Fliegende Blätter Heft 22 (Band 1)
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„– – Reich’ ihr die Hand, mein Kind!
Die Mutter will dir sagen,
Was du erlebst in spätern Tagen.“
Altes Schauspiel.
Auf dem Herrenhofe Lönborg, der zum Amte Ringkjöbing gehört, war vor vielen Jahren in einer Abendstunde des Monats December Alles in geschäftiger Bewegung. Baronesse Hjelm, die Gemahlin des Besitzers, war nämlich von einer Tochter entbunden worden. Diener und Mägde rannten die Stiege auf, die Stiege ab; während der Doktor, die Hebamme, die Freundinnen der Frau und sonstige bei einer solchen Gelegenheit unentbehrliche Personen im Saale versammelt und in eifriger Unterhaltung miteinander begriffen waren.
Abgesondert von diesen, in einer Kammer neben dem Krankenzimmer, saß ein altes Weib. Graue, buschige Haare hingen ihr über die runzelige Stirne herein, eine lange, gebogene Nase überragte den größten Theil ihres häßlichen Gesichtes, und wie sie so dasaß, mit ihrem zahnlosen Munde unverständliche Worte murmelnd, hätte sie mancher Furchtsame für die Mutter des Teufels gehalten, den sie zu einem geheimen Zwiegespräch herbestellt habe. Sie mochte wohl schon lange hier harren und des Wartens müde sein, denn sie erhob sich mehrmals und lauschte an der Thüre. Auf einmal heiterten sich ihre Züge auf; ein großer, schlanker Mann trat mit dem neugebornen Kinde auf den Armen zu ihr ein. Sein Antlitz trug das Gepräge der innerlichsten Freude, er war ja der Vater, der dem Weibe sein Kind brachte, um dessen künftiges Schicksal zu erfahren.
Mutter Lisb’, – so hieß man das Weib, welches das Orakel der ganzen Gegend war, – betrachtete geraume Zeit aufmerksam Hände und Augen der Kleinen, ohne sich um den Doktor zu kümmern, der hinter dem glücklichen Vater nachfolgte und mit einem spöttischen und ungläubigen Lächeln auf sie hinschaute. Endlich erhob die Wahrsagerin ihre Stimme und brach in folgende Worte aus:
„Ich sehe eine Krone um das Haupt dieses Mägdeleins; sie wird, wenn die Zeit kommt, die Königin eines großen Volkes werden; aber nun merke Er auf meine Worte, Vater Hjelm! Das, was ich Ihm jetzt sage, ist mehr als Wind.“ – Der Baron nickte zufrieden mit dem Kopfe. – „Das Erstemal, wo Er über einen Weg fährt,“ fuhr Lisb’ fort, „muß Er eine gute Handlung thun, dann wird Alles richtig eintreffen, was ich Ihm gesagt habe. Bringt nun das kleine Ding wieder zur Mutter, es zittert ja vor Kälte.“
So erzählt die Sage von der Geburt dieses Kindes. – Am anderen Tag verließ die Alte reichlich beschenkt das Schloß; ihre Weissagung aber verbreitete sich wie ein Lauffeuer in der ganzen Gegend.
[170] Als die Zeit kam, wo die Kleine getauft werden sollte, nahmen Vater und Mutter den Kalender zur Hand, um den allerschönsten Namen für dieselbe herauszusuchen; der Vater hätte ihr gern einen romantischen Namen gegeben, allein er bequemte sich, den Bitten seiner Frau nachzugeben, und das kleine Fräulein Hjelm erhielt bei der Taufe in der Egvadkirche, nach der Mutter der Baronesse den Namen „Cäcilia.“
Auf dem Heimwege nun, fuhren sie durch das Dorf Vostrup, wo auf einmal eine zahlreiche Schaar Bauern ihre Aufmerksamkeit erregte. Der Baron ließ halten, in dem Glauben, daß diese Versammlung ihm zur Ehre geschehe, der gute Mann hatte sich jedoch geirrt; es lag etwas ganz Anderes zu Grunde.
