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Folgenschwere Fahrlässigkeit

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Textdaten
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Titel: Folgenschwere Fahrlässigkeit
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 42, S. 686
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1874
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Schilderung eines Eisenbahnunfalles
Blätter und Blüthen
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[686] Folgenschwere Fahrlässigkeit. „Eisenbahnunfälle“ sind eine so häufig wiederkehrende Rubrik unserer Zeitungen, daß ein derartiges Ereigniß schon einen ungewöhnlichen Umfang angenommen haben muß, um den Inhaber eines Jahresbillets aus der vornehmen Gleichgültigkeit aufzuschrecken, mit der er liest, daß wieder einmal ein paar Güterzüge aufeinandergestoßen, aber glücklicher Weise nur ein Locomotivführer und ein Heizer um’s Leben gekommen oder zu Krüppeln geworden sind, oder daß ein Wagenschieber zu Brei zerquetscht worden ist. Um ein solches ungewöhnliches Ereigniß hat dieser Monat die Geschichte der Eisenbahnunfälle in ausgiebigstem Maße bereichert.

Die „Große Osteisenbahn“ verbindet Yarmouth und Lowestoft mit London und hat für ihren großen Verkehr zum Theil, unter Anderm zwischen Brundall und Norwich, auf einer Strecke von sechs englischen Meilen, nur ein einziges Geleise. Der Abendpostzug nach London muß deshalb in Brundall den von London kommenden Schnellzug abwarten, es sei denn, daß er von Norwich speciell beordert wird; dies darf nach den bestehenden Vorschriften nur geschehen, wenn der Schnellzug sich um fünfundzwanzig Minuten verspätet.

Im Telegraphenamte auf der Station Norwich waren am Abende des 10. September, während es draußen in Strömen regnete, fünf junge Bursche von fünfzehn bis achtzehn Jahren gemüthlich beisammen, von denen nur einer, der achtzehnjährige Telegraphen-Assistent Robson, dort etwas zu suchen hatte. Er vertrat nämlich einen Beamten, der um diese Zeit den Dienst hatte, aber nicht da war.

Der Schnellzug von London ist in Norwich um neun Uhr zehn Minuten fällig, der Postzug von Yarmouth und Lowestoft in Brundall um neun Uhr fünfundzwanzig Minuten. Verspätet sich der Schnellzug um fünfzehn Minuten bis zu einer bestimmten zwischen London und Norwich belegenen Station, so telegraphirt diese nach Norwich. Keine solche Meldung war eingetroffen, als um neun Uhr dreiundzwanzig Minuten der Nacht-Inspector Cooper an den Schalter des Telegraphenamts klopfte und Robson anwies, den Postzug von Brundall heraufzubeordern. Nach der Dienstvorschrift durfte eine derartige Ordre vor Unterzeichnung durch den Inspector nicht abgeschickt werden; Robson begnügte sich mit dem Versprechen desselben, sofort zur Unterschrift wiederzukommen. Kaum hatte indeß Cooper den Schalter verlassen, als vor seinen Augen der Schnellzug in den Bahnhof einfuhr. Ueber das, was nun geschah, widersprechen die Aussagen einander. Cooper behauptet, sogleich umgekehrt zu sein und Robson beauftragt zu haben, die Ordre nach Brundall zu widerrufen. Robson weiß davon nichts; seine Freunde können sich merkwürdiger Weise auf nichts besinnen; möglich ist, daß einer von ihnen auf Robson’s Stuhl am Schalter gesessen hat und von Cooper für Robson gehalten worden ist. Durch das Fenster des Telegraphenamtes kann man den Bahnhof überblicken; Robson aber hat nicht nur keinen Widerruf des Inspectors gehört, sondern auch keinen Schnellzug gesehen. Er telegraphirt also nach Brundall: „Schickt den Postzug ab, ehe der Schnellzug hier abgeht!“ und fügt der Depesche Cooper’s Namen hinzu. Brundall antwortet: „Werde den Postzug abschicken, ehe der Schnellzug abgeht“. Der Vorschrift gemäß hätte Robson nun ohne Verzug nach dem Inspector klingeln und ihm die Antwort mittheilen müssen; er thut es nicht, angeblich aus Furcht, der Inspector werde ein Halloh machen. Cooper hat unterdeß dem Tag-Inspector Parkes bei der Abfertigung des Schnellzugs geholfen und dessen Frage, ob der Postzug erst herankomme, bestimmt verneint. Parkes läßt den Schnellzug abgehen, und um neun Uhr einunddreißig Minuten bringt der Polizei-Inspector der Station Robson eine Depesche mit der bezüglichen Meldung nach einer Verbindungsstation. „Wo ist der Schnellzug?“ fragt Robson. „Fort.“ Nun wird Cooper gerufen – wir lesen nicht, wir hören das markerschütternde „O mein Gott!“ des Mannes, dem in Einem Augenblicke zugleich das unabwendbar gräßliche Unglück und seine eigene unrettbar zerstörte Zukunft durch die Seele blitzen; – sogar Robson’s Freunde haben es gehört.

