Felix
Herr Felix von Pranten, seit Kurzem wohlbestallter Hülfsarzt an der Augenklinik des Doctor Pflummern in Cleebronn, saß heute ganz wider seine Gewohnheit nachdenklich am Fenster. Neben ihm lag zwar Ruete’s Lehrbuch der Ophthalmologie, augenscheinlich aber – darauf deutete die unberührte Lage Staub auf dem Deckel hin – hatte er das Buch noch nicht geöffnet. Die an dem jungen Mann befremdende Stimmung konnte also nur ein Artikel der Zeitung hervorgerufen haben, die er in der Hand hielt. Plötzlich aufspringend, maß er das Zimmer mit großen Schritten. Nach ein paar Rundgängen trat er an das Fenster zurück, hob den guten, zu Fall gekommenen Ruete auf und nahm die Zeitung von Neuem vor.
Halblaut las er folgende Anzeige: Wer geneigt wäre, einer Blinden – wöchentlich an drei Nachmittagen – vorzulesen, wolle sich Frauengasse Nr. 18 melden! Gutes, verständnißvolles Lesen ist Bedingung.
„Frauengasse 18 – 18!“ wiederholte er, „das ist sie.“
Wieder begann das ruhelose Wandern. Vielerlei Gedanken, die sich bald zu Plänen entwickelten, kreuzten durch Pranten’s Kopf. Vor einigen Tagen war nämlich eine junge Dame von auffallender, lichter Schönheit in der Klinik gewesen: sie hatte ihn sofort auf’s Lebhafteste gefesselt, und um so tiefer, als sich bei der Untersuchung herausgestellt, daß die Art ihres grauen Staares selbst bei einer glücklichen Operation keine sichere Aussicht auf günstigen Erfolg bot. Vielleicht ewige Blindheit für dieses scheinbar von allen Göttern begnadigte Geschöpf! Wie sehr Pranten auch an Schweres in der Beziehung gewöhnt war, so viel Schönheit und solch unsägliches Weh gehörte einmal nicht zu einander. Mit einem Ausruf der Ungeduld, der beinahe wie etwas verschlucktes Böses klang, schien der junge Mann endlich in sich einig geworden zu sein und eilte nach dem Schlafzimmer, um seinen Anzug zu wechseln.
Kurze Zeit darauf wurde – gerade nicht sanft – in Nr. 18 der Frauengasse die Glocke gezogen, und Pranten, in tadelloser Besuchstoilette (auf die er gern hielt), übergab seine Karte. Während das Mädchen ihn anmeldete, war er schwach genug, sein üppiges Haar vor dem im Hausflur hängenden Spiegel durch geniale Bürstenstriche aufzulocken. Freilich bildete dieses Haar eigentlich seinen einzigen äußeren Schmuck; besonders war an dem großen Kopfe, welcher selbst der hochaufgeschossenen Figur gegenüber allzu stark hervortrat, alles bis auf das Haar häßlich. Daher führte wohl auch der fast traurige Blick, mit dem Pranten sich in die Augen sah, unverwandt, als lohnte es überhaupt nicht, die andern Theile seines Gesichts, die eingebogene Nase, diesen unschönen Mund und das vierkantige Kinn, noch irgend welcher Aufmerksamkeit zu würdigen. Er kannte da wohl seit lange alle Züge, und so häufig er sie auch zergliederte, niemals hatte ihre Häßlichkeit in milderem Licht erscheinen wollen.
Mit einem Seufzer wandte sich Pranten der Treppe zu und folgte dem inzwischen wiedergekehrten Mädchen nach einem Altan, der auf der Rückseite des Hauses herausgebaut war. Den kleinen Raum nahm beinahe vollständig eine Art von Laube ein, die auf’s Einfachste durch Heraufziehen von wildem Wein hergestellt war. Dennoch hatte die Laube etwas luftig-phantastisch Zierliches: die Capitäle der schlanken Säulen, auf welchen das Dach ruhte, waren von feiner alter Steinhauerarbeit und traten überall mit ihren Akanthus- oder Palmenblättern gefällig aus dem Geranke des Weines hervor, das sie nur wie Festons umflatterte.
Pranten erkannte auf den ersten Blick in der jüngeren der beiden Damen, vor welche das Mädchen eben eine Schale mit Erdbeeren setzte, die Blinde, welche ihm in der Klinik aufgefallen war.
Mit einer stummen Frage in dem schmalen, runzelvollen Gesicht trat ihm die ältere Dame entgegen; Pranten bat, sich nicht stören zu lassen, nahm rasch Platz und fuhr in seiner lebhaften Weise fort:
„Um jeder Unklarheit zuvorzukommen – Ihre Annonce im Tageblatt hat mich hergeführt.“
Die ältere Dame lehnte sich mit einem Zuge beginnender Reserve in ihren Sessel zurück und musterte den Ankömmling, der sich für solche Stellung sehr ungenirt zu benehmen schien, die Blinde aber, welche nur auf sein klangvolles, sonores Organ gelauscht hatte, rief von Freude:
„O, Sie wollten das wirklich übernehmen?“
„Wenn wir uns über die Stunden einigen können!“ antwortete Pranten, ohne durch die abweisende Kälte seiner stummen Nachbarin im Mindesten beunruhigt zu werden.
„Meiner Cousine, Frau Assessor Ballingen“ – die einander Vorgestellten verneigten sich auf’s Förmlichste – „wird ein stundenlanges Lesen schwer,“ erwiderte die Blinde; „so kamen wir auf den Gedanken, nach Hülfe auszuschauen. Wie freundlich, wenn sich unser Wunsch, kaum entstanden, schon erfüllen sollte!“
„Du bist zu sanguinisch,“ bemerkte die Frau Assessor mit leichtem Hüsteln, „wir sind ja über die Bedingungen des Herrn von –“ [658] „Pranten! alte gute Familie!“ ergänzte dieser lachend und fuhr fort: „Meine Bedingungen? Ah, die sind herzlich einfach: Mittwoch und Sonnabend Nachmittag habe ich frei, wie in goldener Kinderzeit, könnte also ganz nach der Damen Wunsch erscheinen. Die Stunden des dritten Nachmittags – etwa Montags? – müßten sich allerdings nach meinem Dienst richten, also nach fünf Uhr gelegt werden; wie Ihnen meine Karte gesagt haben wird, bin ich Hülfsarzt in der Pflummern’schen Klinik. Damit ist Alles erschöpft, was ich an Bedingungen zu stellen hätte. Darf ich nun die Ihrigen hören?“
„Ja, aber,“ fiel Frau Ballingen mit vorwurfsvollem Blick auf die Blinde ein, welche den Worten des jungen Mannes lächelnd zugehört hatte, „damit ist doch unmöglich Alles erschöpft? Sie sind uns völlig fremd, wir Ihnen; meine Cousine würde sich ebenso wenig wie ich dazu verstehen können, ein solches Opfer ohne – ohne –“
„Eine Gegenleistung anzunehmen,“ unterbrach sie Pranten ernsthaft. „Gewiß, das begreife ich. Augenblicklich scheint ja die ganze Welt ein großer Handelsplatz; eigentlich ist Alles käuflich, und Jeder, der Fürst wie der Bettler, macht Geschäfte. Natürlich darf ein bloßer Baron, dabei ein armer, keine Ausnahme machen, ob seine Ahnen auch dem Grundsatz huldigten, daß im Handel der Adel erlischt. Auch seine Freistunden haben ihren Werth und sind daher meistbietend loszuschlagen. Bieten Sie also, gnädige Frau, oder lieber Sie, mein Fräulein, ich würde gern erfahren, wie hoch gerade Sie meine Freistunden anschlagen.“
Eine Pause der Verlegenheit entstand. Zwar schien Alles scherzend hingeworfen, dennoch hatte sich, dem Sprecher vielleicht unbewußt, hie und da ein Ton von Bitterkeit durchhören lassen, der geschont sein wollte. Das empfand wenigstens eine seiner Zuhörerinnen wie eine Nothwendigkeit und suchte nach einem zarten Uebergang. Doch schon löste Pranten’s heitrer Uebermuth die kleine Spannung mit den Worten:
„Fordere ich zu viel, wenn ich für zwei Stunden, wie ich hoffe, erträglichen Lesens eine gute Tasse Kaffee mit – denken Sie darum nicht gering von meiner Männlichkeit! – mit Kuchen fordere? Kaffee ohne Kuchen ist einmal für mich wie Schönheit ohne Anmuth.“
Cousine Ballingen konnte nicht umhin, einen milderen Blick auf ihr Gegenüber zu werfen, da eine ihrer wenigen Schwächen auch in „Kaffee mit Kuchen“ bestand. Sie paßten doch in etwas zu einander, denn im Uebrigen erschien ihr die Möglichkeit, mit diesem sans façon Baron als halbem Hausgenossen verkehren zu sollen, durchaus nicht sympathisch.
Die Blinde dagegen rief heiter: „Das bringt uns aber um keinen Schritt vorwärts, denn es versteht sich doch von selbst, daß Sie den Kaffee mit uns nehmen. Auch darf ich Ihnen versichern, daß es ein Ehrenpunkt für meine Cousine ist, stets ein vortreffliches Stückchen Kuchen bereit zu halten.“
„Eine ebenso schätzbare wie reizvolle Eigenschaft!“ richtete Planten sich verbindlich an die Frau Assessor. Dann wandte er sich ernst zu der Blinden. „Ich will offen sein: ich war vor einigen Tagen bei der Untersuchung Ihrer Augen in unserer Klinik zugegen, und die Art, in welcher der Staar bei Ihnen auftritt, interessirt mich. Doctor Pflummern scheint mir diesmal allzu dunkel zu sehen; nach meiner, allerdings erst geringen, Erfahrung möchte ich glauben, daß wir auch Ihren Staar trotz seiner Größe bezwingen werden, sobald nur der des linken Auges erst reif geworden ist.“
„O, wirklich? Mein Gott, welche Hoffnung!“ jubelte die Blinde auf, indem sie ihre zarten Hände unwillkürlich faltete.
„Nur nicht zu sanguinisch, liebste Josephine!“ Sanguinisch war ein Lieblingswort der Frau Assessor. „Du hörst ja, es ist eine bloße Ansicht des Herrn Baron.“
„Sie heißen Josephine?“ fragte Pranten rasch.
Die Blinde nickte.
„Dann müssen Sie mir erst recht gestatten,“ fuhr Pranten fort, „über das Vorschreiten Ihrer Blindheit gleichsam zu wachen. Josephine ist ein Lieblingsname von mir, der meines Pflegemütterchens und einer Jugendfreundin. Schon um dieser Erinnerungen willen darf ich nicht leiden, daß Jemand, der Josephine heißt, einen Tag länger blind bleibe, als nöthig. Nicht wahr, nun sehen Sie auch ein, daß es geradezu nothwendig ist, mir das Amt Ihres Vorlesers anzuvertrauen?“
„Aber –“ begann Frau Ballingen –
„Kein Aber mehr!“ unterbrach sie Pranten. „Als ich Ihre Anzeige las, trieb mich ein unabweisbares Gefühl hierher; ich empfand gleichsam körperlich die Macht einer unbewußten Führung; bei dergleichen soll man nie achtlos bleiben. Und wirklich, so lieb und angenehm ein paar in Damengesellschaft verlebte Stunden auch erscheinen mögen, hier, in diesem Falle, spricht der Arzt in mir ebenso voll mit wie der Mensch. Fräulein Josephine, bei Ihnen – verzeihen Sie, gnädige Frau, doch wir Sehenden haben da zurückzutreten, einzig bei dem Fräulein liegt die Entscheidung: darf ich übermorgen mein Amt antreten?“
In dem Tone Pranten’s, in der ganzen Art seines Sprechens lag etwas durchaus Einfaches; dennoch erzwang es gleichsam die Gewährung seiner Bitte.