Vor der Hütte armer Taglöhnersleute war ein neugeborner, schwächlicher Knabe, in Lumpen eingewickelt, gefunden worden. Da die Leute, denen er gelegt wurde, zu arm waren, um ihn selbst zu ernähren, brachten sie den Knaben zum Vogte, damit er auf Communkosten erzogen werde. Dieser schlaue Mann wußte nun keinen bessern Rath, als die Leute des Kirchenspiels zusammenrufen zu lassen und den Elternlosen auf dem Wege der Versteigerung an den Wenigst-nehmenden loszuschlagen. Das Geschäft war eben in vollem Gange; ein Bauer machte das Gebot, die Verköstigung für achtzehn Schillinge Monatgeld übernehmen zu wollen, als Hjelm aus dem Wagen stieg, um dieser Licitation eigener Art zuzusehen. Da schleppte sich ein altes Weib, auf einen Stock gestützt, zu ihm hin, und legte ihre Hand auf seine Schulter. Unwillig über eine solche Vertraulichkeit wandte sich der Baron gegen sie, die Alte ließ sich jedoch durch seine zürnende Miene nicht abschrecken.
„Denk’ Er an das, was ich Ihm gesagt habe,“ raunte sie ihm in die Ohren, „heute ist es seit jenem Abend, wo die Kleine geboren ward, das Erstemal, daß Er über einen Weg fährt, und hier ist Gelegenheit zu einer guten Handlung.“
So redend verschwand Lisbeth; Hjelm fand sich von ihren Worten getroffen, er ging zum Vogte hin, der ihm auf seine Zusage, das Kind unentgeltlich aufzuziehen, dieses gern überließ. Die Baronesse rümpfte freilich die Nase, als ihr Gemahl mit dem kleinen, schmutzigen Knaben auf den Armen, zum Wagen hintrat, aber der Baron war Herr im Hause, Alles ward geordnet, und acht Tage später ließen sie den Knaben taufen und unter dem Namen „Theodor,“ was soviel als „Gottesgabe“ bedeutet, in das Kirchenbuch von Egvad eintragen. –
Als nun die beiden Kinder größer wurden, gaben sich auch ihre verschiedenen Sinnesanlagen zu erkennen. Theodor hatte eine auffallende Unlust zu jeder sitzenden Beschäftigung; er bildete den vollkommensten Gegensatz zur kleinen Cili, wie man sie nannte. Es war unmöglich, ihm Etwas zu lehren, was mit Nachdenken verbunden war und Ausdauer erforderte; dagegen war er ein trefflicher Schütz und ganzer Jäger. Er konnte schwimmen wie ein Fisch, lief mit dem Sturmwinde um die Wette, und wenn er zuweilen Cili mit auf seine Streifzüge verlockte, fand man sie Beide am Damme außen, in einem losgebundenen Boote sich herumtreibend, oder der verwegene Knabe stieg auf eine von den Tannen, die an der Rückseite des Schloßes standen, während das zarte Mädchen im Garten stehend zu ihm hinaufsah und in kindlicher Freude in die Händchen klatschte, wenn sie den lieben Bruder so hoch oben sah.
