Franz Schubert (Die Gartenlaube 1897)
Am 31. Januar 1897 feiert man in allen deutschen Landen den hundertsten Geburtstag eines Heiligen der Tonkunst, Franz Schuberts. Es gewährt eine besondere Genugthuung, gerade diesen Mann so allgemein gefeiert zu sehen, dessen Leben ein fortgesetzter Kampf mit Drangsalen war. Wie viel leichter würde es dem Frühgeschiedenen geworden sein, Sorge und Not zu ertragen, hätte er in seiner Naivität und Bescheidenheit ahnen können, daß man ihn als Schöpfer unvergänglicher Musikwerke immerdar aufs innigste verehren werde. Vor allem sind es seine Lieder, mit welchen er sich unserem Volke ins Herz gesungen hat, weil in denselben überaus reizvolle Melodien und Ursprünglichkeit der Tongedanken oft mit der Einfachheit des Volksliedes verbunden sind. Gerade diese künstlerische Schlichtheit, die sich mit zauberhafter Gewalt in die Seele unseres Volkes hineingeschmeichelt hat, ist ein Lichtmal der Genialität Schuberts.
Wie die Quelle aus der Erde hervorbricht, weil sie nicht anders kann, so entströmten seiner glänzenden Begabung die Tongedanken, und zwar in einer Fülle, Neuheit und Unmittelbarkeit, an welcher sich so manche Tonsetzer der Gegenwart erbauen könnten, die durch verblüffende Dissonanzen, durch unruhige Sprünge aus einer Tonart in die andere, durch Absonderlichkeiten in der Instrumentation sowie durch den Mangel an geschlossenen Melodien den Beweis erbringen wollen, daß sie etwas ganz Besonderes bedeuten, während das gequält Neue und erzwungen Originelle in ihren Kompositionen doch nur ein Beweis des Mangels an wahrlich schöpferischer Kraft ist.
Franz Schubert wurde als Sohn eines Schullehrers zu Wien in dem Hause (IX. Nußdorferstraße Nr. 54) geboren, welches unsere Abbildung vorführt. Er sah in seiner Jugend wenig „Bratentage“, der Besitz einer Semmel und der Genuß einiger
[66]Aepfel gehörten zu den kühnsten Wünschen seiner Knabenzeit In einem Briefe an einen älteren Bruder bemerkte er: „Du weißt aus Erfahrung, daß man doch manchmal eine Semmel und ein paar Aepfel essen möchte, um so mehr, wenn man nach einem mittelmäßigen Mittagsmahle nach 8 1/2 Stunden erst ein armseliges Nachtmahl erwarten darf.“ Daran knüpfte der kleine Franz die Bitte, der Bruder möchte ihm doch monatlich ein paar Kreuzer zukommen lassen, „damit er in seiner Klause glücklich und zufrieden sein könne“. Wie rührend ist diese Sehnsucht nach „Glück“!
In der Jugend lebte Schubert von seiner Sopranstimme; er sang nämlich auf Kirchenchören und wohnte dafür in einem Konvikt, wo die Kost schmal bemessen war. Nach dem Verluste seiner Stimme entschloß er sich, Lehrer wie sein Vater zu werden. Er wurde richtig auch Schulgehilfe und weihte als solcher drei Jahre lang die Elementarschüler der Lichtenthaler Vorstadt in die Geheimnisse des Abc ein. Wenn seine Schüler über die Anfangsgründe alles Wissens stolperten, so wurde der lebhafte Franz jähzornig und handgreiflich. Zum Künstler geboren fand er in dem Lehrerberuf keine Genugthuung und suchte darum durch um so fleißigeres Komponieren innere Befriedigung sich zu verschaffen. Geregelten Unterricht im Generalbaß empfing er von Rucziszka und Salieri. Schon als dreizehnjähriger Knabe hatte Schubert mehr musikalische Einfälle als Notenpapier, welches in der Menge, die er brauchte, für ihn unerschwinglich war. Damals war es ein Mitschüler im Wiener Konvikt, der ihn mit Notenpapier versah, so daß das Komponieren jetzt flott von statten gehen konnte. Er schuf schon zu dieser Zeit Lieder, Messen, Sonaten, kleine Opern, ja selbst eine Symphonie, doch vernichtete er bald das Geschaffene wieder, weil es ihm nicht genügte. Waren es doch nur Kompositionsversuche „zur Uebung“.