So erwiderte Josephine denn, während Blässe und Röthe in ihrem Antlitz wechselten:
„Zwar ist solche Güte ungewöhnlich, Herr Baron, doch auch in mir spricht etwas dafür, daß ich Ihre Gründe gelten lasse und Ihre Aufopferung ohne vieles Klügeln annehmen möge.“
„Dürfen Sie es wirklich Aufopferung heißen,“ versetzte Pranten warm, „daß ich zwei Stunden, welche ich sonst auf dem Sopha oder im Kreise meiner Tischgenossen zubringen würde, nun in Ihrer und eines guten Buches Gesellschaft verleben soll? Thun Sie damit nicht ebenso viel für mich, wie ich für Sie? Oder vielmehr: Sie können nicht ahnen, in welchem Grade Sie mir Gutes erzeigen würden, während mein Verdienst Ihnen in gleicher Weise zu Gute kommen würde, wenn Sie fortführen von Zeit zu Zeit die Klinik zu besuchen.“
„Dieser Besuch der Klinik,“ entgegnete Josephine, „ist aber eine wahre Marter für mich; die Aufregung bei dem Gedanken, wieder dorthin gehen zu müssen, macht mich jedesmal tagelang vorher leidend.“
„Und das letzte Mal,“ setzte Frau Ballingen hinzu, „mußten wir beinahe zwei Stunden warten, ehe die Reihe an Josephine kam. Mir war in der Hitze und unter den vielen Wartenden so unwohl geworden, daß ich früher nach Hause fuhr.“
„Für die Zukunft also,“ sagte Pranten sich erhebend, „sind Sie von allen Fahrten nach der Klinik erlöst. In einer Person ist hiermit der Vorleser und Hausarzt angeworben, bis Sie Beide wieder verabschieden; möge der Abschied – ich will versuchen völlig selbstlos zu sein – bald gegeben werden können!“
„Darüber bestimmen wir ja nicht,“ versetzte Josephine leise.
Sie reichte ihm die Hand, welche Pranten mit festem Druck umschloß.
„Somit auf Wiedersehen!“ sagte er und verließ den Altan.
Die Frau Assessor hatte Pranten’s Verbeugung freundlicher erwidert, als man nach ihrer anfänglichen Kühle hätte vermuthen dürfen; das nunmehrige Fortfallen aller Klinikbesuche, die Doctor Pflummern unbedingt gefordert und welche ihr ganzer Schrecken gewesen, hatte sie milder gestimmt. Diese Milde wäre wohl der Schilderung zugute gekommen, die sie eben auf Josephinens Frage nach der äußern Erscheinung ihres künftigen Vorlesers geben wollte, als das Mädchen einen neuen Besuch meldete.
Die beinahe athemlos hereinstürzende Dame, Frau Kanzleiräthin Schussenried, nahm sich heute nicht die Zeit, mit der Freundin die beiden gewohnten Küsse zu wechseln, oder nur ihrem Pathchen die Hand zu streicheln; schon im Eintreten begann sie:
„Goldene Kinder, dieser Pranten kam von Euch? Was wollte er? Ein schrecklicher Mensch! Das war ein Student! Der erste Krakehler: immer gleich auf die Mensur! Er ist es ja gewesen, der meinem armen Willy die Lippen zerhauen. Und getrunken hat er und trinkt noch! Ueberall soll er der Letzte sein. Mein Gott, warum antwortet Ihr mir nicht? Hattet Ihr nach ihm geschickt? Ist etwas passirt mit Josephine?“
„Nichts, nichts!“ rief diese lächelnd. „Du frägst nur so viel auf einmal, daß man mit der Antwort ‚nicht gerathen kann’, wie Du zu sagen pflegst.“
„Er will die Vorleserei übernehmen!“ fiel Frau Ballingen beunruhigt ein.
„Unmöglich, rein unmöglich!“ erklärte die Räthin.
„Auch mir hat die Idee mit dem Vorlesen von vornherein [659] widerstrebt,“ versicherte Frau Ballingen. „Hätte Josephine nicht darauf bestanden, wenigstens den Versuch zu machen, ich für meine Person hätte mich nie dazu entschließen können.“
„Aber beste Adelheid,“ sagte Josephine mit leichter Ironie, „Dich ermüdete das Lesen immer.“
„Doch nur,“ unterbrach diese, „weil Du Dich in letzter Zeit auf wissenschaftliche Werke capricirst! Denke Dir, Malchen, sie wollte neulich sogar die Philosophie eines gewissen Unbewußten kaufen.“
Die Räthin schauderte, benutzte aber gleichzeitig das Verstummen der Freundin und bat, indem sie sich hastig an Josephine wendete:
„Kindchen Du mußt mir versprechen, diesen Pranten nicht mehr über die Schwelle zu lassen! Sein Ruf ist durchaus nicht danach, daß er sich zum Vorleser für ein anständiges junges Mädchen eignet; ich glaube, ich hörte von der Wallhausen sogar etwas von einem Verhältniß mit einer Schenkmamsell! Gott, man behält dergleichen nicht, ich will mich aber sofort genauer erkundigen; jedenfalls dürft Ihr Euch noch nicht binden.“
„Leider ist das so gut wie geschehen,“ erwiderte Frau Ballingen mißmuthig. „Ich habe öfter gehustet, um Josephine zur Vorsicht zu mahnen, sie schien das jedoch absichtlich zu überhören.“
„Er hat solche durch und durch offene Art, sich zu geben, und ein so schönes, edles Organ!“ warf Josephine hin.
„Er hätte wirklich etwas Schönes an sich?“ rief die Räthin mit hellem Auflachen; „denn im Uebrigen ist er mein Ideal von einer Vogelscheuche. Dieser Riesenkopf mit dem fürchterlichen Munde und den Schlitzaugen – nicht wahr, Adelheid, wenn Phine sehen könnte, wäre bei ihrer Empfindsamkeit von vornherein gedankt worden?“
„Wenn ich sehen könnte,“ sagte Josephine mit einem herben Lächeln, „hätte er uns allerdings nicht aufgesucht.“
„Wie kam er denn überhaupt darauf, sich bei Euch einzuführen?“ fragte die Räthin. „Habt Ihr ihn in der Klinik kennen gelernt?“
„Nein!“ erwiderte Josephine. „Zwar muß er bei der Untersuchung gegenwärtig gewesen sein, er bezog sich darauf, aber ich erinnere mich nicht, ihn sprechen gehört zu haben. Unsere Annonce hat ihn hergeführt.“
„Kind!“ rief die Räthin, „dahinter steckt etwas; das lasse ich mir nicht nehmen. Wie in aller Welt käme sonst gerade er dazu, sich für diesen Dienst zu melden! Wir dachten doch an einen armen Studenten oder irgend eine Hülfslehrerin. Er hat ja sein Brod, wenn es auch noch so klein wäre. Jedenfalls sind die paar Thaler nicht die Hauptsache.“
„O,“ fiel Frau Ballingen ein, „er beansprucht, wie es mir vorkommt, gar kein Honorar; eine Tasse Kaffee hat er sich ausbedungen.“
„Du vergißt den Kuchen!“ setzte Josephine ernsthaft hinzu.
„Es wird immer verdächtiger!“ brach Frau Kanzleiräthin Schussenried los, „kein Honorar, nur Kaffee, wie für ein Familienmitglied! Meine arme Taube“ – sie drückte und streichelte dabei Josephinens Hände – „ich sehe Dich schon in seinen Krallen. Glaubt mir, er hat es bereits herausgebracht, daß Du wohlhabend bist und – und –“
„Ich bin blind!“ unterbrach sie Josephine sanft.
„Was gilt solchem Menschen Blindheit!“ fuhr die Räthin auf, „und die Deinige, welche doch über kurz oder lang gehoben wird! Dein Geld ist ihm –“
„Liebe Pathe,“ versetzte Josephine erregt, „Alles hat seine Grenzen. Baron Pranten ließ uns offen in seine Gedanken und Absichten blicken, und so lange mich nicht bestimmte Thatsachen von der Unwahrheit seiner Angaben überzeugen, dürfte –“
„Auf die Gedanken und Absichten des Herrn Barons wäre ich unendlich neugierig,“ fiel die Räthin scharf ein, indem sie ihr Spitzentuch mit einem Ruck an sich zog.
„Das sind recht einfache Absichten!“ erwiderte Josephine ruhiger. „Ihm füllen sich dadurch ein paar müßige Stunden, und den Arzt interessirt außerdem die Weiterbildung meiner Art von Staar.“
„Das kann er bei den Patienten in der Klinik ebenso gut haben,“ erklärte die Kanzleiräthin, ihr Tuch wieder loslassend. „Was ist da auch zu verfolgen? Ich sage noch einmal und Ihr werdet es erleben: dahinter steckt mehr. Nun, Adelheid, Du wenigstens halte die Augen offen! Wir wollen gleich zur Wallhausen gehen. Kinder, ich gebe ja gern zu, daß ich gegen diesen Monsieur Pranten eingenommen bin; mein armer Willy hat noch dann und wann sein Zucken in den Lippen, aber was unklar, ist unklar, und Noth kennt kein Gebot. Seine Eltern sind im Elend verkommen; der Vater war ein stadtkundiger Trunkenbold und der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Wenn ich es denke, mein Pathchen, meine Josephine!“ Fast wie eine Thräne glänzte es da im rechten Auge, und die Küsse, die sie auf Josephinens Wangen preßte, bewiesen geräuschvolle Innigkeit, dennoch streifte sie mit einem Schütteln die ungewohnte Anwandlung wieder ab und sagte, indem sie sich rasch erhob: „Aber so weit sind wir noch nicht. Hören wir von der Wallhausen bestimmt Gravirendes, so wirst Du selbst einsehen, daß ihm abgeschrieben werden muß. Deine, unser Aller Ehre käme in’s Spiel.“
„Gewiß, beste Pathe,“ erwiderte Josephine, „ich verspreche Dir, sobald der Ruf des Herrn von Pranten zu Bedenken Anlaß giebt, von meinem Wunsche abzustehen, so schwer mir das auch fiele.“
„O, deshalb brauchst Du von Deinem Wunsche nicht abzustehen,“ rief die Räthin erleichtert, „ich kann Dir jedenfalls eine Vorleserin besorgen. Eine von den Kindergärtnerinnen aus der Schule meiner Schwester –“
„Allerdings ein Unterschied!“ sagte Josephine müde.
„Doch unbedingt viel passender für uns,“ betonte Frau Ballingen und nickte der Freundin beistimmend zu.
Diese fuhr mit den Blicken gen Himmel und hob die Schultern viel höher, als man für möglich gehalten hätte, dann sagte sie mit Salbung:
„Liebes Kind, wie oft müssen wir ein viel tieferes Verlangen bekämpfen, sterben sehen – begraben!“ Dazu schwangen sich ihre Seitenlocken wie graue Trauerglöckchen hin und wider; als sie ausgeschwungen, fuhr sie fort: „Sind wir nicht auch da? Im Nothfall löse ich Adelheid gern ab. O, man rühmte meinen Vortrag; im Theekränzchen habe ich einmal die Thekla gelesen, und Herr Assessor Huber, der eben aus der Residenz kam, behauptete, so Etwas nie gehört zu haben.“
Josephine beugte den Kopf herab: ein kleines, mildes Lächeln glitt wie ein rosiger Anhauch über ihre Züge. Frau Schussenried achtete nicht darauf und nahm in weicher Stimmung Abschied. Frau Adelheid begleitete sie.
Als die Thür sich hinter den Damen geschlossen und die kreischende Stimme der Räthin verhallt war, schien es Josephine auf einmal, als erklänge in weiter Ferne Pranten’s herrliches Organ. Und dieser Klang sollte einem Verlorenen angehören können? Nimmermehr! Viel eher einem Unglücklichen. – Sie versank in Sinnen.
Hätte Pranten geahnt, welchen Sturm im Wasserglase er heraufbeschworen, wie herzlich hätte er lachen müssen! Auf die Möglichkeit eines so gefährlichen Naturereignisses kam er aber nicht. So schlenderte er denn harmlos seiner Wohnung zu, allerdings in jener Art gehobener Stimmung, die jedem Gelingen nachklingt.
Sein Häuschen, das ebenso dicht mit wildem Wein bedeckt war, wie das Haus in der Frauengasse, kam ihm heute ganz besonders freundlich vor. Er blieb, was er nie gethan, davor stehen und fand bald, dieser anheimelnde Zug rühre von der Beleuchtung her: die Abendsonne, die eben in Wolken versank, warf so verklärende Strahlen über Alles. Vielleicht hatte es auch einen anderen Grund, doch wer kann Alles und Jedes ergründen?