„Haltet den Postzug auf!“ wird nach Brundall telegraphirt, aber Jeder weiß, wie die Antwort lauten wird: „Postzug abgegangen“ – Jeder weiß, daß die beiden Züge mit der Collectivgeschwindigkeit von sechszig englischen Meilen in der Stunde aufeinander losrennen, weil jeder Zugführer glaubt, daß der andere auf ihn wartet; kein, absolut kein Mittel, sie zu warnen; fast könnten die Beamten mit der Uhr in der Hand berechnen: Jetzt stoßen sie zusammen, oder vielmehr sie sind schon zusammengestoßen, wenn kein Wunder geschehen ist. – Und es ist kein Wunder geschehen; mit Donnergetöse ist Maschine auf Maschine getroffen, eine auf die andere gesprungen, mit ihr, mit zerschmetterten Wagen, mit todten, sterbenden, verwundeten Menschen im Nu eine Pyramide aufthürmend. Ein Theil der Wagen des Postzuges ist auf einer Brücke stehen geblieben, die, im Bau begriffen, weite Lücken hat. Springen die Reisenden heraus, so springen sie unmittelbar in einen tiefen Fluß. Wenigstens dieses Unglück verhütet die Geistesgegenwart des Schaffners, der, obwohl beschädigt, an den Fußbrettern entlang kriecht und zum Sitzenbleiben mahnt. Aber achtzehn Menschen sind auf der Stelle todt geblieben, sieben seitdem gestorben, dreiundsechszig außerdem verwundet.

Wenn es zweifelhaft geblieben ist und auch wohl bleiben wird, wo – außer in der lockeren Disciplin und der dafür verantwortlichen Verwaltung – der Schwerpunkt der Verschuldung liegt, so kann man sich wenigstens nicht über den geringen Aufwand von Zeit und Mühe bei der Untersuchung beklagen, denn diese ist von drei verschiedenen Commissionen geführt worden. Ueber die sofort Umgekommenen wird ein Todtenschaugericht in Thorpe abgehalten; über die nachher in Norwich Gestorbenen ein solches in Norwich, und zum Dritten inquirirt ein Commissar des Handelsamts. Alle drei vernehmen dieselben Zeugen und erhalten so ziemlich dieselben Antworten. Bei der englischen Art der Zeugen-Vernehmung würde freilich weder König Salomo noch der Richter Daniel über den fraglichen Punkt die Wahrheit an den Tag gebracht haben. Ein orientalischer Kadi hätte zu allem Anfange jeden von den vier Freunden des Telegraphenassistenten in ein besonderes Loch gesperrt und einzeln mit Hülfe kräftiger Ueberredungsmittel verhört. Wunderlich genug hat auf Grund derselben Zeugen-Aussagen die eine Jury Cooper und Robson des Todtschlags angeklagt und Cooper wegen seiner größeren Erfahrung die Hauptschuld beigemessen, die andere, die ihren Spruch später fällte, Robson allein des Todtschlags bezichtigt und erklärt, Cooper’s nicht zu bestreitende Fahrlässigkeit sei doch nicht genügend, um ein Verdict gegen ihn zu rechtfertigen.

Merke sich übrigens der geneigte Leser, daß bei diesem Unglück die Reisenden erster Classe mit leichten Quetschungen und dem Schreck davongekommen sind, weil ihre Coupés die Mitte der Waggons einnahmen und durch die rechts und links zertrümmerten Coupés zweiter Classe vor eigener Zertrümmerung geschützt wurden. Vom Standpunkte der Eisenbahndirectoren wäre den zu Schaden Gekommenen am Ende ganz recht geschehen; warum fuhren sie nicht erster Classe! Aber die Directoren der großen Ostbahn werden jetzt nicht gerade zum Scherzen aufgelegt sein: dafür sorgt, wenn nicht das strenge Gericht, welches Punch im Namen der öffentlichen Meinung über sie hält, so doch jedenfalls die unbehagliche Gewißheit, daß die Gesellschaft auf Entschädigungen und Kosten viele Tausende von Pfunden Sterling zu bezahlen haben wird. –