Friede auf Erden
Friede auf Erden.
Mit Illustrationen von Fritz Bergen.
„Es ist doch die reine Ironie, daß man in einer solchen Sache zwei Tage vor Weihnachten Termin ansetzt,“ sagte er, den Mund zu einem bitteren Lächeln verziehend.
Der Rechtsanwalt zuckte die Achseln. „Vielleicht wär’s gar nicht unpraktisch, immer die vorletzten Termine auf diese Zeit hinauszuschieben und grundsätzlich die Scheidungen kurz nach Weihnachten auszusprechen. Um Weihnachten ist am Ende jeder ein bißchen Stimmungsmensch, da hält das letzte Restchen von Versöhnlichkeit Feiertag.“
„Sie sehen ja, daß in meinem Fall Hopfen und Malz verloren ist. Schließlich – ich danke Gott, daß die Vorfragen endlich glatt erledigt sind und die aufregende Zeit ein Ende nehmen soll. Sie sind sicher, daß die Scheidung im Februartermin endlich vollzogen werden wird?“
„Ich habe mit Rosenthal privatim noch gesprochen – danach muß ich bestimmt annehmen, daß nichts im Wege steht.“
„Nun also – dann will ich Sie nicht weiter aufhalten …“
Er reichte dem Anwalt die Hand.
„Ich bin Ihnen herzlich dankbar, daß Sie sich soviel Mühe bezüglich des heiklen Punktes gemacht haben; es wäre mir doch schwer geworden, die Summe aus dem Geschäft zu ziehen …“
„Das ist wirklich nicht so sehr mein Verdienst, wie Sie denken,“ sagte der Anwalt, ihm die Hand schüttelnd. „Ich habe ihr ja, ziemlich dick aufgetragen, vorgerechnet, wie lange sich die Sache andernfalls hinziehen würde: die Hauptsache war, daß Rosenthal vernünftig genug war, uns nicht entgegenzuarbeiten und daß ich Ihre Frau Gemahlin gerade in so rabiater Stimmung traf. Hören Sie – eine interessante Person ist sie, ich kann mir nicht helfen! Aber einen festen Willen hätten Sie ihr wohl zeigen müssen, um … Pardon, wenn ich das sage …“
„O bitte, das habe ich gerade versucht – den Effekt sehen Sie. Als Geschäftsmann, mit dem Kopf voll Sorgen, kann man freilich nicht ganze Arbeit machen. Na – vielleicht kommt sie noch einmal in die richtigen Hände, ich will Gott danken, wenn ich erst den gesicherten Frieden im Hause habe. Leben Sie wohl, Herr Doktor! Ich will noch ein paar Besorgungen für meine Kinderchen machen.“ Er verließ, von dem Rechtsanwalt bis in das Bureau begleitet, das Sprechzimmer.
Er war Kaufmann; in einem der Villenvororte Berlins wohnte er, in der Hauptstadt hatte er ein Importgeschäft für Baumaterial. Ein stattlicher Mann, schlank, bärtig bis auf das ausrasierte Kinn, brünett wie ein Choleriker und mit einem Gesicht, welches auf Zähigkeit, um nicht zu sagen, Eigensinn schließen läßt, dem Alter nach ein ausgehender Dreißiger.
Als er auf die Taubenstraße hinaustrat, knöpfte er den Ueberrock fester zu, denn es gab da ein tolles Schneetreiben in dem weihnachtlich zeitigen Abenddunkel, daß die lichtspendenden Gasflammen, unfähig, ihres Amtes zu walten, sich in einen Nebel verkrochen. Er patschte, halb getrieben vom Winde, über das schlüpfrige Pflaster, erreichte endlich die Charlottenstraße – dort war’s nicht besser. „Natürlich“, murmelte er aus seiner verbitterten Stimmung heraus, „es mußte ja so kommen, ich habe ja den Schirm zu Hause gelassen …“ Die Lust, jetzt bis in die Leipziger Straße zu gehen und dort einzukaufen, verging ihm bis zur Mohrenstraße – er erinnerte sich plötzlich einer Weinstube, dort muß sie liegen, ein paar Häuser hin …. Und er arbeitet sich mühsam bis dahin durch und atmet erst auf, als er im Hausflur den Schnee abklopft.