Sogar den Gartentheil, welcher die Klinik von seiner Wohnung schied, dieses grüne Laubgewirr, nur dicht am Hause von ein paar Blumenbeeten und am Gange von hochstämmigen Rosen, die in voller Blüthe standen, unterbrochen – selbst dieses Fleckchen Erde würdigte Pranten zum ersten Mal einer gewissen Aufmerksamkeit. Es war ihm, als hätten dort noch nie so viele Blumen auf einmal geblüht, gerade wie zu Sträußen gemacht. Zu Sträußen? Doch warum nicht? Junge Damen pflegen Blumen zu lieben. Welche Blume wohl in Nr. 18 bevorzugt würden? Unbedingt Rosen, und er hatte, wie neulich Frau [660] Doctor Pflummern ausdrücklich betont, über die Rosen des ganzen Ganges zu verfügen.
„Schön! sehr schön!“
Mit diesen halblaut gesprochenen Worten trat Pranten in sein Zimmer. Die kleine Schwarzwälderin nebenan hob eben aus. Er blieb stehen und zählte wie in Erwartung ihre Schläge. „Schon Sieben!“ Sich auf dem Absatz umdrehend, begann er etwas zu pfeifen, was stark nach einer der leichtfertigsten Melodien aus der „Schönen Helena“ klang, wechselte dabei, weniger aus Wirthschaftlichkeit, als aus Nothwendigkeit, da sein Hofschneider Müller erklärt hatte, nicht ferner borgen zu können, den momentan einzigen standesgemäßen Anzug und verließ das Haus.
Ohne den geringsten Umweg, als brächte jede Minute Verspätung einen unersetzlichen Verlust mit sich, eilte Pranten heute sogar durch Winkelgäßchen, die er sonst vermied, nach dem „Grafenbräu“. Man empfing den frischen, beliebten Mann mit fröhlichen Zurufen, die lebhaft erwidert wurden; die braune Hulda brachte seinen Maßkrug, mit „eben Angestochenem“ gefüllt, dann nahm der Abend seinen ewig gleichen Verlauf. Hier und da ein Stückchen Interessantes aus dem Leben eines Alten, ein paar überdreiste Geschichten, wohl auch etwas Kannegießerei, zwischendurch immer wieder Hulda und später vor Allem die wichtige Abendbrodfrage, deren Erledigung Stunden hinnahm. Unterdeß bot eine Blumenmaid Rosenknospen an, und der Mann der schwedischen Säkerhets-Tändstickor, die uralte Zeitungsverkäuferin, ein Italiener mit seinen mandoli unterbrachen die oder jene längst bekannte Geschichte. Endlich bemerkte ein Aelterer, daß die Tabakswolken beinahe undurchdringlich geworden, daß man die letzte Halbe bestellen müßte. Als sie getrunken war – lange nach Mitternacht – verließ die Gesellschaft in sichtlicher Unbeholfenheit Einer nach dem Andern das „Grafenbräu“.
Pranten war, wie leider gewöhnlich, einer der Allerletzten und steuerte durchaus mannhaft, jedoch mit einer gewissen gespreizten Energie, seiner Wohnung zu. Den guten Göttern dank, träumte die Frau Kanzleiräthin längst vom schönen Assessor Huber, als Pranten unter ihren Fenstern hinstelzte: sie hätte sonst gewiß wieder allerlei Böses in sein spätes nach-Hause-Kommen hinein gebraut. Und doch hatte sich dieser eben so lobenswerth benommen, eben dem leichtsinnigen Krüger widerstanden, der ihn noch durchaus mit in das Nachtcafé zerren wollte, aus welchem die heiseren Soprane klangen und das wüste Bravogeschrei. Sonst war er wohl mitgegangen, warum heute nicht? Er dachte darüber, lächelte still und sah zur Venus empor, die allein am Himmel herrschte; wie von Blitzgefunkel umrissen war in dem Augenblicke, als ihn Krüger hereinziehen wollte, ein hauchzarter Kopf vor ihm aufgetaucht – hatte der ihn wirklich am Eintreten gehindert? Vielleicht – Vielleicht auch bloße Müdigkeit? Ah! – nur Müdigkeit!
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Es war Mittwoch Nachmittag gegen drei Uhr und ein blauer, luftfrischer Julitag; hier und da schwammen wohl schimmernde Wölkchen am Himmel hin, doch alle so schleierleicht , daß sie die Strahlen der Sonne nur mildern, nicht verhüllen konnten.
Auf dem runden Tische des Altans in der Frauengasse sah es festlich aus; die blaßgelbe Tischdecke mit den eingewebten weißen Rosensträußen fiel in schweren Falten nieder; in einer Krystallvase dufteten die am Morgen geschnittenem Blumen; das alte silberne Kaffeebrett prangte mit Sèvresgeschirre, und daneben standen die dazu gehörigen Teller mit verschiedenen Sorten von Kuchen, die zu wahrhaften kleinen Bergen aufgeschichtet waren.
Die Frau Kanzleiräthin mußte nichts von größerem Belang gegen den Ruf des Barons in Erfahrung gebracht haben. Oder hatte sie überhaupt die ganze Angelegenheit aufgegeben? Das pflegte ihre Art zu sein, wenn sie von vornherein auf einen Widerstand stieß, der augenscheinlich nicht leicht zu überwinden war – kurz, sie war zu Cousine Ballingen’s Verdruß nicht mehr erschienen und die Vorlesestunde also in Aussicht. Denn Josephine hatte nach längerem Ueberlegen fest darauf bestanden, um bloßer Klätschereien willen nicht auf einen Genuß zu verzichten, den sie in ihrer augenblicklichen Lage nicht hoch genug anschlagen konnte. Geistige Anregung war ihr tiefes Bedürfniß geworden, und was konnte ihr in dieser Richtung ihre Umgebung bieten? Seit dem Tode des Vaters, also seit Jahr und Tag, entbehrte sie schon eine angeregte Unterhaltung. Ihrem Herzen war es, als habe das Schicksal es gütig mit ihr vor; warum hätte es sonst Pranten so unabweisbar, wie dieser selbst gestanden, zu ihr getrieben! Was brauchte sie überhaupt das Gerede einer Welt zu kümmern, in welche sie nicht gehörte, die ihr stets mehr als fern gestanden!
So wartete sie denn mit einer gewissen frohen Unruhe des Kommenden und lauschte immer, sobald unten die Glocke ging. Endlich ein festerer Zug . – Tritte auf der Treppe – das mußte der Baron sein. Und er war es.
Mit einem Lachen, das schon vor ihm hergeschallt, ehe er eingetreten, begrüßte er die Dame und fragte, ein Buch auf den Tisch legend: „Hören Sie hier nichts von der tollen Musik, welche drüben bei Schönhof ein Dudelsack mit zwei Flöten aufführt?“
„Nein!“ antwortete Josephine, „sobald der Wind nicht aus Süden kommt, hören wir selbst von den Concerten wenig.“
„Es war ohrenzerreißend,“ fuhr Pranten fort, indem er auf eine Handbewegung der Assessorin Platz nahm. „Wenn Italien nichts Besseres versendet, müßten alle Beziehungen mit ihm abgebrochen werden. Doch wie ist es Ihnen in der langen Zeit ergangen? Ein und ein halber Tag können Vielerlei bringen!“
„Uns haben sie wohl nichts gebracht,“ erwiderte Josephine.
„Du vergißt,“ fiel Frau Ballingen mit einem scharfen Zuge um den Mund ein, „den Besuch unsrer lieben Kanzleiräthin Schussenried.“
Der Name wurde ein klein wenig hervorgehoben.
„Hat diese Räthin etwa einen Sohn, der Willy heißt?“ fragte Pranten rasch.
„Gewiß!“ versetzte die Assessorin befriedigt. „Ein charmanter, bescheidener junger Mann.“
„Bescheiden?“ rief Pranten. „Das müßte eine Errungenschaft aus diesem Jahre sein! Als Student war er eigentlich ein böser Geselle; o, verzeihen Sie – steht er Ihnen wirklich nahe?“
„Bewahre!“ versetzte Josephine.
„Nun ich meine doch,“ fuhr Frau Ballingen auf, „von dem Sohne einer Jugendfreundin dürfte man wohl behaupten, daß er uns nahe steht, wenigstens näher –“
„Als der,“ unterbrach Pranten, „der es gewagt hat, ihm einen kleinen Denkzettel zu geben? Nun, wenn Sie das auch nicht ganz so deutlich sagen wollten, gedacht haben Sie doch wohl Aehnliches? Aber Sie werden mir die Gerechtigkeit widerfahren lassen, es mir nicht zu verübeln, wenn ich ihm nicht aus dem Wege ging. Ich war der Geforderte.“
„Sie gaben also doch den Anlaß?“
„Wie man es auffassen will!“ versetzte Pranten sinnend. „Das sind übrigens Jahre her,“ brach er dann plötzlich ab, „und der Grund dürfte kein Interesse für Sie haben. Ihre schlimme Meinung muß ich wohl versuchen auf eine andere Weise vergessen zu machen; außerdem können die Damen wirklich ruhig sein, Damen pflege ich nicht zu fordern.“
Pranten sah die Frau Assessorin dabei so ernsthaft treuherzig an, daß diese wider Willen lachen mußte.
Josephine hörte das mit Befriedigung. Ihr war schon jede Art von Gespräch zuwider, das sich in leichten gegenseitigen Spitzen erging, um wie viel mehr also dieser ziemlich offene Angriff ihrer Cousine. Sie hatte wie in Verlegenheit dagesessen, und brachte nun rasch mit der Frage: „Da Sie es bei uns voraussetzen, so haben die Tage wohl Ihnen etwas von Bedeutung gebracht?“ – das Gespräch auf ein anderes Thema.
[678] „Ich erlebe selten mehr etwas Neues,“ antwortete Pranten. „Heute Klinik, morgen Klinik, Mittags und Abends in Gesellschaft von Collegen und Bekannten, nicht einmal zum Geburtstage – er war vorgestern – einen Brief! Ob sich für mich überhaupt noch etwas ereignen kann? Und doch, ist es nicht ein Ereigniß, daß ich hier sitze?“
„Haben Sie denn keinen Freund, nirgends einen Verwandten mehr, daß selbst Ihr Geburtstag – so ohne Sang und Klang vorübergehen muß?“ fragte Josephine.
„Ich stehe ganz allein,“ entgegnete Pranten rauh. „Meine Eltern sind todt; Geschwister hatte ich nicht, und eigentlich auch keine Freunde. Für diesen Artikel war ich ein zu häßlicher Junge und prügelte immer die Gespielen, wenn sie mich neckten; selbst später – gnädige Frau, haben Sie Fräulein Harder noch keine Beschreibung von mir gemacht?“
Als Frau Ballingen verneinte, fuhr er lebhaft fort:
„O, wollten Sie das nicht in meiner Gegenwart thun? Das wäre einmal etwas Apartes, wieder ein Ereigniß! Und ich könnte corrigiren, was nicht dunkel genug, oder vielmehr zu nachsichtig aufgefaßt würde.“
„Warum nachsichtig?“ fragte Josephine betreten. „Muß ich Sie auf die glückliche Verschiedenheit des Geschmackes aufmerksam machen?“
„Ich stehe jenseits alles Geschmackes,“ entgegnete Pranten etwas heftig. „Aber es ist ja wohl tactlos, so viel von sich zu sprechen, und ich bin außerdem zum Lesen, nicht zum Plaudern engagirt. Würde Ihnen das Buch genehm sein, welches ich mitgebracht habe: Freytag’s ,Ahnen’?“
„Gewiß!“ erwiderte Josephine mit einem Gefühl der Erleichterung, „und welcher Zufall! ‚Ingo’ war das letzte Buch, das ich selbst gelesen.“
„Ja, der Zufall webt die Fäden wunderlich hin und her,“ sagte Pranten langsam. „Wenn man überhaupt von Zufall sprechen darf, wo sich doch Alles so gefügig eins aus dem andern herausarbeitet, Jeder selbst Kette und zugleich Glied einer endlosen Kette ist.“ Er warf den Kopf, wie über sich unzufrieden, empor und fuhr, in dem Buche blätternd, fort: „So beginnen wir also mit ‚Ingraban’?“
„Nein, nein, mit ‚Ingo’!“ bat Josephine. „Ich höre ihn mit tausend Freuden noch einmal. Ich bin gerade neugierig, ob ich auch im Anfange wieder das Gefühl von etwas Seltsamem haben werde. So ging es mir damals, doch schon nach einigen Seiten nahm mich der große Zug der Gestaltung voll hin und ich weiß, daß ich den Theil mit Spannung und hohem Genuß zu Ende las. Du kennst auch ‚Ingo’, nicht?“
Frau Ballingen, deren Gedanken sich noch immer mit dem Duell beschäftigt hatten und eine Möglichkeit aufzufinden suchten, von Pranten mehr darüber zu erfahren, weil sich damals selbst Willy’s Mutter in Schweigen gehüllt, schrak bei Josephinens Frage zusammen, antwortete jedoch tapfer mit einem gedehnten: „Nein.“ Glücklicher Weise erwartete man dieses Nein; es erfuhr also keinen Widerspruch, und nach einigem höflichen Hin und Wider über etwa noch vorhandene Wünsche Pranten’s begann dieser der „Ahnen“ Noth und Freud’.