Ein anderer Förderer Schuberts war ein Student, Namens Franz von Schober. Diesem imponierte die ungewöhnliche Begabung des jungen Tondichters, und als er ihn eines Tages besuchte, fand er ihn beim Korrigieren von Schulaufgaben. Der Student verschaffte nun dem in ein trauriges Joch gespannten Schulgenossen eine Freiwohnung und entriß ihn einer Thätigkeit, für die er nicht berufen war.
Der Weg zur Selbständigkeit ward Schubert so erschlossen. Wenn nur Frau Sorge nicht gewesen wäre, die ihm mit zäher Treue stets zur Seite ging! Schubert bewarb sich um mehrere Aemter, die ihm noch Muße zu künstlerischer Arbeit gelassen hätten, so auch mal eines in Laibach, welches ein Jahresgehalt von 450 Gulden abwarf. Er wurde jedoch trotz der Empfehlung des k. k. „Hofmusikgrafen Moritz Dietrichstein, des Intendanten der kaiserlichen Hofkapelle, abgewiesen. Kein Wunder, daß unter diesen Umständen der junge Musiker sich fast beständig in Geldverlegenheiten befand! Der Verfasser dieser Zeilen unterhielt sich vor einigen Jahren in München mit dem Generalmusikdirektor Franz Lachner über Schubert, mit welchem der Münchner Komponist von Jugendzeiten her befreundet war. Der musikalisch etwas reaktionär angehauchte Verfasser der Oper „Katharina Cornaro“ erzählte bei dieser Gelegenheit, daß ihm Schubert einmal bekümmert gesagt habe: „Was wird mit mir armem Musikanten in der Zukunft werden? Ich werde wohl im Alter, wie Goethes Harfner, betteln müssen!“
Zuweilen hatte Lachner selber für Schubert sich verwendet, und zwar bei Verlegern. Beide Komponisten waren große Naturfreunde und wollten eine Gebirgsreise miteinander unternehmen. Der Wille zum Reisen war also da, aber leider kein Geld. Da fragte Lachner den kleinen dicken Freund, welchen W. Chezy, unartig genug, einen „Talgklumpen“ genannt hatte, ob er denn nicht wieder einige frischkomponierte Lieder auf Lager habe. Schubert übergab ihm einen ganzen Strauß seiner herrlichen Lieder. Lachner eilte damit zu einem Verleger. „Schuberts Lieder gehen nicht!“ meinte dieser verdrießlich. Lachner wies aber auf die Vortrefflichkeit der mitgebrachten Lieder so eindringlich hin, daß der Verleger sich endlich dennoch entschloß, ein Honorar von 15 Gulden für die melodischen Herrlichkeiten Schuberts anzubieten. „Legen Sie noch 5 Gulden zu!“ bat Lachner. „Niemals!“ gab der Verleger mit der Härte eines Despoten zurück. Die beiden Freunde traten nun mit dem für sie ungewöhnlich großen Vermögen von 15 Gulden eine Reise ins Hochland an. Die Eindrücke und Stimmungen, die ihn auf diesem Ausflug beglückten, wußte Schubert sogleich in erquickende Töne umzusetzen. Ohne diesen innigen Verkehr mit der Natur hätte er seinen Liedern wohl auch nicht jene feinen tonmalerischen Accente geben können, durch welche sie so oft entzücken. So hat Schubert, um nur eines anzuführen, in seinem Liede „Die Forelle“ die rasche und zierliche Bewegung der Fische in schnell und graziös dahingleitenden Tonarabesken der Klavierbegleitung wunderbar geschildert. Einer ähnlich beredten Tonmalerei begegnet man in so manchem Lied der prächtigen Cyklen „Die schöne Müllerin“ und „Die Winterreise“, ich erinnere z. B. an „Die Post“, in deren rhythmischer Bewegtheit sich das Vibrieren der Liebeserwartung, die Bewegtheit der Empfindung, der Rhythmus des erregten Herzens treu spiegeln. Alles ist da in melodischen Wohlklang getaucht. Das Volkslied in Kunstverklärung!
Man bewundert bei Franz Schubert mit Recht die gesunde musikalische Urkraft und die Ursprünglichkeit in allen seinen Tonwerken. Nie hat er ein Anlehen bei anderen oder bei sich selbst gemacht. Es strömten ihm musikalische Gedanken mit derselben Leichtigkeit und Unmittelbarkeit zu, mit welcher man atmet.