Die Stube ist leer bis auf drei Stammgäste, die bei dem Wirt sitzen, und einen einzelnen Herrn in einer Ecke, bei dem ein Kellner soeben eine Flasche entkorkt. Es ist eins jener kleinen primitiv ausgestatteten und mäßig beleuchteten Lokale, die von Kennern aufgesucht werden, weil sie die Hauptsache dort finden: gut behandelte Weine zu mäßigen Preisen. Der Wirt erhebt sich zu einer flüchtigen Verbeugung, der Kellner schielt beiseite und schneidet ein Gesicht bis der Pfropf knallt. Jetzt giebt er den Blick auf den Empfänger der Flasche frei, und der eben eingetretene Gast stößt einen Laut der Ueberraschung aus.
„Felix,“ sagt er halblaut und geht auf ihn zu. „Was machst du Weihnachten in Europa?“
„Teufel, alter Sohn, das trifft sich ja großartig! Ich habe wahrhaftig in den paar Tage meines Hierseins schon soviel Zufälle wie diesen erlebt, daß ich beinahe glaube, in Berlin ist der Zufall jetzt Regel geworden.“
Sie betrachten einander und drücken sich die Hände, zwei Jugendfreude, die für gewöhnlich der Atlantische Ocean trennt.
„Ich mußte Knall und Fall herüber, um eine ganz faule Sache genauer zu untersuchen, ehe es für uns zu spät ist. Ich erzähle dir gelegentlich mal davon. Natürlich ist das meiner alten Mutter sehr angenehm. Ich wäre schon bei dir gewesen, aber – bei dir sieht’s ja traurig aus … hör’ mal, was sind das für Geschichten … meine Mutter, die davon gehört hat, schrieb mir drüber … Näheres wußte sie ja auch nicht … Kellner, noch ein Glas und eine zweite Flasche in Bereitschaft!“
„Ich komme eben von meinem Anwalt“, sagte der andere melancholisch. „Es wird ja bald ausgestanden sein“.
„Komm, setz’ dich mal her!“ Der Freund warf einen Blick nach dem besetzten Tische hin und sprach dann gedämpft weiter: „Also wahrhaftig, du liegst mit deiner Frau in Scheidung?“ Der andere nickte.
„Herrgott, vor zwei Jahren noch kein Gedanke dran…
„Sag’ bloß, wie ist das gekommen? Dummheiten gemacht? Deine Frau etwa – hm? Ich denke immer, ihr lebt in schönster Harmonie … hast du denn die beiden Jungen noch?“
„Ja, Gott sei Dank … und doch wieder, wenn ich sie ansehe … keine Mutter … jetzt zu Weihnachten … “
„Wo steckt denn deine Frau?“
„Hier, in Berlin. Sie hat sich mit dem Geld, worüber sie von ihrem Vermögen verfügen konnte, eine Etage eingerichtet und vermietet so lange, bis wir geschieden sein werden; dann hat sie es ja nicht mehr nötig.“
„Hm, sie war ja sehr vermögend von Haus aus. Aber mir ist die ganze Sache vorläufig noch vollständig schleierhaft!“
Der Kellner bringt das Glas.
[829] „Na, anstoßen wollen wir, Prosit!“ nickt der Amerikaner. „Du armer Teufel … reitet dich die Scheidung nicht pekuniär ein bißchen hinein, oder bist du geschäftlich schon so weit, daß du ihr Eingebrachtes liegen hast?“
„Sie geht drauf ein, mir einen Teil noch zu lassen. Im nächsten Jahre stoße ich’s vielleicht schon ab. Ach …“ Der traurige Mann preßt den Kopf in die Hand, „ihr Geld hat mir ja Gewinn gebracht, aber keinen Segen!“
Der Freund, dessen klugem, jovialem Gesicht die teilnehmende Leichenbittermiene wie eine Maske steht, gönnt ihm eine Pause bis der andere sich mit energischer Bewegung aufrafft.
„Raus man – was ist passiert? Scheidungsgrund – Fragezeichen!“
„Böswillige Verlassung … ganz einfach, wir haben uns verloren.“
„Das ist alles? Das heißt also, ihr habt euch so lange gekabbelt, bis sie rabiat geworden und dir durchgebrannt ist! Mein lieber Franz, nimm mir’s nicht übel, wenn die Sache so liegt dann seid ihr alle beide schuld!“ Er zog ein Etui und öffnete es. „Willst du rauchen?“ – „Danke,“ sagte der andere … „ich habe …“ Sie tauschten aus und zündeten die Cigarren an.
Dann tranken sie wieder.