Aehnlich dieser ersten Vorlesestunde gingen nach und nach viele hin. Anfangs immer ein leichtes Geplauder über kleine Erlebnisse oder Stadtneuigkeiten; dann las Pranten, und schließlich brachte der Kaffee, dem wohl noch ein Gang durch den Garten folgte, neues Plaudern, das, in der Regel durch das Gelesene angeregt, einen Zug nach dem Tiefern hatte. Manche Einkehr in die Vergangenheit, allerlei stille Zukunftwünsche oder Blicke in die verschiedenen Charaktere thaten sich von selbst auf. Man gewöhnte sich rasch an einander, und selbst die Frau Assessorin erwartete die Vorlesetage bereits mit dem angenehmen Gefühl, etwas Freundliches in Aussicht zu haben.
Die Anklagen der Räthin hatten sich nämlich eine nach der andern als offenbar böswillige Uebertreibungen herausgestellt, deren Urheberschaft stets auf Willy Schussenried zurückzuführen war. Außerdem hörte Frau Ballingen von competenter Seite, daß jenes Duell wegen eines armen, von Willy in rücksichtslosester Weise verlassenen Mädchens entstanden. Diese Thatsache brach vollends den Bann, welcher dem Baron gegenüber noch immer auf der Frau Assessorin gelegen hatte, und sie war jetzt auf dem besten Wege, sich ihm auf Gnade oder Ungnade zu ergeben, weil sie, nach Art aller gutmüthigen Naturen, sich nun gleichsam schuldig vorkam, und weil es ihr jetzt wie nothwendig erschien, dem so lange durch Mißtrauen gekränkten Manne fortan in doppelter Herzlichkeit entgegenzukommen.
Josephine hatte sich nichts vorzuwerfen, hatte immer gleich nachsichtig und voller Dankbarkeit sowohl zu Andern wie im eigenen Innern über Pranten geurtheilt; so brauchte sich in ihrem Wesen ihm gegenüber nichts zu ändern. Heute wie gestern war sie harmlos zufrieden erschienen und hatte ihm unbefangen gezeigt, daß sie die Stunden seines Kommens mit Vergnügen erwartete und daß es sie oft überraschte, wie schnell dieselben vergingen.
In dem Grade ihrer Blindheit war noch keine wesentliche Veränderung eingetreten; noch immer unterschied das linke Auge die Umrisse der Dinge zwar wie in Nebel zerrinnend, ohne jeden bestimmten Eindruck, aber noch durchaus mit dem vollen Empfinden ihres Daseins. Und bis nicht Alles um sie her in gleichmäßiger Dämmerung unterging, war ja keine Operation statthaft.
Auch Pranten’s Wesen, sein Thun und Treiben seiner nächsten Umgebung gegenüber, würde dem oberflächlichen Beobachter als völlig unverändert erschienen sein. Er konnte sich noch ebenso lebhaft wie früher mit Jedermann über jedes Unrecht ereifern, das gegen irgend Jemand zu irgend welcher Zeit begangen worden; er war am Tische des „Grafenbräu“ immer gleich offenherzig und ohne Rückhalt mit seiner oft wenig überlegten Meinung bei der Hand, und selbst für sein tägliches Nachhausekommen blieb die Geisterstunde die bevorzugte. Einmal in jüngster Zeit war er allerdings aus Ueberdruß oder Widerwillen, nachdem zufällig während einer Abendsitzung kein ernstes Gespräch durchgedrungen, zwei Abende hinter einander bei seinen Studien zu Hause geblieben, den dritten jedoch, als die Schwarzwälderin ihre sieben Schläge besonders laut – gleichsam mahnend – geschlagen, folgte er dem unwiderstehlichen Zuge, machte sich auf nach dem „Grafenbräu“ und bildete in alter Weise ein Stück Mittelpunkt der gewohnten Tafelrunde.
Nur eine Person hatte sich über ihn zu beklagen und that es auch, erst mit Worten und Schmollen, dann mit Geberden, welche die geringe Schätzung des Verlustes ausdrücken sollten, aber natürlich eher das Gegentheil bewiesen; dieser Jemand war die Oberkellnerin Hulda. Der Herr Baron hatte nämlich seit Wochen kaum noch einen Blick für sie übrig. Doch es war nun einmal leider nicht anders und blieb dabei; selbst der auffällige Mangel an Zwiebeln auf den Beefsteaks, Hulda’s ultima ratio, änderte Pranten’s Betragen nicht. Er hatte augenscheinlich keine Ahnung, daß Jemand eine Handlung oder Redensart von ihm vermisse.
Für den tiefer Blickenden mußte es längst zweifellos sein, daß etwas mit ihm vorging. Und seit wenigen Tagen war das auch für ihn selbst kein Geheimniß mehr.
Er hielt nicht viel davon, sich eingehend mit seinen Gefühlen zu beschäftigen, und war stets am liebsten irgend einem halb unbewußten Drange gefolgt, ohne weiter nach rechts und links auszuschauen. Er meinte plötzlich, in diesem oder jenem Hause müßte es behaglich zugehen; dorthin ging er, bis sich Hindernisse oder Ueberdruß einstellten; so hatte er es immer gehalten, und da er niemals Außergewöhnliches begehrt, war ihm auch meistens geworden, was ihm wünschenswerth erschienen.
In ähnlichem Sinne suchte er damals auch das Haus in der Frauengasse auf und hatte sich bisher nie eigentlich Rechenschaft darüber gegeben, was ihm die Stunden dort gleich Weihestunden aus der ganzen übrigen Woche heraushob. Wahrscheinlich wäre das auch noch längere Zeit so fortgegangen, wenn ihn bei dem letzten Zusammensein nicht ein Wort Josephinens aufgeschreckt hätte. Sie sprach nämlich von einem Besuche bei auswärtigen Verwandten und dem dadurch bedingten längeren Ausfall der Vorlesestunden. Der Plan war vor der Hand nur angeregt, noch keinerlei Entscheidung getroffen worden; dennoch beschäftigten sich Pranten’s Gedanken während der jüngsten Tage fortdauernd damit und fanden schließlich, daß schon die bloße Möglichkeit wahrhaft unerträglich wäre. Als er aber einmal so weit gekommen, hatte er natürlich auch den letzten Schritt vorwärts gethan; er wußte plötzlich, was ihn von Beginn an zu Josephine gezogen, und daß dieses Etwas während der Zeit gemeinsamen Verkehrs ganz in [679] der Stille eine Macht geworden war, über welche ihm bereits alle Gewalt abhanden gekommen. Und nicht mit Erschrecken empfand er das, nein, mit einem stürmischen Gefühl von Freude. Das war ja endlich die Liebe, nach der sich sein Herz so lange gesehnt; das konnte nicht bloße momentane Wallung wie alles Frühere sein.
Und so stark machte diese Liebe! Es kam ihm leicht, gleichsam selbstverständlich vor, daß er nun auch zu Josephine von ihr spräche; theilte sie nicht sein Fühlen? Wie leuchtend erschien ihre Freude, wenn er eintrat! Wie erblich ihr Antlitz, sobald die Scheidenszeit wieder herangekommen! O, Josephine konnte ihm ja gerecht werden, weil sie blind war und weil ihr Herz nicht durch das Auge zu ewigem Widerspruche gereizt wurde. Stimme zu Stimme, nicht Auge in Auge, war hier die Losung. Und steht im Grunde die Stimme dem Herzen nicht näher, als der vom Dienste der Sinne befangene Blick? Ist ihre Wahrheit nicht die tiefere Wahrheit?
Unter diesen Gedanken war wieder die dritte Nachmittagsstunde eines October-Mittwochs herangekommen, und Pranten beendigte eben eilfertig seine Toilette. Ehe aber Hut und Buch genommen wurden, ging er in sein Gärtchen und brach sich eine der beiden halberblühten Knospen, die ein Theerosenstock wie Schätze unter den großen dunkeln Blättern verborgen hielt. Die Knospe duftete noch so stark und würzig, als wäre sie ein Erstling, keine Letztgeborene.
Pranten war das aufgefallen, und als er zehn Minuten später Josephine die Knospe darbot, lieh sie eben derselben Empfindung Worte; er machte über diese Gleichartigkeit ihres Empfindens einen Scherz und war schon im Begriffe, neue Scherze, nur ernster gemeint, daran zu knüpfen, als es über die Züge Josephinens wie Schatten flog.
Mit dem scharfen Auge der Liebe erkannte Pranten, daß irgend etwas vorgefallen sein mußte, was ihre Unbefangenheit getrübt hatte; augenscheinlich würde eine Abschweifung in’s Gefühlsgebiet, wo sie sonst lächelnd Scherz mit Scherz zu erwidern pflegte, heute nicht zu wagen sein. Das gab ihm zu denken. Sollte er sich doch getäuscht haben, sollte Josephinens Fühlen nicht über ein gewisses einfach freundschaftliches Wohlwollen hinausgehen? Selbst die Assessorin schien heute etwas Zurückhaltendes zu haben.
Pranten’s Energie war wie verflogen. Nur schüchtern, jedenfalls viel wortkarger als gewöhnlich, führte er die Unterhaltung und athmete fröhlich auf, als die Zeit zum Fortgehen kam. Doch bevor er sich erhob, schlug Josephine einen Gang durch den Garten vor. Frau Ballingen hatte noch einen Brief zu schließen, und so ging das junge Paar voraus, Josephine, wie gewöhnlich, an Pranten’s Arm.
Sie schritten stumm die Treppe hinab und schwiegen noch, als sie schon den Haupttheil der alten Lindenallee gekreuzt hatten. Beiden erschien die gleichsam nächtige Stille, welche kaum von dem Rascheln der trockenen Blätter unterbrochen wurde, die Josephinens Kleid streifte, tief wohlthätig und voll so wehmüthigen Reizes, daß sie selbst vor dem Klange der eigenen Stimme wie vor etwas Störendem Scheu empfanden.
Endlich aber sagte Josephine: „Ihnen ist heute schwer zu Muthe. Sie sind fast so nachdenklich und einsilbig, wie damals, als Ihre erste große Operation bevorstand. Haben Sie wieder Patienten, die Ihnen Sorge machen?“
Sie fühlte, daß Pranten zitterte, und zog unwillkürlich ihre Hand so weit zurück, daß dieselbe lose, kaum bemerkbar auf seinem Arme lag. Er achtete dessen nicht; er sah nur unverwandt und ernst auf Josephine. Sein fortdauerndes Schweigen machte diese verlegen. Sie zog die Hand ganz von seinem Arme, und seitwärts an ein Gebüsch tretend, tastete sie an den Zweigen hin, als ob sie Blüthen suchte.