Je älter die Kinder wurden, desto fester ketteten sie sich aneinander, merkwürdig genug, da Cili, wie gesagt, den vollkommensten Gegensatz zu Theodor bildete; es war umsonst, daß ihr die Baronesse bei jeder Gelegenheit einschärfte, welcher Unterschied zwischen ihr und dem Bruder herrsche; und eben so wenig half es, daß sie ihr erzählte, was die alte Frau über ihr künftiges Schicksal geweissagt habe. Mutter Lisb’ kam ja selbst, wenn sie so auf den Feldern außen spaziren gingen, ohne daß Jemand darum wußte, sehr oft zu ihnen, liebkoste Beide, und bat sie allzeit, sich lieb zu haben. – So wurden die Kinder dreizehn Jahre alt, Theodor konnte mit genauer Noth lesen, desto besser verstand er aber mit seiner Büchse umzugehen. Er hatte sich einen großen Hund abgerichtet, der nun sein beständiger Begleiter auf allen seinen Ausflügen ward. Zuweilen mehrere Tage von Lönborg abwesend, wußte Niemand, wo er sich die Zeit über aufhielt; die lange, dunkelbraune Haide war sein Tummelplatz und liebster Aufenthaltsort, er kannte die Gegend auf einen Umkreis von vielen Meilen eben so gut, wie der Hase sein Lager kennt. Sein Charakter erlitt bedeutende Veränderungen, oder richtiger, die verborgenen Keime desselben entwickelten sich immer mehr und mehr, aber das Verhältniß zwischen ihm und Cili blieb immer dasselbe. Es schien, als ob sie sich noch fester an den Jungen anschließe; innig und herzlich, wie wenn Beide nur eine Seele hätten.
Um diese Zeit ereignete es sich, daß die Schwester der Baronesse nach Lönborg kam und den Wunsch äußerte, das junge Fräulein mit nach Copenhagen zu nehmen, um dort deren Erziehung zu vollenden. Frau Hjelm war über dieses Anerbieten sehr erfreut, weil sie darin einen Ausweg sah, die Kinder von einander zu trennen, was sie bis jetzt vergeblich versucht hatte. Cili selbst schien daran Gefallen zu finden, sie erzählte es Theodor, und noch am nämlichen Abend will man sie im Garten unten mit der alten Lisb’ in eifrigem Gespräche gesehen haben. Theodor fuhr fort zu singen und zu jubeln wie vorher, am nächsten Morgen aber, als der Wagen der Schwester vor der Thüre hielt, suchte man ihn und Cili vergebens, – sie waren spurlos verschwunden, auch der [171] Hund des Jungen war fort. Der Baron ließ die ganze Gegend durchsuchen, aber vergeblich; die Verschwundenen kamen nicht zurück, und seit jenem Tage sah man Mutter Lisb’ nie mehr in Lönborg.
Man kann sich wohl denken, daß die Eltern über dieses Ereigniß, das sie so unerwartet überraschte, in tiefe Trauer versanken. Der Baron erwartete in den ersten vier Tagen jeden Augenblick die Rückkehr der Kinder; er konnte sich gar nicht denken, daß sie für immer fortbleiben sollten. Die Baronesse verzweifelte, denn Cili war ja ihr einziges Kind, ihre Freude und ihr Stolz, sie war ihr Alles. – Auf diese Weise vergingen mehrere Jahre, die Zeit milderte wohl den Schmerz der Eltern, brachte ihn aber nicht in Vergessenheit.
Es war an einem späten Sommerabende, während der Baron und seine Gemahlin im Garten sich ergingen, als auf einmal im Hofe ein großer Lärm entstand. Ein Diener des Barons stürzte auf ihn zu und blieb mit dem athemlosen Ausrufe: „Gnädiger Herr! Karo ist zurückgekommen!“ vor ihm stehen. Der Baron wußte Anfangs nicht, was der Diener damit meinte, aber in demselben Augenblicke fuhr ein großer, graugefleckter Hund mit freudigem Bellen auf ihn zu; und siehe! – es war der Hund, den Theodor abgerichtet hatte und der mit ihm verschwunden war. Eine frohe Hoffnung durchleuchtete die Seele der Baronesse, sie nahm die Rückkehr des Thieres als ein Zeichen an, daß auch sein Herr in der Nähe sein müsse. Nachdem der Gutsherr den Diener ausgefragt, wann und von welcher Seite Karo gekommen sei, ließ er alle Leute den Hofes zu Pferde steigen, ritt selbst an der Spitze voraus, und dann ging es voller Eile über die Haide hin, um wo möglich den Flüchtlingen auf die Spur zu kommen. Der Gutsherr befehligte die erste Hälfte und zog gegen Vostrup hin; die zweite Abtheilung von einem alten, verabschiedeten Trompeter angeführt, der auf Lönborg das Gnadenbrod erhielt, gen Tarm und Skjärnaa. Diesem letzten Trupp folgte Karo als Wegweiser.