„Wenn nur ein Teil in der Ehe die Geschichte richtig anfängt, so kann es zu solchem Krach nicht kommen! Deine Frau ist ja immer ein bißchen forsch gewesen – den Eindruck habe ich gleich von ihr gehabt … aber du …?“
Er schüttelt den Kopf. Der andre pafft hastig.
„Es mag sein … es wäre ja wohl zu verhindern gewesen. Aber dann war ich unterm Schlitten, Felix! Ich bin auch eigensinnig, ich weiß es. Doch was meine Frau mir zuletzt geboten hat, das hält kein Mann aus, der Schamgefühl im Leibe hat …“
„Um die letzte Zeit handelt es sich gar nicht, alter Sohn vorher, vorher! Eine Verbitterung, die ihr Heil nur in einer Scheidung sieht, kommt nicht von heute auf morgen, die ist immer das Ende eines langen Guerillakriegs. Ihr habt euch das so sacht herangeärgert, anders ist’s gar nicht möglich!“
Der andere spielte mit dem Fuß seines Glases und blickte tiefsinnig vor sich hin. „Das ganze Unglück kam davon, daß ich eine vermögende Frau geheiratet habe. Wahrhaftig nicht des Geldes wegen – du kennst sie, diese Frau nimmt einer wohl ohne Auskunftsbureau! Aber ich hatte nichts als eine leidliche Stellung. Das gab von vornherein eine schiefe Lage. Sie war verwöhnt, Temperament hat sie reichlich – was sie wollte, ich mußte mit! Das hätte ich mir ja gefallen lassen, aber die Art, wie sie das selbstverständlich fand! – Du hättest es so wenig ausgehalten wie ich …“
„Ich? Ich hätte sie ausgelacht.“
„Hm – du … es mag sein, daß ich nicht genug Humor habe. Und das Geschäft, das ich mit ihrem Gelde gründete, machte mir in der ersten Zeit den Kopf gehörig warm. Ich hatte immer ein katzenjämmerliches Gefühl, daß es ihr Geld war, was ich riskierte, erzählte ihr vom Geschäft …“
„Das war eine große Dummheit. Nur mit Frauen nicht vom Geschäft sprechen! Die haben keine Courage.“
„Ja so – sie fing an, sich drein zu mengen … was soll ich dir lang und breit erzählen, die Geschichte ist verpfuscht. Mir thun bloß meine armen Jungen leid.“
„Wie alt sind sie denn jetzt?“
„Vier und zwei einhalb.“
„Wen hast du denn bei ihnen?“
„Für jetzt ein tüchtiges Mädchen. Ich werde ja schließlich mich nach einer Gesellschafterin umsehen müssen. Man schiebt eben so etwas hinaus, kann sich so rasch nicht in den Gedanken finden, daß das Alte zerbrochen ist, daß man sich anders einrichten muß!“
„Wie lange ist denn deine Frau weg von dir?“
„Ein halbes Jahr etwa.“
„Doch schon? So lange wär’s her, daß ich keinen Brief von dir bekommen? Wahrhaftig, es kann sein, der letzte wurde mir nach Chicago nachgeschickt, wenn ich mich recht erinnere …“
Diese ganzen Auseinandersetzungen waren geflüstert worden, während sich das vierblättrige Kleeblatt drüben ohne viel Aufwand an Temperament, wie Leute, die hier zu Hause sind, unterhalten hatte. Jetzt sah der bedrückte Ehemann nach der Uhr: „Ich muß gehn, Felix, hoffentlich hat das Wetter nachgelassen. Ich kam nur herein, um Zuflucht zu suchen, habe keinen Schirm mit. Kommst du die Feiertage mal herüber zu mir? Es wäre nett, würde mir ein bißchen über die traurigen Gedanken weghelfen.“ Er stand auf.
„Natürlich, alter Sohn, ganz gern.“
Der Kellner eilte herbei. Der andere zahlte, ließ sich in den Ueberrock helfen: „Auf Wiedersehn, also. Grüß deine Mutter!“
Der Wirt erhob sich wieder zu der stereotypen Verbeugung, die drei Stammgäste schielten …
Nun war er draußen, das Schneetreiben hatte fast ganz nachgelassen. Er ging in die Leipziger Straße einkaufen.
Eine hübsche, nicht große Villa in einem verschneiten Garten. Eine Laterne am Gittereingang wirft das notdürftigste Licht. Der Himmel ist stichdunkel. In der Wohnstube sitzt ein älteres Mädchen am Fenster. „Is will sehn!“ ruft ein kleiner Kerl im Sammetkittel sehr energisch und zieht das Mädchen am Rock, und immer wieder mit dem Eigensinn der Jugend: „Is will sehn! Is will sehn, Hedwis!“ Er ist blond und rosig.