Franz Schubert wird als Begründer der musikalische Romantik bezeichnet. Vielleicht mit Unrecht! Allerdings hat er Texte von Dichtern der romantischen Schule in Musik gesetzt. Allein mit vollem Grund könnte man Schubert einen Klassiker nennen, der Mustergültiges, Vorbildliches, Unvergängliches ebenso geschaffen hat wie Mozart und Beethoven. In seinen Liedern klingt nie eine krankhaft romantische Stimmung an, die Trauer spricht sich zwar in ergreifender Form, aber nie in weichlicher Empfindelei aus. Sie erhebt sich mitunter zu tragischem Pathos, winselt aber nie in romantischer Hilflosigkeit.
Arm zu sein, Entbehrungen zu erleiden und dabei lebend und schaffensfroh zu bleiben, ist ein seltener Charaktervorzug, und diesen besaß Schubert. Seine Freunde, Lustspieldichter Bauernfeld und der Maler Schwind, wußten viel darüber zu erzählen. Meist hatten zwei von ihnen kein Geld und der [67] Dritte gar keines. Gleichwohl trugen sie ihre Armut mit Grazie und Heiterkeit. Ihre Gütergemeinschaft bezog sich auf Hüte, Stiefel, Krawatten und Röcke. Sie nächtigten zuweilen in derselben Stube, wobei sich besonders Schwind durch seine stoische Bedürfnislosigkeit auszeichnete, denn er legte sich, bloß in eine Decke gehüllt, auf den Boden; sein gutes Gewissen schob er sich als Ruhekissen unter den Kopf. Nach einem solchen gemeinschaftlichen Nachtlager machte Schubert einmal Morgentoilette und lachte unbändig. „Warum lachst du?“ „Nun, weil meine Socken so viele Löcher haben, daß ich nicht weiß, in welches ich eigentlich hineinfahren soll!“
Daß Not erfinderisch macht, bewiesen sich die drei frohlebigen Freunde oft genug. Als sie einen Pfeifenkopf brauchten, schnitzten sie ihn aus einem Brillenfutteral zurecht, stopften ihn mit Tabak und der Rauchgenuß begann.
Wie rasch und mühelos Schubert komponieren konnte, hat er oft bewiesen. Eines Tages fand er bei einem Freunde einen Band Gedichte liegen. Es waren die von Wilhelm Müller, welche den Liederkranz „Die schöne Müllerin“ enthielten. Er nahm das Buch mit nach Haus und am nächsten Morgen waren die ersten Müllerlieder fertig komponiert. Goethes Ballade „Der Erlkönig“ hat er nur einige mal durchgelesen, und dann setzte er sie in Musik in so kurzer Zeit, als man braucht, um die Noten aufs Papier zu werfen. Zu den lieblichsten Eingebungen Schuberts gehört das „Morgenständchen“ zu Worten Shakespeares. Von diesem wird erzählt, daß es als Improvisation in dem Garten des Währinger Wirtshauses „Zum Biersack“ unter jener Kastanie entstanden sei, die unser Bild auf Seite 66 darstellt. Robert Schumann meinte von Schubert, er hätte allgemach die ganze poetische Litteratur in Töne umgesetzt – „wo er hinfühlte, quoll Musik hervor,“ Aeschylus und Klopstock, so spröde zur Komposition, gaben nach unter seinen Händen. Schubert schuf in der That so viel, daß er mitunter seine eigenen Musenkinder nach kurzer Zeit nicht mehr wiedererkannte; so hörte er sein eigenes Lied, welches von einem Freunde in eine andere Tonart übertragen wurde, in einer Gesellschaft an und rief erfreut aus. „Schaut’s, das Lied is nit uneb’n, von wem is’ denn das?“
Verwöhnt wurde der bescheidene Tonpoet durch gesellschaftliche Anerkennung nicht, oft, wenn seine Lieder von einem beliebten Sänger vorgetragen wurden, fand dieser Beifall, während der am Klavier sitzende Komponist gänzlich unbeachtet blieb. Dafür wurde Schubert als Walzerspieler sehr geschätzt; auf Hausbällen improvisierte er oft stundenlang entzückende Tanzweisen. Improvisationen, die ihm gefielen, spielte er wiederholt, um sie dem Gedächtnis einzuprägen und dann zu Papier zu bringen.