Schon brach die Nacht herein, die Luft war von der Hitze des vorhergehenden Tages noch ziemlich warm, und die Blumen beugten ihre durstigen Häupter zur Erde und schlürften den fallenden Thau. Kaum vermochten die Eilenden zwei Schritte vorauszusehen, so dick war der Nebel, der von Feld und Moos aufdampfte, die Rohrdommel sang unten im Schilfe bei Skjärnaa, und die Fledermaus flatterte lustig von einer Stelle zur andern.
Unten in einem Hohlwege bei Tarm lagen vier baumstarke, breitschulterige Männer und hielten ihre Abendmahlzeit. Sie hatten eben ein Lamm geschlachtet und brieten es an einem Torffeuer, das in dunkelrothen Flammen emporloderte. Man hatte Mühe, aus dem Gespräche, das diese Leute führten, klug zu werden; sie sprachen eine fremde, aber volltönende Sprache, und begleiteten dieselbe mit lebhaften Geberden. Als das Mahl geendet war, steckten sie die Reste zu sich, jeder nahm seine Thonpfeife hervor, stopfte und zündete sie an, und dann streckten sie sich gemächlich auf der Erde aus. Es verging wohl eine Stunde, ohne daß ein Wort gesprochen ward. Jeder schien seinen eigenen Betrachtungen überlassen. Plötzlich ertönte in der Nähe Hundegebell, die Männer stutzten, erhoben die Köpfe und flohen mit gewaltigen Sätzen tiefer in die Haide hinein; aber die Verfolger waren ihnen auf den Fersen, der alte Trompeter hatte sie gesehen, bevor sie sich flüchteten, er setzte ihnen nach und holte den Einen von den Männern ein, der hinter den drei Andern zurückgeblieben war. Mit einem jubelnden Freudengeschrei band der alte Kriegsmann Hände und Füße des Unbekannten zusammen, während Karo’s klagendes Gebell kund gab, daß sie den in ihre Gewalt bekamen, den sie gesucht hatten. Der Gefangene ward gebunden auf ein Pferd gesetzt, des Trompeters Getreue umringten ihn, und so ging es über Stock und Stein wieder nach Lönborg zurück.
Der Baron war bereits heimgekommen und ließ den Gefangenen gleich vor sich führen. Es war ein junger Mann mit kohlschwarzen, gekräuselten Haaren und feurigen, glänzenden Augen. Man konnte sich keine schönere Figur, noch ein richtigeres Ebenmaaß denken, als das, welches man hier sah, der bloße Anblick dieses Menschen war auffallend und eindrucksvoll. – Hjelm stutzte, er betrachtete ihn fest und steif, als ob er seinen eigenen Augen nicht traue. Die Baronesse warf nur einen Blick auf ihn, und stieß dann einen Schrei aus, – es war Theodor, der vor ihr stand! In einen Winkel gedrückt suchte er, lautlos, ihren Blicken zu entgehen, und that, als ob er die Ehrennamen, mit denen ihn sein Pflegevater überhäufte, nicht hörte. Wenn er ja einmal emporschaute, so fuhren seine Augen schnell und scheu von einem Gegenstande im Zimmer zum andern. Er glich einem gefangenen Wilden, der zum Erstenmal in eine europäische Wohnung kommt. Vergeblich fragte der Baron nach Cili, Theodor biß die Lippen zusammen und schwieg; endlich ging die Baronesse zu ihm hin, legte ihre Hand auf seinen Arm und fragte mit dem freundlichsten Tone: „Warum schweigst du? Wo ist Cili? Sprich, mein Sohn! ich bitte dich darum.“
Er schüttelte den Kopf und erwiederte nichts.
