gesegelt – ein Kriegschiff nach der Insel Selaroe und ließ die genauesten Nachforschungen anstellen. Die Brigg wurde nach Sydney gebracht und von der Versicherungsgesellschaft sofort mit Beschlag belegt. Nach längeren Verhandlungen wurden der Witwe Eduard Mellins gegen 150 000 Mark ausgezahlt, der Rest des Erlöses aus dem Verkauf von Schiff und Ladung, der nach Rückzahlung der Versicherungssumme nebst Zinsen an die Britannia noch übrig blieb.
Für die Erklärung des Geheimnisses der Brigg ist man einzig auf die Vermutungen eines findigen Londoner [161] Polizeibeamten angewiesen, der seine Schlußfolgerungen hauptsächlich auf drei einwandfrei erwiesene Tatsachen aufbaute. Erstens darauf, daß die Firma Mellin & Co. im Jahre 1878 dicht vor dem Zusammenbruch stand, als sie die Brigg für das Unternehmen in Gold und Fellen charterte; ferner, daß Thomas Burkins, der zugleich mit der Besatzung der „Paris“ verschwundene Teilhaber der Firma, in jungen Jahren in einer holländischen Niederlassung auf der Insel Jamdena beschäftigt gewesen war und die Buchten der benachbarten Insel Selaroe von Jagdausflügen her gut gekannt hatte; schließlich besonders darauf, daß Eduard Mellin sich auffallenderweise genau zwei Tage später entleibte, nachdem die Zeitungen in London die erste Nachricht über die Entdeckung des verloren geglaubten Schiffes gebracht hatten.
Hieraus und aus den Ergebnissen der Untersuchung des wiederaufgefundenen Schiffes schloß der Polizeibeamte auf folgenden Sachverhalt: Die „Paris“ war von den beiden Teilhabern, die den unvermeidlichen Zusammenbruch ihres Geschäftes voraussahen, von vornherein nur zu dem Zwecke gechartert worden, um die Gesellschaft Britannia um die Versicherungssumme zu betrügen. Nachdem die Brigg die Nordspitze von Australien umfahren hatte, mußte Burkins den Kapitän dazu gebracht haben, vom geraden Kurse abzuweichen, nördlich auf die Insel Selaroe zuzusteuern und in die einsame Bucht einzulaufen, die Burkins sicherlich von früher her kannte und die bei dem ganzen Plane gerade ihrer verborgenen Lage wegen eine besondere Rolle spielen sollte. In jener weltabgeschiedenen Bucht war dann die gesamte Besatzung der Brigg von Burkins – [162] vielleicht durch Gift, das den Speisen oder Getränken beigemengt wurde – beiseite geschafft worden. Die Körper der Ermordeten für immer verschwinden zu lassen, war leicht, da der Verbrecher sie nur in einem anderen Arme des natürlichen Hafens mit Steinen beschwert zu versenken brauchte. Burkins hatte darauf die drei Jahre über von dem reichlichen Proviant des Schiffes gelebt und seinen Schlupfwinkel fraglos nie verlassen. Erst als die Pinasse des holländischen Vermessungsdampfers in der Bucht erschien, floh er, eine Entdeckung befürchtend, in das Innere der Insel. Ob er hier umgekommen ist oder sich nachher noch anderswo unter falschem Namen aufgehalten, und wie er geendet hat, läßt sich nicht sagen.
Jedenfalls hatte man es der Jagdexpedition des holländischen Schiffsarztes Doktor Maesters zu danken, daß das Vorhaben der beiden gefährlichen Betrüger, nach Ablauf einiger Jahre die kostbare Ladung der Brigg auf irgend eine Weise in kultivierte Gegenden zu schaffen und zu verkaufen, wobei sie über eine Million gewonnen hätten, vereitelt wurde.