„Da blüht nichts mehr; es ist Herbst geworden!“ sagte Pranten. „Ueberall Herbst!“
Für Josephine war der eigenthümlich zitternde Ton, mit dem diese Worte gesprochen worden, etwas so Fremdes an ihrem Begleiter, daß sie sich jäh nach ihm umwandte, als könnte sie auf seinem Gesichte lesen, was ihn heute so anders als gewöhnlich stimmte. In demselben Augenblicke jedoch über ihre Hast erröthend, strich sie mit der Hand über die Stirn und fragte beklommen:
„Warum sagen Sie das mit so schmerzlichem Ausdruck?“
„Mich stimmt dieses Herbstgefühl,“ erwiderte Pranten, „sobald es erst ganz zum Bewußtsein gekommen, immer traurig, bis der Winter einzieht. Und in diesem Jahr vielleicht doppelt traurig, da sich nun doch Allerlei ändern muß – wenn es nicht gar endet.“
Er hatte versucht, die letzten Worte leicht hinzusprechen, für Josephinens erregtes Ohr klang aber noch deutlich derselbe wehe Ton durch.
Und dennoch vermochte sie es nicht, sofort auf etwas Anderes überzugehen: die Art, in der sich Pranten gab, übte einen wundersamen Reiz auf sie aus. So weich konnte dieser heitere, selten um irgend etwas ernstlich besorgte Mann werden! Sollte die Cousine mit ihren Anspielungen wirklich Recht behalten? Jemand könnte sie, die Blinde, die vielleicht für immer Blinde, lieb haben? Und nicht wie die Cousine sie lieb hatte: ganz anders, wie der Mann ein Weib liebt, der Geliebte – die Geliebte! Doch nein, nein! Der Gedanke war so thöricht!
Josephine strich wieder an den Zweigen des Gebüsches hin; welke Blätter rieselten nieder und mit denselben ein Schmetterling, die weißen Fittige kaum entfaltend.
Pranten sprach von dem Schmetterlinge, und als sie ein Wort des Bedauerns für den Verspäteten hatte, setzte er ihn auf ihre Hand.
„Dieses Symbol der Seele ist sehr müde,“ sagte Pranten leise, „wohl lebensmüde. Ob die Seelen wenn das Körperliche von ihnen gefallen, auch noch müde werden können? Lebensmüde, wie ihr Symbol hier? Wär’ etwa solche Müdigkeit, eine dann ewige, die ganze angedrohte Hölle? Was meinen Sie? Oder scheint auch Ihnen, wie meinem bös materialistischen Freunde Krüger, die Seele als ein vom Körper zu trennendes, für sich daseinsfähiges Geschöpf überhaupt nicht denkbar?“
„Darüber habe ich noch nie nachgedacht,“ erwiderte Josephine. „Mein Vater starb früher, als wir mit unseren Studien an irgend etwas Philosophisches herankamen; er wollte mich erst reifer werden lassen. So bin ich also nichts, als eine einfache evangelische Christin; ich habe dabei auch nie etwas entbehrt.“
Sie sagte das so schlicht und doch mit einem gleichsam besorgten Tone, einer schüchternen Art von Abwehr.
Ihn rührte diese Weise, und er versetzte rasch:
„Ich werde dergleichen nie mehr berühren – vergeben Sie! Man begegnet jetzt eben überall dieser sogenannten Aufklärung; Schüler wie Pensionsmädchen sind in der Regel schon über den Urgrund aller Dinge im Klaren; so hatte ich einen Augenblick vergessen, daß es auch noch lobenswerthe Ausnahmen giebt.“
„Sind diese Ausnahmen wirklich lobenswerth? Sprechen Sie im Ernst?“
„In vollem Ernst.“
„O, das freut mich.“
„Mein Fräulein, die praktischen Grundmaximen des Christenthums von der Nächstenliebe, der Geduld und Selbstlosigkeit werden durch keinen, von wem immer gebotenen Ersatz übertroffen werden. Wo Mensch mit Mensch zu verkehren, der Einzelne sich einer Allgemeinheit zu unterwerfen hat, da muß ewig Gesetz bleiben, was Christus zum Gesetz machte. Christus, nicht etwa seine Pfaffen! Etwas anders steht es wohl um denjenigen Theil seiner Lehren, der sich über unsere Mutter Erde emporschwingt; mit dem mag Jeder nach seiner Vernunft fertig oder nicht fertig werden – das bedeutet wenig, so lang er nur jenem Hauptcredo treu bleibt, dessen A und O die Liebe in ihren weitesten Beziehungen ist: von der Liebe zur Geliebten, zu den Eltern, Kindern, Nächsten – o durch alle Naturreiche bis zu solch undankbarem Schmetterling hinab, der eben seine Flügel regt – davonfliegt. Hörten Sie? er seufzte wenigstens dabei.“
„Leider sind meine Sinne weniger entwickelt, als die Ihrigen,“ antwortete Josephine lächelnd, „ich habe nichts gehört. Solch ein Schmetterlingsseufzer muß übrigens ganz etwas Apartes sein.“
„Nichts sonderlich Anderes als ein Menschenseufzer, das heißt ein gedachter oder geträumter.“
„Was man von Ihnen Alles lernt! Kann man Seufzer auch träumen?“
„Mindestens kann man davon träumen –“
„Träumen geträumt zu haben,“ ergänzte Josephine scherzend, „und das mag sogar träumerischer als ein Traum sein. Was sollte es aber eigentlich mit diesem Schmetterlingsseufzer auf sich haben? Muß ich wirklich fürchten –“
[680] „Ja, fürchten Sie nur: es sollte wohl etwas Thörichtes herauskommen.“
Es entstand eine Pause.
Plötzlich rief Pranten: „Glauben Sie übrigens, daß wir mitunter auch an dem, was wir als thöricht erkennen, so schwer zu tragen haben, wie an thatsächlichem Leid?“
„Wenn wir es als thöricht erkennen?“ fragte sie zweifelnd.
„Ein Beispiel! Sie müssen mir doch einräumen, daß uns die Vorlesetage Freude gemacht haben – und Ihnen auch? Sie wären unwahr, wenn Sie es leugneten –“
„Warum sollte ich das?“ warf Josephine ein, indem sie sich ihm voll zuwandte.
„Ich setze auch nur den Fall. Sehen Sie, nun könnte Jemand, zum Beispiel Sie, mit Recht behaupten, daß es sehr thöricht von mir sei, mich um das baldige Aufhören dieser Freude ernstlich zu bekümmern, da es sich doch nur um einen Ausfall von höchstens vier Wochen handle. Dennoch thue ich es, muß es thun –“
„Wirklich?“
„Und nicht in bloßen Worten; mir ist eben immer, als schlösse mit Ihrem Fortgehen das Ganze ab, als endete unser Verkehr damit.“
„O nein!“
„Ihnen thäte das auch weh?“ fragte er dringend.
„Gewiß, Herr Baron! Ihr Vorlesen –“
„Ach, mein Vorlesen,“ unterbrach er heftig, „ist leicht zu ersetzen. Wenn Ihre Pathe Schussenried die Thekla –“
„Seien Sie nicht wieder böse – –“
„Bin ich das schon gewesen?“
„Wenn die Pathe kommt!“
„Hat sie nicht jedesmal dies oder das an Ihnen auszusetzen? Zudem läßt das Gefühl nicht von mir, daß sie meine Widersacherin ist, Ihnen, wie besonders Frau Ballingen Ungünstiges über mich zutragen darf. Irre ich mich?“
Josephine erblaßte.
„Sie können es nicht leugnen!“ drängte Pranten, „und auch Sie glauben ihr, ich fühle das.“
„Sie – fühlen – das?“ fragte Josephine in einer Art von Bestürzung, welche die Anklage zu bestätigen schien.
„Nun ich darüber nachdenke,“ rief er noch erregter, „wird mir etwas ganz klar: Sie waren bereits in voriger Woche anders zu mir, als sonst, kürzer, weniger theilnehmend. In Ihrem Wesen liegt ein gewisses Auf-der-Hut-sein, jedenfalls irgend etwas, [681] das Sie unsicher macht. Dann und wann finden Sie wohl noch den unbefangenen Ton von früher, doch gleich darauf, als wäre Ihnen etwas Unliebsames begegnet, suchen Sie durch eine ironische Wendung alles Freundliche, was Sie eben gesagt, in die Luft zu stellen. Warum das? Was haben Sie über mich erfahren, daß Sie glauben, sich zurückziehen zu müssen? Können Sie nun nachfühlen, warum ich die Empfindung nicht loswerden kann, dieser Besuch bei den Verwandten sei überhaupt nur ein Vorwand und Ihre Abreise – der Anfang vom Ende? Sie werden nicht zurückkehren – oder versprechen Sie es mir?“
„Daß ich zurückkehre?“ fragte sie, die Oberlippe ein wenig hebend, „ja, das kann ich wohl versprechen; eigentlich auch nicht.“
„Josephine!”
„Herr – Baron!”
„Fräulein Josephine, warum quälen Sie mich?“
„Ich wollte damit nur sagen,“ erwiderte sie tief befangen,
[697]Josephine war über ihr Gefühl Pranten gegenüber nicht zu derselben Klarheit durchgedrungen, wie er über seine innere Beziehung zu ihr. Seine anfängliche Traurigkeit, später das Gewaltsame in seinem Benehmen hatten sie mehr erschreckt und verschüchtert, als daß ihre Gedanken gern dabei verweilen mochten. Wenigstens anfangs fühlte sie so. Je mehr sie indessen nachsann und je gefälliger ihr die Phantasie jede einzelne der eben erlebten kleinen Scenen vorzauberte, natürlich mehr in Tönen als in Bildern, um so ruhiger und glücklicher wurde sie.
So verging wohl Beiden die kurze Zeit bis zum nächsten Zusammenkommen in allerlei weichen Träumereien, in Vorausdenken und – Herbeisehnen. Dennoch erschrak Josephine sichtlich, als Pranten’s Tritte auf dem Flure ertönten, und als er eintrat, erwiderte sie seinen Gruß noch um vieles befangener, als jener gegeben wurde.
Die Cousine, welche bereits seit mehreren Tagen sehr übler Laune war, da noch immer kein endgültiger Beschluß über Reisen oder Bleiben gefaßt worden, war nur mit ihrer Stimmung beschäftigt. Sie kümmerte sich daher kaum einen Augenblick um das junge Paar und ging, nachdem das Vorlesen begonnen, mit der bequemen Entschuldigung einer nöthigen häuslichen Arbeit in ihre Zimmer hinüber. Das war schon öfter vorgekommen; Josephine hatte wohl ein Wort des Scherzes dafür gehabt, sonst war aber deshalb nie eine Störung eingetreten: Pranten hatte ruhig fortgelesen, bis Frau Adelheid zur Kaffeestunde wieder erschienen war.
Heute jedoch wollte es mit der Ruhe nicht gehen, und als Pranten beim Lesen an eine Stelle kam, wo sich die Liebe eines Mannes im freiwilligen Verzicht auf ihre heiligsten Rechte gleichsam verklärte, da bebte und zitterte es so wundersam in seinem Herzen, daß er in schmerzlichster Erregtheit ausrief:
„Ja, rechte Liebe kann wirklich Alles! Wenigstens wir Männer – was könnten wir nicht opfern, was nicht hinwerfen – wie Ueberlästiges! Jeder Ton sie, die Eine, jeder Gedanke ihr Wohl, kein Herzschlag, der nicht ihrem Glück schlüge! Und verdienen sie das um uns, diese Ideale? Vermögen sie ganz zu fassen, was sie aus uns machen können? Würden sie solch Höchstes überhaupt wollen? Dünkt nicht beinahe allen Mädchen der Mann der beste, welcher mit ihnen forttändelt oder sich mindestes jedes eigenen Wollens begiebt? Wie denken Sie über uns, Fräulein Josephine? Oder haben Sie auch über uns noch nicht gedacht?“
„Viel jedenfalls nicht,“ erwiderte sie zögernd. „Was hätte mich auch darauf bringen sollen?“
Es lag in dem Ausdruck, mit dem sie die Worte gesprochen, in ihrem Senken des Hauptes etwas so Rührendes, so lieblich Hülfloses, daß Pranten im Begriff stand, ihr in einem Hinströmen Alles zu sagen, was er für sie fühlte, wie er gegen eine Welt sie schützen und halten wollte. Doch er hatte plötzlich das Empfinden, das unabweisbare, bei ihrer Ueberzartheit dürfe sie nicht erschreckt werden; mild müßte er mit ihr sein, so mild es seine Leidenschaftlichkeit vermöchte. So bezwang er sich gewaltsam.