„Theodor!“ fuhr sie weinend fort, „vergiltst du auf diese Weise die Liebe deiner Pflegeeltern? Siehst du meine Angst nicht? Wo ist meine Tochter?“
Diese Worte schienen ihn plötzlich zu wecken, er erhob das gebeugte Haupt, betrachtete die Baronesse eine Zeitlang mit glänzenden Augen, und rief dann mit tiefer und hohler [172] Betonung: „Cili? – Ich weiß nichts von ihr, ich habe mich nie um Andere bekümmert.“ –
„Und wo hast du dich seit deiner Abwesenheit umhergetrieben?“ fragte Hjelm in einem milderen Tone, als vorher, „warum verließest du uns?“ –
„Weil ich nicht Lust hatte, hier länger zu bleiben!“ murmelte er leise und sank wieder in die vorige Stille zurück.
„Gut, Junge! Gut!“ schrie der Gutsherr erbittert. „Ich will dir reden lehren. Morgen führe ich dich nach Ringkjöbing und übergebe dich den Händen der Gerichte!“ – Er schellte und gab dem Trompeter, der indessen mit gezogenem Palasch und zwei großen Reisepistolen in den Seitentaschen vor der Thüre außen Wache gehalten hatte, den Auftrag, ihn zu binden und dann in die Thurmkammer hinaufzuführen. „Dort kannst du die Nacht über sitzen!“ rief er, als man Theodor fortführte, „und wenn du morgen nicht gutwillig eingestehst wo sich meine Tochter befindet, laße ich dich nach Ringkjöbing bringen; du hast die Wahl!“
Der Gefangene warf einen wohlwollenden, gerührten Blick auf die Baronesse hinüber und ließ sich dann ohne Widerstand fortführen.
In derselben Nacht sahen die Leute von Lönborg eine leichte, weißgekleidete Gestalt, mit einem Lichte in der Hand, im Aufgange zum Thurme verschwinden; es war Frau Hjelm, die noch einen Versuch machen wollte, das Herz des jungen Menschen zu rühren. Als sie in den Thurm kam. war Theodor verschwunden. Schon wollte sie die Kammer wieder verlassen, als sie zufällig zum Fenster hinauf sah; eine dunkle Gestalt saß zusammengekrümmt in der Fensterwölbung; Theodor hatte sich der Bande befreit, zwei von den Eisenstangen zur Seite gebogen, und wollte eben durch die Oeffnung schlüpfen, als die Baronesse die Kammer aufschloß und eintrat.
„Theodor!“ rief sie mit zitternder Stimme, „was treibst du? Ich komme dich zu befreien.“
„Ich habe es selbst gethan!“ erwiederte er kurz und suchte die letzte Eisenstange zu lösen; das Eisen gab nach, fiel in den Thurm herein, und er stieg durch die Oeffnung.
„Und mein Kind? Was ist aus dem geworden? Theodor!“ schrie die Baronesse in fürchterlicher Angst, „Theodor! hörst du nicht! wo ist meine Cili?“
Er schien sich auf eine Antwort zu bedenken, doch plötzlich gewann sein besseres Gefühl die Oberhand, er neigte sich zurück und flüsterte: „Fürchte nichts, gute Frau! Cili hat es gut; sie vermißt Nichts.“ – Das waren seine letzten Worte. Er verschwand, und ein dumpfer, hohler Schlag tönte über den ganzen Hof, wie wenn ein schwerer Körper von einer bedeutenden Höhe herabgestürzt wäre; die Baronesse kehrte weinend in ihr Zimmer zurück. Als der nächste Morgen kam, war der Gefangene verschwunden; Niemand konnte begreifen, wie er aus dem Thurme kam, der sechzig Fuß hoch und ringsherum von spitzen Feldsteinen umgeben war.
Wer junge Wölfe nährt am eignen Herde,
Der nährt für ihren Raub auch seine Heerde.
Saxo Grammaticus.