„Du bist dumm, Maxi,“ spricht es aus einem Fauteuil, dort sitzt der ältere Bruder, lässig zurückgelegt, die Aermchen rechts und links auf den Lehnen, schmal und brünett im Gesicht wie der Vater. „Es hat noch nicht gepfiffen; wenn er kommt, pfeift er auf der Erbsenpfeife, hat er gesagt, und was er gesagt hat, ist wahr.“
„Siehst du, Edi ist viel artiger als du,“ spricht das Mädchen. „Der Weihnachtsmann hört alles.“
„Is bin auch artig,“ sagt der Kleine nach kurzem Bedenken.
Das Mädchen setzt sich gelangweilt auf einen Stuhl. „Edi, du sollst nicht immer mit den Füßen an den Stuhl schlagen!“
Der sieht nachdenklich aus. „Hedwig,“ sagt er, statt zu reagieren, „ich glaube, gestern habe ich den Weihnachtsmann gesehn.“
„So? Wo denn?“ Sie nimmt Maxi auf den Schoß. „Hat der Weihnachtsmann eine rote Mütze auf, wie ein Dienstmann?“
„Bewahre, eine Pelzmütze.“
Edi besinnt sich. „Dann ist es doch vielleicht bloß ein Dienstmann gewesen …“
Ein schrillender Pfiff draußen, die Kinder werden plötzlich lebendig, Maxi zappelt vom Schoß hinab, Edi rutscht aus dem Sessel. „Papa – Papa … wird jetzt beschert, Hedwig?“
Sie stehen beide dicht an der Thür, der Kleine schlägt mit den Fäusten dagegen. „Ja ja, gleich …“ Draußen stapft es in dem Hausflur, stapft an der Thür vorbei, öffnet nebenan eine Thür. „Hier setzen Sie ab … So, da haben Sie … Und nun erst kommt es zur Thür, wo die Kinder warten, und öffnet. Edi späht rasch hinaus, während sich der Vater erst zu dem Kleinen bückt, ihn aufhebt und küßt.
[830] „Mein kleiner Junge, mein süßer kleiner Junge …“ Er setzt ihn nieder und nimmt den andern auf. Seine Augen sind feucht. Ein bitterer Gedanke zuckt ihm durch den Sinn: „Tiere geben ihre Jungen nur ums Leben von sich … und ihr …“
„Papa, war das etwa der Weihnachtsmann, der bei dir war?“ fragt da Edi.
„Freilich.“
„Er hat doch eine rote Dienstmannsmütze auf, Hedwig, keine Pelzmütze,“ sagt der kleine Mann triumphierend. „Haben die Kinder gegessen?“
„Ja, Herr Binder.“
„Dann sollen sie jetzt beschert bekommen. Mir bringen Sie nachher ein paar Butterbrote und eine Flasche Bier ins Zimmer, jetzt bleiben Sie noch eine Weile bei den Kindern. Also wartet recht artig, erst singen die Engel, dann klingelt’s …“
Er nickt und geht wieder in den Hausflur, in die Weihnachtsstube, den Salon mit dem großen roten Smyrnateppich und der lustigen Rokokoeinrichtung, dem hübschen Vielerlei, in dem – sie! ihren launenvollen Geschmack aufgegeben … mit der Fensternische, wie geschaffen, um den Christbaum aufzunehmen.
Da steht der verlassene Mann, die
Hände gefaltet, blickt düster vor sich ins Weite, den Mund von Bitterkeit geschürzt – eine stumme Predigt an eine ferne Adresse und nun schlägt er die Hände vors Gesicht und preßt sie auf der Stirn fest zusammen …
Er ist fertig damit, nimmt Zündhölzer und zündet die Baumlichter an, die Lichter um die Deckenlampe mit dem blitzenden Prismenbehang, die Wandlüster, es giebt da zwei kleine Tische, allerlei schon drauf … er verteilt, was er in der Leipzigerstraße in letzter Stunde erstanden. Auf den über Seite gestellten Haupttisch kommt allerlei für das Mädchen.