Noch viel merkwürdiger ist folgende Seegeschichte. Am 16. September 1872 ging die amerikanische Brigg „Marie Celeste“ von New York mit einer Ladung Weizen, der für eine Firma in Genua bestimmt war, in See. Die Besatzung bestand aus elf Köpfen. Außerdem war noch die Frau des Kapitäns Griggs und dessen achtjähriges Töchterchen an Bord. Das Schiff erreichte Genua nicht, wo es spätestens Anfang November hätte eintreffen müssen. Am 18. Dezember begegnete die englische Bark „Dei Gratia“ im Atlantischen Ozean einem Schiff, das mit halb gerefften Segeln steuerlos dahin trieb. Der Kapitän der „Dei Gratia“, dem die [163] Sache verdächtig erschien, fuhr in einem Boot zu dem fremden Fahrzeug hinüber, an dessen Bordwand beim Näherkommen der Name „Marie Celeste“ zu lesen war. Das Schiff war gänzlich verlassen, sonst aber in Ordnung und reichlich mit Lebensmitteln versehen. Bei eingehender Untersuchung merkte man, daß die Besatzung aus irgendwelchen unerfindlichen Gründen gerade während des Frühstücks auf und davon gegangen sein mußte, und zwar offenbar in wildester Hast, da die Leute nichts von ihren Habseligkeiten, nicht einmal ihre Ersparnisse mitgenommen hatten und sich in der Kapitänskajüte noch sämtliche Schiffspapiere sowie eine große Summe Bargeld vorfanden. Das sonderbarste aber war, daß von den Booten der „Marie Celeste“ nicht eines fehlte. Es blieb vollkommen rätselhaft, auf welchem Wege die Besatzung das Fahrzeug verlassen haben konnte, das, nach den letzten Eintragungen im Loggbuch zu schließen, bereits zehn Tage lang führerlos trieb.
Der Kapitän der „Dei Gratia“ brachte die „Marie Celeste“ nach Gibraltar, meldete die Sache dem englischen Hafenamt und erhielt für die Bergung der Brigg von deren Eigentümer später den vorschriftsmäßigen Bergelohn ausgezahlt. Alle Nachforschungen nach dem Verbleib der dreizehn Personen, die damals mit der „Marie Celeste“ die Ausreise von New York angetreten hatten, waren erfolglos, so sehr sich auch die englische Regierung jahrelang mühte, so eifrig auch in anderen Ländern an der Aufklärung dieses mehr als merkwürdigen Vorfalles gearbeitet wurde. Schließlich geriet aber auch die „Marie Celeste“ in Vergessenheit. Erst nach mehr denn zehn Jahren ist das Rätsel gelöst worden, und zwar auf eine ebenfalls nicht gerade alltägliche Weise.
Im Frühjahr 1913 hatte die vielverbreitete Londoner [164] Monatschrift „Strand Magazine“ den Fall der „Marie Celeste“ ihren Lesern ausführlich in Erinnerung gebracht und zur Einsendung von Deutungsversuchen aufgefordert, von denen die besten preisgekrönt und veröffentlicht wenden sollten. So kam es, daß auch von namhaften englischen Schriftstellern in mehreren Nummern der genannten Zeitschrift eine Anzahl von Aufsätzen erschien, die in äußerst scharfsinniger Weise das Geheimnis aufzuklären trachteten. Ein Rektor besann sich nun beim Lesen dieser Abhandlungen auf einen seiner früheren Schuldiener, einen ehemaligen Seemann namens Abel Fosdyk, der damals sehr zurückgezogen lebte und mit niemandem verkehrte. Nur dem Rektor Linford gegenüber war er zuweilen aus seiner Verschlossenheit herausgetreten und hatte dann unverständliche Andeutungen gemacht, die stets ungefähr dahin lauteten, daß nach seinem Tode das Geheimnis der „Marie Celeste“ enthüllt werden würde. Kurz vor dem Tode hatte Fosdyk seinem Vorgesetzten ein Bündel Papiere ausgehändigt, wobei er in seiner wortkargen Art nur erklärte: „Es wird gut sein, wenn sie das sorgfältig aufbewahren.“ Nachdem der alte Mann wenige Stunden darauf verstorben war, hatte der Rektor die Papiere ungelesen in ein Fach seines Schrankes gepackt, da er annahm, daß es sich um eine frühere Liebesgeschichte des Toten handelte, bei der eine Marie Celeste eine Rolle gespielt hätte.
Jetzt tauchte in der Erinnerung Linfords das Bild jener Szene auf, und er suchte die alten Blätter wieder hervor und las zu seinem nicht geringen Erstaunen gleich auf der zweiten Seite: „Die Geschichte der Katastrophe auf der New Yorker Brigg ‚Marie Celeste‘ vom 8. Dezember 1872.“ Tatsächlich folgte eine Schilderung [165] jener Katastrophe, der Fosdyk als einziger Überlebender entgangen war, und zwar eine Schilderung, die einmal den Eindruck vollster Wahrheit machte, dann aber auch zeigte, wie weit all die Deutungsversuche aus dem Leserkreise des „Strand Magazine“ danebengetroffen hatten. Rektor Linford erhielt von der Zeitschrift für die Aufzeichnungen Fosdyks ein glänzendes Honorar und wurde so für die dem alten Schuldiener bezeigte Güte reichlich belohnt.