Seit dieser Nacht waren sieben Jahre vergangen. In all’ dieser Zeit hatte man auf Lönborg von den Verschwundenen nichts mehr gehört. Die Sorge untergrub die Gesundheit der Baronesse, und auch bei dem Gutsherrn konnte man die Spuren des Grames deutlich sehen, sein Haar wurde grau, und das Alter beugte ihn vor der Zeit. Nirgends waren die verlassenen Eltern mehr zufrieden, die Heimath war ihnen verhaßt, und wenn sie zu Fremden kamen, erinnerte sie der Anblick von Kindern allzeit an das, was sie verloren.
Es war im Herbste, die Haide stand voll Blumen und der Wind pfiff kalt und schneidend vom Meere herein, als Beide in einer Abendstunde von einem Herrenhofe heimfuhren, wo sie acht Tage zugebracht hatten. Der Baron fand die Gegend sehr unheimlich, er war schlechter Laune und blickte ernst und finster vor sich hin. Da kam des Weges daher eine Schaar Männer ihnen entgegen, die in kurzen Zwischenräumen einige heisere, langgezogene Töne ausstießen. Ueberrascht, auf eine so seltsame Weise die Stille der Steppe unterbrochen zu sehen, ließ der Gutsherr anhalten, um den Zug besser in Augenschein nehmen zu können.
Es waren Leute, die sehr gut zu der Stelle paßten, auf der sie sich herumtrieben; ihre Haare waren von der Farbe der Nacht, und ihre Gesichter so dunkel und fahl wie die Heide, über die sie hinschritten. Es konnten wohl Zwanzig sein; die Größten von dem Zuge trugen eine große Kiste auf [173] den Schultern, die in eine Pferdedecke eingewickelt war. Es mußte unter ihnen etwas Seltsames vorgefallen sein, das sah man hinlänglich aus ihrem langsamen, abgemessenen Gange und dem trauernden Ausdrucke ihrer wilden Gesichter. Voran ritt ein junger Mann auf einer abgemagerten, alten Mähre, er hatte einen großen, weißen Stab in der einen Hand, und leitete sein Thier mit der andern.
Während Hjelms und seiner Frau Aufmerksamkeit auf die Ankommenden gerichtet war, erhob sich ein altes, bleiches Weib von einem Graben in der Nähe, wo sie bis jetzt gesessen hatte. Sie ging zum Wagen hin und rief mit hohler Stimme: „Steig’ herab, Mann! auch Du, Frau! ich will Euch zeigen, was Euer Herz wünscht!“
Ueberraschung und Schrecken überfiel das Ehepaar bei diesen Worten. In dem eisigen Tone, womit die Alte sprach, lag Etwas, das in ihrem Innern jede Saite zum Zittern brachte. Mechanisch stiegen sie aus und folgten der Alten. Sie ging quer über die Haide hin auf die Männer zu, die sich bis jetzt mit langsamen Schritten vorwärtsbewegt hatten, und nun stille hielten, während sie die Kiste auf die Erde niederstellten; darauf wandte sie sich mit folgenden Worten gegen den Anführer: „Sieh’ einmal auf, lieber Sohn! hier ist Jemand, den du wohl kennst!“ Der Mann erhob sein Haupt, die Baronesse fuhr erschreckt einen Schritt zurück, denn sie schaute in das todtenbleiche, schmerzbewegte Antlitz Theodors.
„Komm’ näher, Mann!“ rief die Alte und trat zur Kiste hin; sie zog die Decke weg, und öffnete die Truhe. Drinn lag ein junges Weib, in ein grobes, aber reines Tuch eingehüllt, einen Thimiankranz um die Locken gewunden. Die Baronesse erbleichte beim Anblick dieser Leiche, in diesen Zügen irrte sie sich nicht, sie waren in ihr Herz eingegraben. Sie stieß einen durchdringenden Schrei aus: –„Cili! mein einziges, mein verlornes Kind!“ – Die Mutter sah ihre Tochter wieder. –
Es war ein erschütternder Anblick, diese Gruppe zu sehen. Der Baron weinte laut, Theodor beugte sich über das Pferd hin, um seine Thränen zu verbergen, nur die alte Lisbeth stand anscheinend gleichgültig an der Seite der Leiche. Sie stützte sich auf ihren Stab, ihre langen, weißen Haare flatterten im Winde.