Er geht leer aus. Wie anders einst …
Er schüttelt den Gedanken ab, setzt sich an ein Harmonium, schlägt den Deckel auf und spielt, ein Weihnachtslied, leise, ganz leise … vor ihm taucht der uralte Weihnachtsgruß auf: Ehre sei Gott in der Höhe, Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen …
Friede auf Erden! … Streit, Haß, Unfrieden, zerbrochenes Glück … o, wie er sie geliebt hat, angebetet …
In seinem ganzen Gesicht zuckt es. Er springt auf, greift zu einer Tischglocke.
„Meine Jungen,“ sagt er halb schluchzend, als sie zaghaft, mit den weitgeöffneten Kinderaugen, hereintappeln, nimmt sie auf, küßt sie, einen nach dem andern, trägt jedes zu seinem Anteil. Sie sehen ihn verwundert an, nur einen Augenblick, dann ist alles Interesse von den Herrlichkeiten da verschlungen.
Das Mädchen bedankt sich, beklommen, geht es hinaus, um das Abendbrot zu besorgen. Er spielt mit den Kindern, trommelt, pfeift, musiziert … das zerstreut ihn. Was hilft’s! Er wird das Fest verwinden und ein neues Leben anfangen.
„Soll ich hier auf dem Tisch decken?“ fragt Hedwig durch die Thür.
„Machen Sie bloß keine große Deckerei, bringen Sie nur den Teller mit Butterbroten und das Bier.
Sie legt eine Serviette auf und bringt; er ißt stehend, während die Kinder mit allem, was Räder hat, über den rotglühenden Teppich karriolen.
„Ihr müßt auch den Christbaum ansehen … Marie, sieh mal, soviel Lichterchen … und da hängt Schönes drauf! Nachher erzähle ich auch eine Geschichte vom Christbaum, wie die Engelchen ihn angeputzt haben …. “
Nur ein Blick, dann wenden sie sich ungeteilt wieder ihrem Fuhrwerk zu. Was künftig sein wird, ist ihnen gleichgültig.
Er überläßt sie sich selber und beobachtet sie. Sie haben ihre Mutter vergessen, in einem halben Jahre. Als wäre sie nie gewesen. Eine grausame Thatsache … er denkt sich in die Seele dieser Mutter, wenn sie das wüßte, und ihn schaudert. Er wird sich in diese Kinderseelen prägen, so tief wie möglich, ihn sollen sie nicht vergessen!
Er kauert zu ihnen nieder und spielt wieder mit ihnen. Ein Stündchen vergeht, er sieht nach der Uhr … ah, sie zeigen noch keine Müdigkeit. Noch ein halbes Stündchen!
Hedwig räumt ab. „Sollen die Kinder noch aufbleiben, Herr Binder?“
„Noch ein Weilchen.“
Sie geht hinaus – bevor sie die Thür schließt, giebt es ein Geräusch draußen, wie an der Hausthür … dann ist’s verhallt. Der Hausherr hat einen Augenblick acht draufgegeben – legt keinen Wert drauf. Aber gleich drauf kommt Hedwig wieder und bleibt an der Thür stehen.
„Herr,“ sagt sie halblaut.
„Was ist?“ Er fährt mit dem Gesicht auf, wie sieht das Mädchen aus? Rot im Gesicht, verlegen, verstört, wichtig, geheimnisvoll …
„Die gnädige Frau ist da.“ Wie ein Blitz durchschlägt’s ihn. Das ist etwas Ungeheuerliches! Er hat Not, sich zu erheben. „Wo?“ fragt er.
Sie winkt mit dem Kopfe seitlich. „Dort. Im Hausflur.“
Es wirbelt in seinem Kopfe. „Bleiben Sie bei den Kindern, Hedwig, spielen Sie mit ihnen. Ist noch Licht im Flur?“
„Ja.“
Er geht hinaus. Der Flur ist nicht breit, die Hälfte der Länge nimmt die Treppe ein. Unter der Treppe, an der Wand lehnt mit dem Kopf eine mittelgroße Frauengestalt, im pelzverbrämten Abendmantel, die Hände in dem Musse, ein Pelzmützchen auf, das Gesicht weiß verschleiert.
Er steht einen Augenblick wie erstarrt, und sie rührt sich nicht. „Was wünschest du?“ fragt er mit kalter Abwehr. „Ich will zu meinen Kindern,“ sagt sie tonlos. Es liegt etwas Erschütterndes in dieser einfachen Art, wie sie sich einführt. Aber er macht sich hart.
„Wozu das?“ fragt er, sich ein paar Schritte nähernd. „Was man thut, muß man ganz thun, wenn man etwas will, muß man die Konsequenzen auf sich nehmen. Die Kinder fragen nicht mehr nach dir – weshalb sie wieder verwirren …“
Sie schluchzt plötzlich auf, schluchzt, sinkt nieder, kauert sich auf den Boden.
