Gegenwart und Zukunft
Mit Waffenklirren und mit Völkerstreit
Und Ränkespiel erfüllen sie die Zeit,
Mit stetem Hader um des Nachbars Habe,
Und jeder wähnt, daß, wenn er einst entschlief,
Mit ehr’nem Griffel seinen Namen grabe.
Ein bittres Lächeln nur – die Lebensbahn
Der Stolzen führt in Nebel und Vergessen.
Kann sie nicht schützen, denn wie sind sie klein,
Wenn man an wahrhaft Großem sie gemessen!
Nein, die Geschichte hält beim Lebenslauf,
Bei den Intriguen derer sich nicht auf,
Doch stützt die Stirn sie lange in die Hand
Wenn sie verzeichnet, daß in jedem Land
An einem Tag der Arbeit Volk gefeiert.
Vor solchem Schauspiel macht sie sinnend Halt;
Und zu verstehen es, ist ihr Bestreben.
Sie fragt: Und mußte der Gesellschaft Bau,
Der morsch geworden längst und altersgrau
Nicht ahnungsvoll in allen Fugen beben?
Ein dumpfes Schüttern und Erbeben lief
Vom Grund zum Dach durch’s bröckelnde Gemäuer;
Jawohl, die Wissenden in der Gewalt
Hat es durchschauert ahnungsvoll und kalt
Wohl war es stolze, ungewohnte Schau!
Die Lande alle zwischen Trent und Drau,
Was zwischen Ebro liegt und den Fjorden,
Und ganz Europa war ein Reich geworden.
Der Haß ist nicht die Mauer, die er scheint,
Wenn lang Verfeindete in Frieden eint
Ein Hochgefühl, ein führender Gedanke,
Und brüderlich die Hand dem Pommer reicht
Von der Garonne Weingeländ’ der Franke.
Und der Gedanke, der sie all’ erfaßt:
„Acht Stunden Arbeitszeit, acht Stunden Rast,
Er mag euch noch so sehr zuwider sein –
Ihr lullt und schläfert nie ihn wieder ein,
Und diesen Riß wird keine Kunst verkleben.
Und ob’s euch grimmen und verdrießen mag –
Bis ihr erfüllt, was unser Recht auf Erden;
Bis ihr der Pflicht der Menschlichkeit genügt,
Bis ihr euch dieser Forderung gefügt,
Wird sie gestellt vor ganz Europa werden.
Von Fels zu Fels zuletzt, von Meer zu Meer,
Was wir erbitten nicht, was wir verlangen,
Und athmet auf das seufzende Geschlecht,
Dann wird in tiefem Dankgefühl erst recht
Anmerkungen (Wikisource)
Ebenfalls abgedruckt in:
- "Der Wahre Jacob" Nr.124 S.993 (1891)
- Lavant, Rudolf (d. i. Richard Cramer): Gedichte. Hrsg. v. Hans Uhlig. Berlin, Akademie Verlag 1965 (Seite 55).