Fingerhütchen
[23] Fingerhütchen.
Liebe Kinder, wisst ihr, wo
Fingerhut zu Hause?
Tief im Thal von Acherloo
Hat er Herd und Klause;
Muß er einen Höcker tragen,
Geht er, wunderlicher nie
Wallte man auf Erden!
Sitzt er, staunen Kinn und Knie,
Körbe flicht aus Binsen er,
Früh und spät sich regend,
Trägt sie zum Verkauf umher
In der ganzen Gegend,
Wär’ er nicht im Volk gemieden;
Denn man zischelt mancherlei:
Daß ein Hexenmeister,
Daß er kräuterkundig sei
[24]
Solches ist die Wahrheit nicht,
Ist ein leeres Meinen,
Doch das Volk im Dämmerlicht
Schaudert vor dem Kleinen.
Weichen aus dem Ungestalten –
Doch vorüber wohlgemut
Auf des Schusters Räppchen
Trabt er. Blauer Fingerhut
Einmal geht er heim bei Nacht
Nach des Tages Lasten,
Hat den halben Weg gemacht,
Darf ein bischen rasten,
Schimmernd hebt der Mond sich eben:
Fingerhut ist gar nicht bang,
Ihm ist gar nicht schaurig,
Nur daß noch der Weg so lang,
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Etwas hört er klingen fein –
Nicht mit rechten Dingen,
Mitten aus dem grünen Rain
Ein melodisch Singen:
Schon verstummt die kurze Weise.
Fingerhütchen spähet scharf
Und kann nichts entdecken,
Aber was er hören darf,
Wieder hebt das Liedchen an
Unter Busch und Hecken,
Doch es bleibt der Reimgespan
Stets im Hügel stecken.
Wiederum verstummt die Weise.
Lieblich ist, doch einerlei
Der Gesang der Elfen,
Fingerhütchen fällt es bei,
[26]
Fingerhütchen lauert still
Auf der Töne Leiter,
Wie das Liedchen enden will
Führt er leicht es weiter:
– „Ohne Ruder, ohne Gleise.“
Aus dem Hügel ruft’s empor:
„Das ist dir gelungen!“
Unterm Boden kommt hervor
„Fingerhütchen, Fingerhut,“
Lärmt die tolle Runde,
„Faß dir einen frischen Mut!
Günstig ist die Stunde!
Ohne Ruder, ohne Gleise![WS 1]
Dieses hast du brav gemacht,
Lernet es, ihr Sänger!
Wie du es zu Stand gebracht,
[27]
Zeig dich einmal, schöner Mann!
Laß dich einmal sehen!
Vorn zuerst und hinten dann!
Laß dich einmal drehen!
Fingerhütchen, welch ein Rücken!
Auf der Schulter, liebe Zeit,
Trägst du grause Bürde!
Ohne hübsche Leiblichkeit
Eine ganze Stirne voll
Glücklicher Gedanken,
Unter einem Höcker soll
Länger nicht sie schwanken!
Garst’ger Buckel, purzle nieder!
Fingerhut, nun bist du grad,
Deines Fehls genesen!
Heil zum schlanken Rückengrat!
[28]
Plötzlich steckt der Elfenchor
Wieder tief im Raine,
Aus dem Hügelrund empor
Tönt’s im Mondenscheine:
Ohne Ruder, ohne Gleise.“
Fingerhütchen wird es satt,
Wäre gern daheime,
Er entschlummert laß und matt
Schlummert eine ganze Nacht
Auf derselben Stelle,
Wie er endlich auferwacht,
Scheint die Sonne helle:
Auf des Elfenhügels Rasen.
Fingerhut ist bald bekannt,
Läßt die Blicke schweifen,
Sachte dreht er dann die Hand,
[29]
Ist ihm Heil im Traum geschehn?
Ist das Heil die Wahrheit?
Wird das Elfenwort bestehn
Vor des Tages Klarheit?
Unbebürdet! Unbelastet!
„Jetzt bin ich ein grader Mann!“
Jauchzt er ohne Ende,
Wie ein Hirschlein jagt er dann
Fingerhut steht plötzlich still,
Tastet leicht und leise,
Ob er wieder wachsen will?
Nein! in keiner Weise!
Da er sang im Geisterbunde –
Fingerhütchen wandelt schlank,
Gleich als hätt’ er Flügel,
Seit er schlummernd niedersank
Anmerkung (Wikisource)
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