„Meine Kinder,“ stößt sie dazwischen halblaut heraus, „meine kleinen Jungen … sie haben mich vergessen … es ist nicht möglich …“
„Es ist so, und es ist gut so …“
„Nein, es ist nicht gut so!“ sagt sie mit erstickter Stimme und erhebt sich mit einer leidenschaftlichen Bewegung. „Das sind die Kinder meiner Schmerzen, und ich habe ein Recht auf sie, das unverlierbar ist. ich habe nichts gethan, was jemand berechtigen könnte, mich aus ihrer Erinnerung zu streichen…“
„Du hast sie verlassen; ich denke, das genügt,“ sagt er kalt.
„Meine Kinder – meine Kinder? O Gott … dich habe ich verlassen, der mich peinigt, von dessen Stichen und Schlägen ich die blutigen Male in meiner Seele trage! Du bist’s, der die Kinder mutterlos macht …“
„Das verantworte ich …“
„Das verantwortest du – du …“ Sie tritt ihm nahe, [831] indem sie den Schleier zurückschlägt; er hat das schöne blühende, verweinte Gesicht dicht vor sich, die erregten Augen blitzen im Halbschatten … mein Gott, das ist all das Rüstzeug süßer Waffen, das ihn einst zu ihren Füßen niedergezwungen, und es durchzittert ihn wie am ersten Tage, wo er in der Pferdebahn ihr gegenüber gesessen …, eine Tote wird vor ihm lebendig, das Liebste, was er begraben … wie Sturm in erstickende Glut fährt es, die dumpfe Kirchhofsruhe seines Innern jäh aufstörend … quält ihn, als müsse er zur Erleichterung die Arme breiten … was hat er verloren? Das Glück, das einzige nennenswerte, die Sonne, den Sommer, eingetauscht für die nüchterne, kahle, eintönig dämmernde Steppe von Ruhe …
A-h! Weg damit!
„Ueber diesen Punkt haben wir genug diskutiert, meine ich. Du glaubst glücklicher zu sein ohne mich … in dieser Hölle, wie du zu sagen beliebtest, ist’s still, seit du fort bist … die Kinder sind mein … ich will nicht, daß du unsern Frieden wieder aufwühlst. Ich will’s nicht!“
Er spricht zuletzt hart, drohend. „O – sagt sie mit fliegendem Atem, „aber ich will’s! Noch sind wir nicht geschieden, noch bin ich Herrin hier im Hause, kann hierher zurückkehren …“
In diesem Augenblick sagt dort ein Stimmchen hinter der Thür:
„Mama, liebe Mama!“
„Max –“ schluchzt sie auf. „Maxi … zurück!“
Ratlos prallt er beiseite vor diesem überwältigenden Ausbruch von Muttersehnsucht; sie reißt die Thür auf und liegt vor ihrem Kleinen auf den Knien und der Mann hört die erstickenden Küsse und die heißen abgebrochenen Laute, die von Unaussprechlichem stammeln.
Finster steht er, überblickt den Flur … da steht ein großer Waschkorb: Geschenke für die Kinder, sagt er sich.
Er kann, was jetzt geschieht, nicht hindern; in der That, er hat kein Recht dazu. Er kann sie nur mit einer Brutalität entfernen, und sie kann mit der Polizei wiederkommen. Er ist erbittert … was soll das werden, sie nimmt ihm die Kinder für heut’ … für lange … er hat ihnen einst gesagt, sie sei weit fortgereist …“
Was nun? Was thut er? „Hedwig!“ ruft er. Und das Mädchen erscheint „Eine Lampe- in das – Zimmer da!“
Er geht in sein Rauchzimmer, bei der Treppe, neben der Eingangsthür, läßt die Thür offen, bis die Lampe kommt. Ein komfortables Herrenzimmer. Er zündet sich eine Cigarre an und geht brütend auf dem Teppich hin und wieder, ein freiwillig Verbannter.
Nun sieht er nach der Thür; ewig kann das nicht dauern, die Kinder müssen schließlich doch zu Bett.
Die Scenerie drüben im Salon schwebt vor ihm: die selige Mutter mit den lang entbehrten Kindern. Welch ein Weihnachtsabend ist das nun geworden! Diese Mutter, dies schöne, heißblütige Weib, das sein gewesen … es ist schrecklich, aber es ist wahr. Jetzt erst ist es wieder, als wäre das Haus bewohnt.