Fosdyks sehr weitschweifiger Bericht sei hier in gedrängter Form wiedergegeben. Die „Marie Celeste“ war ein vorzüglich gebautes Schiff, wie man es selten findet. Unsere Reise war anfangs vom Glück begünstigt, dann aber machten wir den ersten Sturm durch, der vier Tage anhielt. Der Kapitän kam Tag und Nacht nicht aus den Kleidern heraus, obgleich seine Frau und der Steuermann ihn drängten, sich doch etwas Ruhe zu gönnen. Nach ein paar besseren Tagen gerieten wir in ein neues Unwetter hinein, das anscheinend gar nicht aufhören wollte. Hohe See, Sturm und Regen, so ging es fast einen Monat lang. Noch niemand von uns hatte so etwas erlebt. Das Schiff hielt sich tadellos, aber unseren Nerven wurde dabei böse mitgespielt. Besonders der Kapitän machte uns immer größere Sorge. Er gönnte sich kaum eine Stunde Schlaf und geriet schließlich in einen solchen Zustand von Gereiztheit, daß wir ihm ängstlich aus dem Wege gingen.
Wir waren in dieser Zeit so gut wie gar nicht vorwärts gekommen, hatten uns vielmehr, immer mit dem Sturme laufend, beständig im Kreise gedreht. Endlich änderte sich das schlechte Wetter, es gab wieder Sonnenschein und ruhige See. Eines Tages kam ich beim Steuerrad vorbei, das der Kapitän gerade selbst bediente. [166] In diesem Augenblick schrie er, mit weit aufgerissenen Augen nach vorne weisend: „Um des Himmels willen!“
Auf dem Bugspriet stand sein Töchterchen, ein blasses, zartes Kind von sieben bis acht Jahren, das wir alle „Baby“ nannten, und mit dem ich besonders gut Freund geworden war, und balancierte hoch über der See mit ausgestreckten Armen auf dem schrägen Mast. Schnell sprang ich zum Bugspriet, kletterte leise hinterher, packte die Kleine und zog sie auf Deck, wo sie ganz ruhig erzählte, daß sie das schon öfters gemacht hätte. Der jähe Schreck des Vaters ging nun in einen nervösen Wutausbruch über, und obgleich der Kapitän das Kind sehr liebte, schlug er es so heftig, daß es laut weinend unter Deck flüchtete. Der Vorfall ist deshalb von Bedeutung, weil er den Anlaß zu einer Einrichtung gab, die uns später alle ins Verderben stürzte. Um nämlich ähnlichen Kletterübungen des Mädchens vorzubeugen, ließ der Kapitän vom Schiffszimmermann eine Art Plattform bauen, deren Boden aus mehreren Brettern bestand, während Leinwand und Stricke die Seitenwände bildeten. Diese Plattform, die wie eine Kommandobrücke aussah, und die wir „Babys Quarterdeck“ nannten, wurde vor dem Bugspriet quer über die hier spitz zusammenlaufenden Schiffsborde befestigt, so daß sie an jeder Seite ein gutes Stück hinausragte. Das Mädchen konnte sich auf diesem seinem Verdeck in Sicherheit bewegen.
Nach vierzehn Tagen ziemlich windstillen Wetters ging der wilde Tanz der Elemente abermals los, schlimmer noch als je zuvor auf dieser Unglücksreise. Wieder kam der Kapitän beinahe eine Woche lang nicht in die Kajüte, und dieser Mangel an Schlaf gab seinem schon halb zerrütteten Nervensystem den Rest. Er machte [167] fast den Eindruck eines Wahnsinnigen, und eigentlich hätte er keine fünf Minuten länger das Kommando führen dürfen. Als der Steuermann einmal am Ruder stand, gesellte sich der Kapitän zu ihm und fing an wie ein kleines Kind zu weinen. Er hatte es sich in den Kopf gesetzt, daß ihm und seiner Familie, uns allen und dem Schiff das schwerste Unheil bevorstand. Zum Glück besaßen wir in dem Steuermann einen zuverlässigen Führer, der mit der Navigation vollkommen Bescheid wußte. Wir befanden uns jetzt nördlich von Madeira, und nach einer ruhigen Nacht, in der ich einen wundervollen Sternschnuppenfall beobachtete, kamen wir wieder in glatte See und schönes, warmes Wetter hinein.