„Machen sich nicht die Mädchen früh genug ihr Ideale vom Manne zurecht?“ fragte er nach tiefem Aufathmen mit einer Art von Lächeln. „Ich glaube, wenn man sie ihre Puppen selbst wählen ließe, sie wählten sich lauter Männlein, und zwar gleich von der Race, die ihnen später mit Bewußtsein liebenswerth erscheinen müßte – braun oder blond, oder ‚wie Gottes Wege’ – dunkel. Man könnte da viel Erfahrungen machen, und wer weiß, ob es uns Männern nicht im Allgemeinen besser erginge, wenn jede ein halbes Dutzend Puppenmänner zerpflückt oder todt geküßt hätte, bevor sich ihr ein lebendes Exemplar anvertraute!“
„Sie haben ja eine ganz böse Ansicht von uns! Ich meine doch, ein richtiger Mann müßte sich in allen Verhältnissen seine Stellung wahren können.“
„Ein Mann in Ihrem Sinne wohl!“ antwortete er mit weichem Tone. „Aber selbst ein so einfaches Gebilde, wie es ein richtiger Mann zu sein scheint, vermag die Natur nur selten hervorzubringen. Ja, ja! Es ist so, ob es uns auch sonderbar vorkommt. Wie aus Ironie, oder vielleicht absichtlich, um für ein einziges vollendetes Geschöpf tausendfaches Pfuschwerk als Relief zu haben, bildet sie bei sonst ganz hübschen Exemplaren von Männern allzuoft irgend eine Eigenschaft überstark aus und schädigt damit die ganze übrige Summe guter Eigenschaften, vielleicht bis zur Ungenießbarkeit. So übergutmüthigt sie wohl die Gutmüthigkeit und erhitzt edle Kraft bis zur Rohheit; einem Dritten und Vierten giebt sie zu guterletzt einen Schlag mit der Narrenpritsche, und irgend eine tolle Leidenschaft muß ihm im Hirne spuken. Ich kann da von einem besonderen Falle sprechen, Fräulein Josephine, der mir nahe, sogar herzensnahe liegt. Was haben Sie über meinen Vater, meine Eltern gehört? Ihre Frau Pathe wird die Armen nicht geschont haben.“
„Ich entsinne mich nichts Genaueren,“ versetzte sie gepreßt.
„Ständen wir uns wirklich noch so fremd gegenüber,“ fragte er vorwurfsvoll, „daß nicht einmal Wahrheit zwischen uns sein dürfte? Wahrheit geht nackt: in jener Nacktheit der Antike, der erhabenen, für jedes reine Auge reinen. Sie wissen das so gut [698] wie ich; warum also hängen Sie über Ihre Worte noch Fetzen, die für alle Anderen recht und gut sind, aber für uns nicht? Wenigstens ich stelle Sie so hoch, daß ich, wonach Sie auch frügen, nach treuestem Wissen und Denken Antwort geben müßte. Nicht wahr, ein Verlorener, ein – – Trunkenbold ist mein Vater vor Ihnen geheißen worden, unser Haus – – ah! Ich peinige Sie, und doch müssen Sie da erst in Allem klar sehen, ehe ich wagen darf, von mir selbst zu sprechen.“
„Ihre Eltern sind ja todt.“
„O, ich danke Ihnen für den Trost, den Sie mir mit dem Worte geben wollten! Ich will mich auch kurz fassen. Meine Eltern paßten nicht zu einander; in Nichts. Mein Vater war in seiner Jugend ein schöner, dabei so recht von Herzen fröhlicher Mann; ‚unser Glückskind’ – nannte ihn die Familie; meine Mutter hat stets etwas Finsteres, Abgeschlossenes gehabt und war so häßlich wie ich. Aber sie besaß Vermögen, wurde von einer Art von Leidenschaft für meinen Vater ergriffen; kurz und gut, sie errang ihn sich, wohl nur, weil er von grenzenloser Herzensgüte war. Kaum verheirathet, soll denn auch bereits das gegenseitige Mißverstehen begonnen haben; meine Mutter quälte sich und den Vater mit völlig ungegründeter Eifersucht. Meine Geburt half in Nichts, da ich die Mutter nicht zu fesseln vermochte; ich glaube, sie hat mich vom ersten Blicke an gehaßt, gehaßt um meiner Häßlichkeit willen, die ich doch allein von ihr geerbt; so wunderlich sind Menschenherzen, Fräulein Josephine! Ich habe sie oft Tage lang nicht gesehen, nie, in Wahrheit nie ein freundlich Wort von ihr gehört, und sie starb erst, als ich dreizehn Jahre alt war. Dreizehn Jahre alt zu werden neben einer Mutter und doch ohne Mutterliebe, selbst nicht einmal mit einfacher Gerechtigkeit behandelt, das hätte schlecht machen können, wäre mir nicht etwas vom warmen Herzen des Vaters vererbt worden, hätte der nicht versucht, mir zu sein, was meine Mutter mir nicht war. Wenigstens in jener Zeit, wo er noch nicht – trank – es muß gesagt werden. Ja, im Glase suchte er endlich Frieden und fand ihn. Das ist die Geschichte meiner Eltern. Als sie todt waren – mein Vater starb drei Jahre nach der Mutter im Stadtlazareth – auf Stroh, nahm mich die einzige Schwester des Vaters, welche Josephine wie Sie hieß, auf; sie ließ mich später von ihrem kümmerlichen Wittwengehalte, da alles Vermögen der Eltern aufgebraucht war, studiren. So bin ich erwachsen, aus solchem Erdreich hatte ich meine Nahrung zu saugen – nicht wahr, ein halbes Wunder, daß noch ward, was geworden ist? Viel ist das freilich immer nicht, unbedingt nicht so viel, daß ich mit einer Art von Berechtigung nach Der verlangen dürfte, welche dennoch in meinen Gedanken war von dem Augenblicke an, wo ich sie gesehen, und zu der ich wie zu nie Erreichbarem emporblicke, seit das Liebe, Holde ihres Wesens sich in all seinem Reize vor mir aufgethan.“
Er verstummte und sah mit heißer Inbrunst auf Josephine, deren Antlitz sich in raschem Wechsel in Röthe tauchte und wieder erblaßte. Sie hatte ihm bewegt zugehört; das tiefe Mitleid, welches sie vom Beginne seiner Schilderung an empfunden, war nach und nach gleichsam in ein Dürsten übergegangen, an ihm gut zu machen und ihm die verlorene Jugend mit an ihrem Glück durch innigste Theilnahme zu ersetzen. Und diese Theilnahme hatte sich endlich so offen in ihren Zügen ausgedrückt, daß Pranten, davon hingerissen, die Wendung gewagt, mit welcher die Schilderung seines Vaterhauses schloß.
Nun die Worte gefallen, vermochten aber weder sie noch er augenblicklich darüber hinwegzukommen. Die Pause wurde länger, immer drückender – da sprang Pranten plötzlich auf und rief: „So ist es mir denn wieder beschieden! Damals wollte, konnte es mein Knabenherz nicht fassen, daß es seiner Mutter Liebe nicht erringen sollte; es bettelte bis zu ihrem Tode – umsonst! Heute bin ich ein erwachsener Bettler; sonst ist nichts anders. Dasselbe Umsonst!“
Josephine, die sich gleichfalls erhoben, fand kein Wort des Erwiderns, nur ihre Hände streckten sich wie von selbst ihm entgegen, als müßten sie ihn beschwören, inne zu halten. Und Pranten’s Herz begriff im Augenblick, was diese Bewegung Alles gestand; mit einem Jubelruf die Hände ergreifend, bedeckte er sie mit Küssen. Sie litt es still; erst nach einer Weile, als irgendwo Stimmengewirr laut wurde und sie danach lauschen wollte, mußte sie den Kopf von Pranten’s Brust erheben. Dieser aber drückte ihn wieder leise zurück und flüsterte:
„Es ist über uns; wir sind noch allein, allein, mein Lieb. Habe ich Dir denn schon gesagt, daß Du mein Lieb bist? Das Süßeste auf dem Erdenrund! Laß mich wieder Deine lieben Augen küssen – ich meine, das müßte sehend machen. Unser großer Meister rührte die Augen an – und Blinde sahen; sollte Liebe, unendliche Liebe nicht dasselbe können?“ Er strich sanft über ihre Lider. „Sieh auf! Siehst Du mich?“
„O lästere nicht!“ bat Josephine zusammenschauernd.
Pranten ergriff ihre Hände wieder: „Du hast Recht; vergieb es der Liebe! Sie weiß ja nicht, was sie für Dich thun möchte, wie sie Dich tragen und wahren soll, was für Dich erdenken! Alles glaubt sie zu können, Alles. Und sie wird Dir ist der That das Köstliche schenken dürfen – traue mir: Du wirst wieder sehen. Ob auch heute nicht, oder morgen, kommen muß der Augenblick; o, der Tag, die Stunde – wäre sie erst da! Eine große Kraft fühle ich nun in mir. Das Schwerste will ich so ruhig wagen, wie bei jedem Fremden. Neulich dachte ich schon darüber nach, und damals wußte ich nicht, ob ich es vermögen würde, ob mich nicht Zagen überfallen möchte oder gar Zittern – nun, da Du mein bist, da ich weiß, daß ich gleichsam für mich selbst handle – sind wir doch fortan Eins! – nun wird die Hand sicher wie immer sein. Und meine Hand ist eine glückliche, Josephine. Aber Du hörst mich nicht?“
„Alles hörte ich, Alles! Ich war ganz bei Dir. Ich mußte nur darüber nachdenken, ob Deine Stimme immer so wundersam geklungen, so tief und mächtig wie Glockenton?“
„Nein, so hat sie nie geklungen; die Liebe treibt ihre holde Magie. Da sie mich Dir nicht verschönern kann, wie Du mir jetzt von Augenblick zu Augenblick noch immer lichter, immer reizender erscheinst, so that sie es meiner Stimme an, daß sie Dir bis in’s Herz sänke, Du sie nie und nimmer vergessen könntest.“
„O, nie und nimmer!“
„Du schwörst es mir?“ bat Pranten in eigenthümlich ernstem Tone.
„Bedarf es dessen?“
Ein Lächeln, so schalkhaft und doch so ehrlich und voll Treuherzigkeit, glitt über ihre Züge, daß Pranten stürmisch ausrief:
„Nein, es bedarf dessen nicht! Kaum weiß ich noch, wie ich darum bitten konnte; es war ein Gedanke, wie er so kommt.“
„Ein Gedanke des Mißtrauens!“ sagte Josephine mit leisem Vorwurf.
„Nicht des Mißtrauens,“ erwiderte er rasch, „ich mußte denken – es flog mir etwas durch den Kopf.“
„Was?“
„Willst Du es wissen?“
Durch die Frage klang es hindurch, als sollte sie warnen, dennoch antwortete Josephine fest:
„Ja.“
„Nun, ich sorgte einen Moment lang um die Zukunft, jene Zeit, wo Du – sehen wirst.“
„Du kränkst mich.“
„Ach Josephine, vermögt ihr Glücklichen es denn zu ahnen, wie dem zu Muthe ist, dem ein ganzer Born von Schönheitssinn und Schönheitsbedürfniß im Herzen sprudelt, den es bei jedem Schönen wie im Gefühl der Zugehörigkeit überkommt, und dem doch heute wie. morgen das Fortblicken oder gar halbe Erschrecken der Begegnenden sagt, er trage eine – Fratze mit sich herum.“
„Felix!“
„O, wie das klingt! Die Fratze kann es aber nicht überklingen, sie bleibt. Das zweifelhafteste Mittelgut muß ich schon beneiden; sieht man auch gleichgültig drüber hin, so doch nicht fort.“
„Du übertreibst.“
„Wollte Gott!“
„Gewiß, Du übertreibst. Dein Schönheitsgefühl ist so groß, daß vielleicht einzig Du selbst daran kein Genügen hast, was Dir der Schöpfer gegeben. Das läßt Dich krankhaft auf Andere achten und tausend sicherlich zufällige Bewegungen auf Dich beziehen. Weiter ist es Nichts.“
„Du Einzige!“
„Kommt denn – überhaupt beim Mann – das Aeußere in Betracht?“
„Josephine! Wirst Du immer so denken? Versprichst Du mir, auch dereinst, wenn Du sehen wirst, nur auf meine Stimme zu hören und ein Bischen Häßlichkeit mit in den Kauf zu nehmen?“
[699] „Siehst Du, so war es recht. Ein wenig Häßlichkeit – von mehr ist nicht die Rede. Auch Cousine Adelheid sagte neulich –“
Josephine stockte.