Stimmen und Stimmchen draußen – ihre Stimme mit dem lachenden Metallklang, der ihm immer im Ohr geblieben; sie holen den Waschkorb, er hört ihn knistern …
Wieder Stille.
Er steht, und auf einmal durchbebt’s ihn, als stünde sie vor ihm wie vorhin, den Schleier aufgeschlagen, ihr Hauch trifft ihn warm, der schwüle Dunst ihrer fieberhaften Erregung, er fühlt ihre Nähe, wie einst … wie einst … Täuschung – aber … mein Gott, warum ist das vorbei?
Diese trostlose Oede, zu der er sich hier verdammt hat! Warum kommt man nicht, ihm zu sagen, daß die Kinder auch nach ihm verlangen?
Er raucht, raucht – wird diese Cigarre zu Ende rauchen, dann gehn und die Kinder zu Bett schicken. Immer sieht er im Geist die Frau, die Mutter, mit den Kleinen … dazwischen sieht er nach der Uhr, wohl zehnmal.
Endlich ist’s soweit.
Er hat Herzklopfen, aber er geht.
„Papa – Papa – hat Weihnachtsmann auch gebracht,“ sagt Maxi und hält ein Kaninchen auf Rädern. „Das hier auch, Papa …“
„So so. – Jetzt wird’s aber höchste Zeit, daß ihr zu Bett geht.
„Mama bringt uns zu Bett,“ spricht Edi.
Dort steht sie, bläst die letzten Lichter am Baume aus. Ihre Ueberkleidung liegt auf der Sofalehne, der Hut drauf. Sie hat ein graues Kleid an, das er kennt … und das ist das schöne, weiche Haar am Hinterkopf, das er auch kennt, so dick aufgenommen.
„Gut, aber es ist schon sehr spät für euch …“
„Ich gehe gleich mit den Kindern,“ sagt sie ohne Affekt, ohne ihn anzusehen.
„Gute Nacht, lieber Papa!“
„Gute Nacht, mein kleiner Junge … gute Nacht, Edi.“
Er küßt die Kinder, sie geht an ihm vorüber, ins Wohnzimmer, dreht sich um: „Kommt!“ Ein scheuer Augenblitz streift ihn. Und die Kinder trippeln ihr nach.
Er wird hier auf die Mutter warten, wird noch ein paar ernste Worte mit ihr reden … das geht so nicht, sie muß künftig ihn und die Kinder in Ruhe lassen!
Und er wandelt wieder auf und ab und überlegt, was er sagen soll – dazwischen fällt ihm ins Auge, was sie den Kindern mitgebracht hat …
[834] Wo sie nur bleibt? Es gehn ja noch ausreichend Züge …
„Hedwig!“ ruft ihre Stimme in den Flur, und er hört des Mädchens Schritte schlürfen. Das kommt nicht wieder und kommt nicht wieder. Endlich! er öffnet die Thür. „Wo bleibt meine Frau?“ fragt er gedämpft.
„Sie hat sich schon niedergelegt,“ sagt das Mädchen, als ob das etwas Selbstverständliches wäre.
„Zu Bett.“
Er macht Augen, als sähe er Gespenster – und doch durchrieselt es ihn wunderbar …
„Ja“, nickt Hedwig und stutzt sichtlich.
„Es ist gut … nein … legen Sie sich auch nieder.“
Er wird in sein Zimmer gehn, sich mit einer Decke aufs Sofa legen.
Er hat ja kein Recht, es ihr zu wehren. Noch ist die Scheidung ja nicht gerichtlich bestätigt … Und er löscht alles Licht, begiebt sich mit starken Schritten hinüber … da ist ein Schlafsofa, und die Decke noch vom Mittagsschlafe her. Er löscht auch hier die Lampe und bettet sich.
Aber schlafen … jetzt schlafen …!
Es muß möglich sein!
Und in der Abgespanntheit, in der Dunkelheit stimmt’s endlich, daß er müde wird, dämmert … da drüben … da drüben …
Als er aufschrickt, ist’s stockfinster vor seinen Augen. Er richtet sich auf, es ist, als hätte etwas seine Hand gefaßt und wieder losgelassen. Da steht’s, etwas Lichtes, Undeutliches … er reißt die Augen auf … . auf einmal ist er sehr munter … sie …
„Ich bin’s, Franz.“
Sie zögert einen Augenblick, dann setzt sie sich zu ihm auf den Sofarand.