Zwei Tage später ereignete sich das Unglück. Ich stieg gegen acht Uhr morgens an Deck, gerade zur Zeit, als im Volkslogis das Frühstück aufgetragen wurde. Da hörte ich den Kapitän mit dem Steuermann zanken. Dieser suchte ihn zu beruhigen, aber der Kapitän redete sich immer mehr in Zorn hinein und versteifte sich dabei, offenbar im Anschluß an ein vorher geführtes Gespräch, auf die Behauptung, daß ein tüchtiger Seemann auch in voller Kleidung längere Zeit schwimmen könnte. Obwohl der Steuermann vorsichtigerweise nicht widersprach, tat der immer wilder werdende Kapitän, als ob man ihm den größten Widerspruch entgegensetzte, und erbot sich schließlich, sofort den Beweis zu liefern, daß er mit allen Sachen in fünf Minuten um das Schiff herumschwimmen würde.
Seine laute, gereizte Stimme lockte auch das Kind und die Frau an Deck. Diese beschwor ihn flehentlich, von seinem Vorhaben abzustehen. Aber gerade der Widerstand bestärkte den kranken Mann nur ich seinem [168] Eigensinn, und er traf Anstalten, sich von Babys Quarterdeck aus ins Wasser hinabzulassen. Inzwischen war die Mannschaft von ihrem Frühstück aufgesprungen und gesellte sich in banger Erwartung des Kommenden zu uns auf die Plattform. Der Kapitän stieg an einem Seil ins Wasser hinab und begann mit kräftigen Stößen seinen Weg um die Brigg. Wir alle drängten uns unwillkürlich auf der linken überhängenden Seite von Babys Quarterdeck zusammen, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren; – ein gellender Schrei, die nur mangelhaft befestigte Plattform gab unter der Last von zwölf Menschen nach und kippte mit uns über Bord.
Ich den Wogen begann ein wilder Kampf. Wir waren alle dicht nebeneinander ins Wasser gefallen und bildeten einen einzigen Knäuel verzweifelt sich aneinander anklammernder Körper. Endlich gelang es mir, mich freizumachen. In demselben Augenblick bemerkte ich zu meinem Entsetzen die Rückenflossen von drei Haifischen, die Beute witternd herbeischossen. Mit letzter Kraft schwamm ich der Plattform zu, die nicht weit von mir auf dem Wasser trieb, und schwang mich hinauf. Dann muß ich ohnmächtig geworden sein. Als ich wieder erwachte, war die „Marie Celeste“ von der leichten Brise Hunderte von Metern vorwärts bewegt worden, sie zu erreichen daher unmöglich. Von meinen Gefährten sah ich nichts mehr. Ich war allein auf der weiten Wasserwüste. Erst eine Woche später begegneten Fischer der Kanarischen Inseln zufällig meinem zerbrechlichen Floß, auf dem sie einen im Fieberwahn tobenden Menschen fanden. Meine kräftige Natur ließ mich die Krankheit überstehen, aber die ausgestandenen Schrecken hatten auf meinen Geist derart eingewirkt, daß ich jede Erinnerung, die [169] mit dieser letzten Reise zusammenhing, verloren hatte. Keine der Fragen, die meine menschenfreundlichen Retter an mich richteten, vermochte ich zu beantworten.
Nachdem ich wiederhergestellt war, blieb ich noch zwei Jahre in dem Fischerdorfe und half meinen Gastgebern beim Fischfang. Dann kehrte ich nach England zurück und bemühte mich um eine Anstellung auf dem Lande; der Seefahrerberuf war mir verleidet. Ich erhielt die Stelle als Schuldiener bei Mister Linford, die ich noch heute bekleide. Infolge des ruhigen Lebens, das ich jetzt führe, hat sich mein Geist wieder so weit erholt, daß mir auch allmählich die Erinnerung an jene Unglücksfahrt mit allen Einzelheiten wiedergekehrt ist. Inzwischen bin ich ein alter Mann geworden, der nichts so sehr liebt als sein stilles, kleines Gärtchen. Würde ich jetzt nach zwanzig Jahren mit dem, was ich über das Geheimnis der „Marie Celeste“ weiß, an die Öffentlichkeit treten, so wäre es wohl für lange Zeit mit meiner friedlichen Ruhe dahin. Ob die Welt ein Dutzend Jahre früher oder später die Wahrheit erfährt, bleibt sich gleich. Denn länger werde ich wohl kaum noch zu leben haben. Und nach meinem Tode mag mein Wohltäter Rektor Linford von diesen meinen wahrheitsgetreuen Aufzeichnungen den Gebrauch machen, der ihm am richtigsten dünkt.