„Nun?“
„Man gewöhne sich daran. Nein! Es war noch viel besser, sie sprach auch von sich; warte nur – ja, sie hätte sich recht an Dich gewöhnt. Und wenn es schon Adelheid so ergangen –“
„Dann,“ unterbrach sie Pranten bewegt, indem er sie in die Arme schloß, „dann ergeht es meiner Josephine sicherlich ebenso und zwar noch viel eher, denn sie weiß ja, daß sie mein Alles, daß ich ihr sagen darf, Du bist meine erste Liebe –“
Josephine hob den Kopf.
„Und meine Namensschwester, welche immer die Vierklees fand und daraus so zarte Kränze winden konnte, mit rother Seide, die nun längst verblichen ist?“
„Das war doch nur eine Jugendfreundin. Was Du übrigens alles behalten hast!“
„Es muß mich doch interessirt haben.“
„Damals schon? Ich meine, von ihr hätte ich nur einmal, ganz im Anfange gesprochen.“
„Am 27. Juli.“
„Selbst den Tag weißt Du?“
„Es ist mein Geburtstag; darum behielt ich es wohl.“
„O, nachträglich meine innigsten und heißesten Wünsche über Dich!“
Natürlich erschienen so innige Wünsche auch der süßesten Siegel bedürftig, und es nahm der Wünsche und Siegel kein Ende, bis Frau Ballingen plötzlich in der Thür stand und mit großen, aber nicht sonderlich erstaunten Augen auf die Beiden sah. Pranten bemerkte sie zuerst; mit weichem Lächeln nickte er ihr zu, und gleich darauf hatte Frau Adelheid die noch nie gekannte Freude, ihre Hände segnend auf ein glückliches Menschenpaar zu legen.
Es kam nun eine lebensvolle, fröhliche Zeit. Selbst Cousine Ballingen fand ihre Rolle als „schützender Cherub mit Mutterrechten“ so angenehm, daß sie das endgültige Aufgeben der Fahrt in die Weinlese kaum berührte. Der Herbst wurde gleichsam ein Nachsommer; man konnte noch einige Landpartien wagen; der beginnende Winter brachte weit mehr Concerte und Theaterabende, als im vergangenen Jahre – schon das entsprach ganz Frau Adelheid’s Geschmack.
Außerdem aber hatte auch ihre Stellung im Hause, da ihr Pranten stets mit auszeichnender Rücksicht begegnete und sich sammt Josephinen ihren Wünschen unterzuordnen pflegte, eine erhöhte Bedeutung gegen früher gewonnen, wo Josephine mehr Hauptperson gewesen war. Das hatte sich ganz von selbst gemacht, und bewirkte vor allen Dingen auch, daß Frau Ballingen dadurch zu einem regen Anwalt des Verlöbnisses wurde und dasselbe mit allen Waffen befriedigter Eigenliebe gegen die nicht ausbleibenden Befürchtungen, selbst Angriffe verschiedener Freunde des Hauses, besonders der Familie Schussenried, vertheidigte.
Pranten gab sich von seiner besten Seite, leichtlebig, meistens heiter und voll glücklichster Einfälle. Sogar das peinliche Bewußtsein seines unsympathischen Aeußeren, das sonst nur zu häufig schattenartig über ihn gefallen, schien wie seinem Gedächtniß entschwunden. Josephinens Liebe hatte diese Wunde geschlossen, oder es gab jetzt wenigstens keine Zeit und keinen Grund, Wehes herauf zu beschwören. Ja die Tage und Stunden waren so harmonisch, so in sich gefriedet dahingeeilt, daß sie Beide, Josephine und er, noch nicht einmal ernstlich an die Steigerung ihres Glückes durch den Abschluß der Ehe gedacht hatten.
Anders jedoch die Welt, und schließlich auch deren Brücke zu dem jungen Paar, Frau Adelheid – ihnen erschien eine baldige Heirath so selbstverständlich, daß Frau Ballingen anfing, Josephinen gegenüber allerlei Anspielungen zu machen. Diese überhörte dieselbe oder wies sie lächelnd von sich.
So war es Sylvesterabend geworden. Das Brautpaar brachte sich gegenseitig kleine Toaste aus; aber der Hochzeit wurde wieder mit keiner Silbe gedacht.
Da sagte die Frau Assessorin plötzlich ganz ohne Zusammenhang mit einem eben besprochenen Eisenbahnunfall, indem sie einen neu gefüllten Teller mit Hohlkuchen aufsetzte:
„Soll ich Dir auch zu Deinem Polterabend backen, wie damals für Clärchen?“
Pranten sah rasch auf Josephine, die röther und röther wurde, halb aus Verlegenheit in dem Gedanken, Felix könnte meinen, sie spräche mit der Cousine über die Zukunft, halb aus Verschämtheit bei diesem Geradezu der Frage. Da sie mit einer Antwort zögerte, kam er ihr lachend zu Hülfe:
„Gewiß, wir bitten darum!“ sagte er, Josephinen den Teller mit Kuchen reichend. Diese griff, was sie sonst nie gethan, wiederholt in die Luft, ehe sie einen Kuchen fand. Pranten bemerkte es, sah sie forschend an, sagte aber nichts.
Frau Adelheid dagegen, endlich in das gewünschte Fahrwasser gelangt, sprach erst im Allgemeinen von nur zu rasch herankommendem Frühjahr, von Mairosen und bester Zeit zu Hochzeitsreisen; dann fuhr sie, wieder mit directem Lossteuern auf ihr Ziel, fort: „Meine arme Schwester Wertheim will auch einmal etwas von mir haben, und ich möchte von hier doch auch nicht fortgehen, bis ich Josephine gänzlich beruhigt verlassen kann. Ich, wie alle Welt, weiß auch eigentlich nicht, warum Ihr über Eure Hochzeit in allen Sprachen schweigt. Es liegt doch auf der Gotteswelt kein Hinderniß im Wege.“
„Warum wir schweigen?“ erwiderte Pranten, Josephinens Hand in die Seinigen nehmend. „Es geht uns vielleicht schon so gut, daß wir gar nichts Besseres wünschen. Doch im Ernst, ich meinte erst die Operation abzuwarten. Das schien mir so natürlich – ich dachte gar nicht weiter hinaus.“
„Mein Gott,“ entgegnete Frau Adelheid, „darüber können aber im ungünstigen Fall noch Jahre vergehen.“
„Bewahre!“ antwortete Pranten mit einem Blick in Josephinens Augen. „Doch mein Lieb, Du hast da die Hauptstimme. Willst Du mich blind nehmen oder sehend?“
„Habe ich Dich nicht schon genommen?“ fragte Josephine lächelnd.
„Ja, das hast Du, liebe Einzige. Aber Du siehst, damit giebt sich Niemand zufrieden. Du warst vorher so unaufmerksam; hast Du denn gehört, daß Cousine Wertheim uns die Frau Mutter entführen will? Was sollten wir dann anfangen, wir schutzlosen Kleinen?“
„O, ich begleite Adelheid einfach,“ versetzte Josephine in seinen Ton einstimmend.
„So? und an mich wird dabei gar nicht gedacht? Ich,“ fuhr er halb scherzend, halb ernst fort, „bin nun ein Vierteljahr lang namenlos verwöhnt worden, leiblich, geistig, herzlich. Was sollte daraus werden, wenn ich jetzt wieder auf dreierlei Hungern gesetzt würde? Und dergleichen möchtest Du auf Dich nehmen? Ach, Du schauderst?“
„Wenn ich auch nicht schaudere –“
„So,“ unterbrach sie Pranten leise, „ziehst Du es doch vor, den Hochzeitstag zu bestimmen.“
„Auch gleich den Tag?“ fragte sie ebenso leise.
„Warum nicht? – wären Sie einverstanden, Frau Cousine,“ wandte er sich laut an diese, „wenn wir die Hochzeit am fünften Mai feierten?“
„Aber Felix,“ fragte Josephine, „Napoleon’s Todestag?“
„Glaubst Du,“ erwiderte Pranten, „wir fänden einen Tag im Jahr, an dem kein großes Herz aufgehört zu schlagen? Doch wie Du willst, also den sechsten Mai, denn vor Mai wollte ja unsere verehrte Cousine nichts von Hochzeitsreisen wissen. Muß die Reiseroute auch gleich festgesetzt werden?“
Frau Ballingen, an welche die letzte Frage gerichtet war, hatte für Späße heute keinen rechten Sinn; ihr mißfiel sogar die, wie es ihr vorkam, frivole Art, mit der Pranten gerade dieses Thema behandelte; so antwortete sie denn in stark gereiztem Tone: „Sie haben mich durchaus mißverstanden Herr Baron, oder legen mir wieder absichtlich Falsches unter. Weder Hochzeitstag noch Reiseroute wollte ich wissen; es schien mir nur endlich an der Zeit, nicht blos der Gegenwart zu leben, auch der Zukunft Rechnung zu tragen. Es genügt mir völlig und paßt auch in meine Pläne, wenn wir am Mai als äußerstem Termin festhalten. Anfang oder Ende des Monats ist mir gleichgültig.“
„Nicht doch, Adelheid,“ begütigte Josephine, „Dir soll und darf mein Hochzeitstag nicht gleichgültig sein.“
[700] „Und der meinige ebenso wenig,“ bat Pranten mit einem raschen Handkuß.
„Ach, mit Euch ist heute wieder einmal nichts Vernünftiges anzufangen,“ entgegnete Frau Ballingen ärgerlich und erhob sich. „Wenn ich wieder heraufkomme, seid Ihr hoffentlich traitabler; ich werde die Damen grüßen.“
„Von ganzem Herzen,“ erbat sich Pranten.
„Das ist durchaus unnöthig,“ bemerkte Josephine.
„Also nur von einem Herzviertel,“ rief Pranten der in der Portière Verschwindenden nach.
Er lächelte Josephine noch einen Augenblick in glücklichem Selbstvergessen zu, dann stand er auf: „Die Luft ist heute so mild, und als ich kam, war der Himmel voller Sterne – laß uns noch einmal auf den Altan treten!“
Josephine nahm ein Tuch und erwiderte, indem sie sich fröhlich an seinen Arm hing: „Gern! Da sagen wir gleich den lieben Sternen für dieses Jahr Ade und auf Wiedersehen! Wir sind gar poetische Leutchen, Felix. Aber,“ setzte sie im Heraustreten hinzu, „die Sterne sind ungalant, ohne jede poetische Regung. Nicht wahr, nirgend ein Schimmer – Alles so dunkel.“
Am Himmel glänzte Stern bei Stern; selbst fern am Horizont ein Flimmern und Leuchten wie in schwüler Sommernacht.
Pranten vermochte seine Erregung nicht zu beherrschen; sein Arm zitterte. Ahnungslos über den Beweggrund sah Josephine zu ihm auf.
„Dich friert; wollen wir hineingehen? Oder hole Dir wenigstens den Mantel!“
Pranten nickte und trat in’s Zimmer zurück. An der Flurthür blieb er stehen, indem er die Augen mit der Hand bedeckte. Gleich Blitzen zuckten Gedanken in ihm auf, um ebenso jäh zu schwinden. Ein Aufruhr von Gefühlen war in ihm, daß er im Augenblicke nicht wußte, was nun am gebotensten wäre. Durfte er ihr ohne Vorbereitung sagen, daß die ersehnte Zeit der Operation gekommen schien? Konnte sie nicht erschreckt werden, sich dadurch irgend ein grauenhaftes Ungefähr auf ihre Augen werfen? Oder war es dennoch das Sicherste, wenn er jetzt sprach, um jeder Möglichkeit einer zufälligen Entdeckung zuvorzukommen? Er entschied sich endlich für das Letztere und kehrte hastig um.