„Ich kann nicht schlafen, will ein vernünftiges Wort mit dir reden. Bist du dafür zu haben?“
„Bitte,“ sagt er.
Ein Fieber durchfährt ihn.
Ihr Gesicht mit den dunklen Augen dämmert zwei Schritt von ihm, das Knistern ihres Kleides neben ihm regt alle Nerven auf.
„Es wird mir nicht leicht; aber drüben atmen unsre Kinder in der Stille, ihre kleinen duftenden Atemzüge sagten mir: du mußt! Wir beide haben hart gekämpft miteinander, das entfremdet. Ob wir uns je das wieder werden könnten, was wir uns waren … ich weiß es nicht. Ich habe dir einen Eklat bereitet, und du bist im Vorteil gegen mich. Du bringst ein größeres Opfer als ich, wenn du nachgiebst, mit mir im selben Hause weiter zu leben. Aber ich möchte dich fragen: Willst du’s versuchen?“
Diese Worte, so eintönig gesprochen, wie gedämpfte Rede klingt, sehen nach kühler Verständigkeit aus, und doch – in der Stimme bebt etwas, eine unterdrückte Bewegung, die erlöst sein will.
„Versprichst du dir etwas davon?“ fragt er nach kurzem Besinnen.
Ihre Hand spielt nervös mit den Falten der Decke.
„Wenn wir mit dem einzigen Wunsch nebeneinander gehen, den Frieden zu hüten und für unsere Kinder zu leben – dann glaub’ ich: wir kommen aus. Ich kann nicht erwarten, daß du von früheren Empfindungen … von einst meine ich … noch für mich übrig hast … das wäre vielleicht nicht einmal gut. Aber die Kinder! Die Sehnsucht nach ihnen hat mich all die Zeit her gequält, wo ich von dir fort bin, doch habe ich’s ausgehalten – bis heute. Bis Weihnachten …. Wie ich heute in die Stadt ging und die Leute in den Spielzeugläden einkaufen sah – wie ich in meiner Todeinsamkeit saß, so verlassen und verloren, da zitterte ich nach meinen kleinen Vögelchen … ich wäre gestorben oder verrückt geworden, wenn ich sie heute nicht gesehen hätte, mit ihnen gespielt, ihre Stimmchen gehört! … ich sage es ganz offen, wie es war … Ich kann nicht von meinen Kindern gehen,“ schloß sie mit leidenschaftlichem Aufbäumen.
„Hasse mich, laß mich’s fühlen … aber ich will bei meinen Kindern sein!“
Ihre Stimme brach zuletzt, erstickte, – der Mann auf dem Sofa fühlte ohne Berührung, daß sie am ganzen Leibe bebte.
„Und ich?“ fragte er mit tiefer Bitterkeit, „und ich?“ Und er setzte sich höher auf.
Ein paar Augenblicke schwieg sie, saß wie erstarrt, nur die dunklen Augen suchten geheimnisvoll, als könnten sie nicht finden, hier nicht, da nicht, weithin nicht … und plötzlich fühlte er die weichen Frauenarme um seinen Hals geschlungen und ihr Antlitz an dem seinen, heiß, schwer atmend …
„Franz,“ stammelte sie … „Franz!“ …
Und in tiefer Scham raffte sie sich auf und entfloh.
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Am andern Tag kam der Amerikaner Felix. Er hatte sich einen netten Plan zurecht gemacht: Herrgott, müssen denn die zwei sich wirklich durchaus scheiden lassen? Er wird die Sachlage genauer untersuchen, vielleicht läßt sich da ein gutes Werk thun.
Er machte Augen wie Theetassen.
„Na nun adieu, alter Sohn – – da hast du mich gestern schön angelogen …“
In der Weihnachtsstube fand er das Paar, niemand war ihm entgegengegangen, ihn zu bewillkommnen.
Die Tanne hinter den beiden duftete zu ihm, er stolperte beinahe über Maxis Kaninchen, der ihm damit in die Beine fuhr.
„Weihnachtszauber,“ sagte der Hausherr und kam strahlend mit ausgestreckter Hand auf ihn zu, „Friede auf Erden …“
„Und dem Menschen ein Wohlgefallen,“ schloß lachend der Freund und deutete mit langem Zeigefinger auf seine breite Brust.
„Von Herzen, meine gnädige Frau! – Ich wollte Sie heute noch auf dem Umwege über den Mann hier wo anders aufsuchen …“