„So mußte ich dich wieder treffen!“ rief endlich die Baronesse, indem sie sich von der Leiche erhob, vor der sie hingesunken war. „So sollte es erfüllt werden, Lisb’!“
„Es ist erfüllt!“ – erwiederte die Hexe mit kreischender Stimme. „Deine Tochter war Königin eines großen Volkes!“
„Wie?“ rief Hjelm, „erkläre dich, Weib!“ –
„Sieh’ hin vor Dich!“ – fuhr die Alte fort. „Sieh’ hin, den Du Theodor nennst, er ist der Größte von uns Allen; Eure Tochter war sein Weib, sie war unsers Königs Königin. Doch laßt uns jetzt in Friede, wir müssen die Todte begraben.“ Mit diesen Worten schloß die Alte die Truhe, hüllte sie in das Tuch ein, und die Männer hoben sie wieder auf ihre Schultern, um die unterbrochene Wanderung fortzusetzen. Hjelm wollte es verhindern, und die Tochter in seinem Familienbegräbnisse beisetzen lassen; die finsteren und feindlichen Blicke der Zigeuner sagten ihm jedoch deutlich, wie unnütz dieser Widerstand sei. Er ging dann zu Theodor hin und bat ihn, nach Lönborg zu kommen, wenn er zurückkehre. Dieser nickte stillschweigend mit dem Kopfe, gab den Männern ein Zeichen, und der ganze Zug setzte sich wiederum in Bewegung.
Die Familie zog nach Lönborg zurück und wartete am nächsten Tage vergeblich auf Theodor. War es nun Furcht vor Strafe, oder hatte er einen andern Grund, der ihn zurückhielt, genug, er kam nicht. – Am nächsten Morgen fand man am Ende vom Egvadkirchhof einen frisch aufgeworfenen Erdhügel, mit Blumen bepflanzt, das war das Grab der Königin, und noch viele Jahre darnach ward es geschmückt, ohne daß man wußte, von wem es geschah.
Einen Monat später trug man eine Leiche in Hjelms Familienbegräbniß hinab, – es war die der Baronesse.
– So lautet die Sage von der Königin. –
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Zwei Löwen gingen einst selband
In einem Wald spazoren,
Und haben da von Wuth entbrannt
Einander aufgezohren.
Da kamen eines Tags daher
Des Wegs zwei Leute, edel,
Die fanden von dem Kampf nichts mehr,
Als beider Löwen Wedel.
Daraus geht nun für Groß und Klein
Die weise Lehr’ hervor:
„Selbst mit dem besten Freunde dein
Im Walde nie spazor!“
Copenhagen. Die Zeit schreitet rüstig vorwärts; sie ist ihren Kinderschuhen entwachsen und erregt die schönsten Hoffnungen. Mit dem Fortschreiten der Zeit erwartet jeder (wie auch ganz natürlich) ein Fortschreiten alles dessen, was in der Zeit existirt, also auch der Musik. Lange Zeit begnügte man sich mit süßem Liebesgirren, mit dem Flöten der Nachtigall und dem Kuhreigen, allein „Anderes wollen andere Zeiten,“ und als die Schäferzeit vorüber war, ertönte der mächtige Klang zusammenschmetternder Schwerter und diesem Klange entsprechende Lieder. Als diese endlich verhallt waren, blieben jedoch die erweckten Leidenschaften zurück, und man hat mit Freuden bemerkt, daß in der Musik einige sehr rühmenswerthe Fortschritte im Ausdrucke der menschlichen Leidenschaften sowohl, als in Nachahmung der empörten Natur gemacht werden; ich will unter anderem nur der hochgehenden See und dem Rollen des Donners Erwähnung thun, in welch' letzterem das Meiste geleistet, und die Natur beinahe noch übertroffen wurde.