Zu den Beschützern Schuberts gehörte auch Graf Johann Esterhazy, welcher ihn als Musiklehrer seiner Tochter Karoline nach Zelesz in Ungarn berief und ihm zwei Gulden für die Unterrichtsstunde bezahlte. Franz verliebte sich in seine schöne Schülerin, die sich jedoch zur Gegenliebe für den unansehnlichen Komponisten mit dem unschönen Mund und der Stumpfnase nicht entschließen konnte. Als ihm einmal Komtesse Karoline scherzend vorwarf, daß er ihr noch kein Musikstück zugeeignet habe, erklärte der verliebte Komponist. „Wozu denn? Ihnen ist ja ohnehin – alles gewidmet.“ Ein originelles Liebesgeständnis! Sechzehn Jahre nach Schuberts Tode vermählte sich Gräfin Karoline mit dem Major Grafen Folliot von Crenneville. Jetzt genießt sie die Auszeichnung, an der Seite eines Unsterblichen immer wieder genannt zu werden. Der Schönheit des Fräuleins Karoline ist es zu danken, daß Schubert einige seiner innigsten Lieder im Hause ihres Vaters komponierte. Doch das liebenswürdige Mädchen war dort nicht allein seine Muse, auch die Köchin des Grafen Esterhazy war es, freilich in anderem Sinne, indem sie am Küchenherde ungarische und slavische Volksweisen sang. Das von ihr Gesungene kam als musikalischer Grundstoff im „Divertissement a la Hongroise“ (Op. 54) zur Geltung. Dieser sangeslustigen Kennerin von Volksweisen hat der Komponist noch manches Thema zu Klavierstücken, ja selbst zu symphonischen Sätzen zu verdanken gehabt.
Schubert hat, wie ein jedes künstlerische Genie, mit dem größten Eifer gelernt und sich in jeder Art bemüht, die Formen der Tonkunst genau zu beherrschen.
Schon als Knabe besaß er einen solchen Lerneifer, daß er bald mehr wußte als seine Lehrer, die dann bescheiden erklärten, „Franzi lerne alles vom lieben Gott.“ Dies erinnert an jene naive musikgeschichtliche Versicherung, daß die erste Sängerin Eva, der erste Gesangsprofessor unser Herrgott und das erste Konservatorium für Musik das Paradies gewesen sei. Schubert horchte besonders auf die Tonwerke von Haydn, Mozart und Beethoven hin und erbaute sich an denselben. In einem Zeitraume von siebzehn Jahren – Schubert starb am 19. November 1828 – schrieb er eine Reihe von Opern und Operetten, acht Symphonien, gegen sechshundert Lieder, ferner Messen, Chöre aller Art, Sonaten und Quartette,Trios und Duos und eine große Menge von Klavierwerken. Auch diese Fruchtbarkeit ist ein Wahrzeichen der Genialität. Schuberts Klavierwerke gehören zum ehernen Bestand einer jeden wohlangelegten musikalischen Hausbibliothek. Wer kennt nicht die feinen Eingebungen in den Schubertschen Impromptus – wen hat das vierte derselben in F-moll (3/8 Takt) durch seinen rhythmischen und melodischen Reiz nicht bestrickt? Daß Schubert ein Krösus an Tongedanken war, erkennt man auch in seinen Phantasien, Rondos, Scherzos, in seinem Allegro patetico, in seinen Adagios und Variationen. Wo man in den Tonwerken Schuberts hinblickt, da schimmert Gold.
Vierzig Jahre nach dem Tode Schuberts wurde im Wiener Stadtpark das schöne Denkmal enthüllt, das seine Gestalt sitzend, nach dem Modell von Kundtmann, in carrarischem Marmor darstellt. Zur Feier der hundertsten Wiederkehr seines Geburtstags hat die Stadt Wien sich zur Ehrensache gemacht, eine Franz Schubert-Ausstellung zu veranstalten, welche gegen 2000 Gegenstände, die auf Schubert und seine Zeit Bezug haben, umfaßt.
Gedenktage, wie der am 31. Januar 1897 zu Ehren Schuberts, sollten aber in Zukunft auch Sühnfeste werden. Es giebt auch heute glänzend veranlagte Komponisten, denen im Leben kein Stern leuchtet. Würde sich’s nicht empfehlen den Ertrag von Festkonzerten, welche an solchen Gedenktagen veranstaltet werden, hochstrebenden und Tüchtiges leistenden Jüngern der Tonkunst zuzuwenden, welche im Leben mit ähnlichen Bedrängnissen kämpfen müssen wie Franz Schubert?