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Fingerhütchen

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Textdaten
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Autor: Conrad Ferdinand Meyer
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Titel: Fingerhütchen
Untertitel:
aus: Gedichte
Herausgeber:
Auflage: 1. Auflage
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1882
Verlag: Verlag von H. Haessel
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Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Google-USA* und Scans auf Commons,
S. 23
Kurzbeschreibung:
           Artikel in der Wiktionary
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[23] Fingerhütchen.

 Liebe Kinder, wisst ihr, wo
 Fingerhut zu Hause?
 Tief im Thal von Acherloo
 Hat er Herd und Klause;

5
Aber schon in jungen Tagen

Muß er einen Höcker tragen,
 Geht er, wunderlicher nie
 Wallte man auf Erden!
 Sitzt er, staunen Kinn und Knie,

10
 Daß sie Nachbarn werden.


 Körbe flicht aus Binsen er,
 Früh und spät sich regend,
 Trägt sie zum Verkauf umher
 In der ganzen Gegend,

15
Und er gäbe sich zufrieden,

Wär’ er nicht im Volk gemieden;
 Denn man zischelt mancherlei:
 Daß ein Hexenmeister,
 Daß er kräuterkundig sei

20
 Und im Bund der Geister.


[24]
 Solches ist die Wahrheit nicht,
 Ist ein leeres Meinen,
 Doch das Volk im Dämmerlicht
 Schaudert vor dem Kleinen.

25
So die Jungen wie die Alten

Weichen aus dem Ungestalten –
 Doch vorüber wohlgemut
 Auf des Schusters Räppchen
 Trabt er. Blauer Fingerhut

30
 Nickt von seinem Käppchen.


 Einmal geht er heim bei Nacht
 Nach des Tages Lasten,
 Hat den halben Weg gemacht,
 Darf ein bischen rasten,

35
Setzt sich und den Korb daneben,

Schimmernd hebt der Mond sich eben:
 Fingerhut ist gar nicht bang,
 Ihm ist gar nicht schaurig,
 Nur daß noch der Weg so lang,

40
 Macht den Kleinen traurig.


[25]
 Etwas hört er klingen fein –
 Nicht mit rechten Dingen,
 Mitten aus dem grünen Rain
 Ein melodisch Singen:

45
„Silberfähre, gleitest leise“ –

Schon verstummt die kurze Weise.
 Fingerhütchen spähet scharf
 Und kann nichts entdecken,
 Aber was er hören darf,

50
 Ist nicht zum Erschrecken.


 Wieder hebt das Liedchen an
 Unter Busch und Hecken,
 Doch es bleibt der Reimgespan
 Stets im Hügel stecken.

55
„Silberfähre, gleitest leise“ –

Wiederum verstummt die Weise.
 Lieblich ist, doch einerlei
 Der Gesang der Elfen,
 Fingerhütchen fällt es bei,

60
 Ihnen einzuhelfen.


[26]
 Fingerhütchen lauert still
 Auf der Töne Leiter,
 Wie das Liedchen enden will
 Führt er leicht es weiter:

65
„Silberfähre, gleitest leise“

– „Ohne Ruder, ohne Gleise.“
 Aus dem Hügel ruft’s empor:
 „Das ist dir gelungen!“
 Unterm Boden kommt hervor

70
 Kleines Volk gesprungen.


 „Fingerhütchen, Fingerhut,“
 Lärmt die tolle Runde,
 „Faß dir einen frischen Mut!
 Günstig ist die Stunde!

75
Silberfähre, gleitest leise

Ohne Ruder, ohne Gleise![WS 1]
 Dieses hast du brav gemacht,
 Lernet es, ihr Sänger!
 Wie du es zu Stand gebracht,

80
 Hübscher ist’s und länger!


[27]
 Zeig dich einmal, schöner Mann!
 Laß dich einmal sehen!
 Vorn zuerst und hinten dann!
 Laß dich einmal drehen!

85
Weh! Was müssen wir erblicken!

Fingerhütchen, welch ein Rücken!
 Auf der Schulter, liebe Zeit,
 Trägst du grause Bürde!
 Ohne hübsche Leiblichkeit

90
 Was ist Geisteswürde?


 Eine ganze Stirne voll
 Glücklicher Gedanken,
 Unter einem Höcker soll
 Länger nicht sie schwanken!

95
Strecket euch, verkrümmte Glieder!

Garst’ger Buckel, purzle nieder!
 Fingerhut, nun bist du grad,
 Deines Fehls genesen!
 Heil zum schlanken Rückengrat!

100
 Heil zum neuen Wesen!“


[28]
 Plötzlich steckt der Elfenchor
 Wieder tief im Raine,
 Aus dem Hügelrund empor
 Tönt’s im Mondenscheine:

105
„Silberfähre, gleitest leise

Ohne Ruder, ohne Gleise.“
 Fingerhütchen wird es satt,
 Wäre gern daheime,
 Er entschlummert laß und matt

110
 An dem eignen Reime.


 Schlummert eine ganze Nacht
 Auf derselben Stelle,
 Wie er endlich auferwacht,
 Scheint die Sonne helle:

115
Kühe weiden, Schafe grasen

Auf des Elfenhügels Rasen.
 Fingerhut ist bald bekannt,
 Läßt die Blicke schweifen,
 Sachte dreht er dann die Hand,

120
 Hinter sich zu greifen.


[29]
 Ist ihm Heil im Traum geschehn?
 Ist das Heil die Wahrheit?
 Wird das Elfenwort bestehn
 Vor des Tages Klarheit?

125
Und er tastet, tastet, tastet:

Unbebürdet! Unbelastet!
 „Jetzt bin ich ein grader Mann!“
 Jauchzt er ohne Ende,
 Wie ein Hirschlein jagt er dann

130
 Über Feld behende.


 Fingerhut steht plötzlich still,
 Tastet leicht und leise,
 Ob er wieder wachsen will?
 Nein! in keiner Weise!

135
Selig preist er Nacht und Stunde,

Da er sang im Geisterbunde –
 Fingerhütchen wandelt schlank,
 Gleich als hätt’ er Flügel,
 Seit er schlummernd niedersank

140
 Nachts am Elfenhügel.


Anmerkung (Wikisource)

  1. Vorlage: Schließendes Anführungszeichen