Ein Hinderniß steht den jetzigen Componisten im Wege, welches sie hemmt, den oben genannten Weg mit Glück zu verfolgen, und welches viele abschreckt, auszuharren. Dieses längst gefühlte Hinderniß, welches den Componisten unmöglich macht, Ausgezeichnetes zu leisten, besteht in der Unvollkommenheit der Instrumente.
Einige der größten Musiker der Jetztzeit, dieses Uebel wohl erkennend und einsehend, daß ohne Abhülfe desselben nichts Gutes geleistet werden könne, verwandten eines Theils selbst ihre besten Kräfte zur Lösung dieses Problems, andern Theils munterten sie junge Genie’s im Fache der musikalischen Mechanik hiezu auf. Allein ihr ehrenwerthes Streben wurde mit keinem Erfolge gekrönt, und erst einem talentvollen jungen Manne, den wir mit Stolz den Unsern nennen, war es ausbehalten, diese Aufgabe einigermaßen zu lösen und wenigstens dem nothwendigsten Bedürfnisse abzuhelfen. Das Ganze wird wohl am deutlichsten, wenn ich die Worte dieses ausgezeichneten Mannes selbst gebrauche, wie selbe im gelesensten musikalischen Journale unserer Stadt stehen. – Nachdem er zuerst in der Einleitung auseinandersetzt, woran es jetzt noch in der Musik mangle, beginnt er, wie folgt:
Durch die Noth der Musiker resp. Componisten bewogen, überlegte ich oftmals im Stillen, wie dieser wohl abzuhelfen sei, und mein guter Genius flüsterte mir einen Gedanken ein, den ich jetzt schon zum Theil realisirt habe und der die schönsten Früchte verspricht. Der Sohn eines vermögenden Gutsbesitzers, hatte ich Gelegenheit, die mannichfachen Hausthiere zu beobachten, und da ich in jeder Hinsicht tolerant bin, so dehnte ich meine Beobachtungen auch auf diejenigen Thiere aus, welche unter den Zweigen der Eiche ihre Nahrung suchen. Von Natur mitleidig, stets geneigt dem Schwachen beizustehen und den Verachteten zu Ehren zu bringen, war ich ein eifriger Beobachter und Vertheidiger dieser Thiere. Durch einen glücklichen Zufall entdeckte ich, daß unter gewissen Umständen jedes derselben, je nachdem man es auf den Rüssel schlägt oder am Schwanze zieht, einen herrlichen Baß- oder Sopranton von sich gebe. Hierauf gründete ich mein Instrument, welches vollkommen geeignet ist, alle Töne von der wildesten Verzweiflung bis zu den zartesten Tönen der Liebe hervorzubringen. Mehr zu sagen, verbietet mein eigener Vortheil, da ich entschlossen bin, mir hierauf ein Patent geben zu lassen, und ich will hier nur soviel erwähnen, daß zur Auswahl der Stimmen ein feines Ohr und ein richtiger Takt gehört, um den Zeitpunkt nicht zu versäumen, in welchem dieselben wie die eines italienischen Sängers fixiert werden müßen. NB. Die dänische Nationalhymne, welche neulich mit einem solchen Instrumente ausgeführt wurde, war von unbeschreiblicher Wirkung.
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Der Teufel war sehr übel auf,
Und stund ihm schier sein Leben drauf;
Drum wollt’ er in die Kirche gehen
Und von der alten Art abstehen;
Nachdem er aber genommen ein
Und wieder kommen auf die Bein’:
Hat er’s als wie zuvor getrieben,
Und ist der alte Teufel blieben.
München, Verlag von Braun & Schneider. – Papier und Druck von Fr. Pustet in Regensburg.
- ↑ Im Original: „Santa“.