„Du bist lange geblieben,“ rief ihm Josephine entgegen, „und hast den Mantel doch nicht um!“
„Mich friert nicht mehr,“ versetzte Pranten, ihren Arm leicht unter den seinen ziehend. „Sieh einmal ganz gerade aus! Da taucht die Venus eben aus Wolken auf. Nicht wahr, die siehst Du?“
„Wo, Felix? Ich finde sie nicht.“
„Aber Josephine!“
„Sei doch nicht ungeduldig, warte nur! Da! – nein. Sie ist gewiß schon wieder unter Wolken. Ach, Du neckst mich blos, und das ist gar nicht recht von Dir.“
„Ich Dich necken, Josephine? Wenn ich Dir nun sage, daß der ganze Himmel –“
„Warum stockst Du? Was ist am Himmel? Ich sehe ja Nichts.“
„Und doch strahlt er gerade heute in Myriaden von Sternen.“
„Sterne?“
Josephinens Blicke irrten ängstlich umher.
„Die Venus leuchtet, daß wir Schatten werfen.“
„O Gott, Felix – so – so –“
„Ja. Erschrick nicht! Ist es doch zum Guten. Schon vorher ahnte ich’s: wir sind nachlässig gewesen, haben Tage lang die Proben ausgesetzt; nun ist der Augenblick am Ende da, plötzlich, wie über Nacht gekommen. Was dann weiter? Und über ein paar Wochen – denke es doch nur! – da kannst Du wieder sehen – sehen!“
Sie schmiegte sich an seine Brust; er küßte heiß ihre Stirn und führte sie in’s Zimmer zurück.
Hier fiel es über ihre Stimmung wie Schleier; trotz seinem Zusprechen wurde sie immer schweigsamer. Ein unerklärliches Gefühl der Furcht, des Bangens wollte nicht von ihr lassen, und selbst als die Cousine zurückkehrte und Pranten’s Ansichten völlig theilte, vermochte sie sich nicht aufzuraffen. Frau Adelheid wie er mussten bald fühlen, daß es Josephine momentan ein Bedürfniß wäre, allein zu sein; so trennte man sich, obgleich sie verabredet hatten, das neue Jahr gemeinschaftlich zu erwarten.
Innerlich mißgestimmt trat Pranten in die Nacht hinaus. Bevor er das Ende der Straße erreichte, kamen mehrere Herren lärmend aus einer Seitengasse, und einer derselben begrüßte ihn mit dem fröhlichen Zurufe:
„Ah, der schöne Felix!“
Er zuckte zusammen und war schon im Begriffe, dem Sprecher etwas Heftiges zu entgegnen, als dieser ihn unter den Arm faßte und weinselig lallte:
„Den Marodeur nicht losgelassen! Was sie sich alle freuen werden! Und gar die Hulda! Sie fragt noch immer nach Ihnen. In allen Ehren natürlich, Herr Bräutigam! Bloße Freundschaft. Wollte mir’s auch ausgebeten haben.“
In seiner Verstimmung wurde es Pranten leicht, sich von der Gesellschaft loszumachen, doch nicht ebenso leicht von einem Gedanken, der lange gleichsam verschollen gewesen und den jener Zuruf urplötzlich wieder heraufbeschworen. Die halbe Nacht schritt Pranten bei offenem Fenster ruhelos durch sein Zimmer auf und ab. Wie noch niemals, trat heute Möglichkeit an Möglichkeit aus ihrem Schatten. Und dachte er eine äußerste, so war es ihm, als könnte er bis zum Verbrechen kommen. Zwar verwarf er immer gleich, was auch nur als denkbar aufgetaucht, doch mit der Zeit wurde er müder und das Gespenstertreiben überzeugender. Sollte die Operation, was der Arzt so leicht motiviren könnte, wenigstens aufgeschoben werden, bis die Hochzeit stattgefunden hatte? Wenn die Operation überhaupt unmöglich war? Oder – keinen günstigen Verlauf nähme? Pranten schauerte zusammen. Es war nach und nach kalt geworden; ein eisiger Luftzug, der schon den Morgen anzukündigen schien, strich an ihm hin; er schloß den Fensterflügel.
Bald legte er sich auch nieder, doch rechter Schlaf wollte nicht kommen. Immer wieder fuhr er empor: dunkle Bilder verfehlter Operationen schreckten ihn auf, irgend ein flehender Schatten, dem Niemand mehr helfen konnte.
So wurde es fast Morgen, ehe die übermüdeten Sinne der Gedanken Herr wurden und er in ruhigen Schlummer sank.
[713]Nachdem das Stubenmädchen am nächsten Morgen im Zimmer Pranten’s geheizt hatte, mußte sie eine ganze Weile klopfen, bis ihr aus dem Alkoven geantwortet wurde. Als sich Pranten jedoch erst völlig ermuntert hatte, war auch alles Nebelgebilde, das ihn während der vergangenen Nacht beängstigt, spurlos verschwunden; es regte sich Nichts in ihm, als das Gefühl der Verantwortung, die ihm als Arzt oblag, und das gab ihm Ruhe und die gewohnte Sicherheit. Doctor Pflummern untersuchte noch am selben Tage auf Pranten’s Wunsch die Augen Josephinens, und da auch er den Zeitpunkt für die Operation herangekommen erklärte, ging Pranten unverzüglich an die Ausführung.
In den nächsten Tagen war er mehr Arzt als Bräutigam; tägliches Prüfen der Augen, die Beobachtung des Gesammtbefindens Josephinens, all das Durchsprechen der einzelnen, bei nicht völlig günstigem Verlauf nothwendigen Einrichtungen gaben dem Verkehr des Brautpaars etwas Ernstes, Gehaltenes. Dennoch trat er Josephinen dadurch nur immer näher; wo anfangs das Herz allein gesprochen, that jetzt auch die Ueberlegung ihr Scherflein dazu. Und dies Scherflein wuchs von Tage zu Tage, da Josephine nun erst mit Stolz und Genugthuung die ganze Thätigkeit ihres Verlobten erkannte. Ja es überkam sie ein so tiefer Respect vor ihm und seinem Wissen, daß ihr jedes Bangen und Zagen ungerechtfertigt erschien. Fast mit Ungeduld erwartete sie die Stunde der Erlösung.
Und sie kam.
Um Josephinens Gemüthsruhe völlig zu wahren, sollte die Operation in einem ihrer eigenen Räume stattfinden. Man entschied sich schließlich für das Wohnzimmer, und so richtete es denn der alte Diener aus der Klinik eines Morgens dazu her. Das eine Fenster wurde dicht verhangen; seitwärts vom andern stellte er einen hochlehnigen Stuhl.
Auf Pranten’s Arm gestützt, betrat Josephine das Zimmer. Sie lächelte. Keine Spur von Sorge oder Aengstlichkeit war in ihren Zügen; bei dem Anschmiegenden, tief Vertrauensvollen ihres Wesens erschien sie nur lieblicher als je. Das mochte selbst Pranten trotz des Ernstes der Stunde empfinden; der Ausdruck, mit dem er auf sie niedersah, strahlte wahrhaft in Glück und Stolz.
Anmuthig, mit halbem Scherz begrüßte Josephine den Diener, ließ sich von ihm zu dem Stuhl führen und versuchte, selbst die nothwendige Binde um ihr rechtes Auge zu legen.
Als die Finger dabei doch ein wenig zitterten, half ihr der Alte, indem er beruhigend sagte: „Nur Muth, mein liebes Fräulein! Der Herr Baron versteht’s; ich bin lange Jahre in der Klinik, aber so wie der Herr Baron hat’s noch Keiner verstanden – das sagt auch Doctor Pflummern. Wie spielend gehts.“
Pranten, der seine Instrumente aus dem Nebenzimmer geholt hatte, hörte noch die letzten Worte. Er nickte dem Alten zu und fragte, Josephinens Hand fest umschließend. „Bist Du bereit!“
„Ich bin es!“ hauchte diese, ihre Hände im Schooße faltend.
Der Alte drückte ihren Kopf leicht gegen die Rücklehne des Stuhls, indem er zugleich das obere Lid ihres linken Auges fixirte. Pranten atmete einmal auf; dann faßte er sich gewaltsam und ging sicher wie immer an’s Werk.
Ein kurzer Schnitt, ein unwillkürliches Zusammenziehen der losgelassenen Augenmuskeln, und die Linse fiel heraus.
„Licht, o das ist Licht!“ rief Josephine, ehe der Alte das Auge unter der Binde verbarg.
Mit welchen Gefühlen lehnte sie dann an Felix’ Brust! Ein Unaussprechliches von Dank war in ihr. Und doch durfte sie es nicht äußern, denn immer, sobald sie sprechen wollte, küßte er ihr den Mund zu und bat flehend um Vermeidung jeder Aufregung.
Endlich fügte sie sich. Als aber die Cousine trotz des Verbotes mit leisem Schluchzen in das Zimmer drang und sie heftig in die Arme schloß, schwand plötzlich ihre bis dahin gewahrte Kraft, und sie wäre zu Boden gesunken, wenn Felix sie nicht aufrecht gehalten hätte. Er nahm die Ohnmächtige auf die Arme und trug sie nach ihrem Schlafzimmer. Dieser völlig verdunkelte Raum blieb in den nächsten Tagen ihr Aufenthaltsort.
Nachdem sich Pranten am folgenden Morgen überzeugt hatte, daß Alles seinen normalen Verlauf nahm, erkundigte er sich einige Mal nur bei der Cousine nach Josephinens Befinden, ohne sie selbst aufzusuchen. Sie war ihm nämlich an dem Morgen nach der Operation so aufgeregt erschienen, daß er fürchtete, durch zu häufige Anwesenheit die Heilung zu verzögern. Josephine drang nicht auf sein Kommen.
Am Nachmittage des dritten Tages – die Cousine war zufällig ausgegangen – konnte er aber nicht mehr widerstehen und ließ Josephine fragen, ob sie ihn sprechen wolle. Es laut eine bejahende Antwort; so trat er hastig bei ihr ein.
Die Dunkelheit und seine Aufregung ließen ihn im ersten Augenblick die Geliebte nicht finden, im nächsten sah er ihre Gestalt an einem Sessel stehen. Er eilte auf sie zu; sie that ihm keinen Schritt entgegen, reichte ihm nur eine Hand; die andere hielt die leichte Binde, welche sie eben abgenommen hatte.
[714] Pranten ergriff die Hand und rief mit schmerzlicher Heftigkeit: „Wie lang sind mir die paar Tage geworden! Dir gewiß auch?“
Sie nickte.
„O, nicht wahr,“ fuhr er fort, „nun auch kein Trennen mehr! Wo ich ging und stand, fehltest Du mir; ich war der reine Hans Träumer geworden. Mehrere Male hatte mich Pflummern an Vergessenes zu mahnen, doch ich konnte nur dem einen Gedanken nachhängen: was Du thätest, wie es ging – ob Du an mich dächtest. Hat Dir Adelheid auch stets gesagt, wann ich dagewesen bin? Ich glaube, immer drei Mal am Tage, und es ist eine Reise von der Klinik bis zu meinem Lieb.“
„Du bist so gut!“
„Hättest Du ausdrücklich nach mir verlangt, ich wäre auch längst hereingekommen, aber Du fühltest wohl selbst, daß es so besser wäre?“
„Was Du anordnetest, war ja immer das Rechte; ich habe gemeint, es müßte so sein.“
„Gewiß! Neulich sprach auch Pflummern darüber, wie Nichts der Heilung förderlicher sei, als tüchtige Langweile.“
„Die habe ich aber nie gehabt.“
„Trotz meines Fernseins? Wer wird denn seine Getreuesten so schlecht behandeln!“
„O, das –“
„Nein, nein, es ist so,“ unterbrach sie Pranten, indem er sie nach dem Fenster führte und die Umhüllung desselben ein wenig seitwärts schob. „Doch jetzt wollen wir vor Allem nach unserem Patienten sehen.“
Schon während der Untersuchung lief es wie Sonnenschein über sein Gesicht, und er rief in stürmischer Freude: „Der hat sich jedenfalls ordentlich gelangweilt! Es steht über jedes Hoffen gut.“
In seiner Lebhaftigkeit bemerkte er wohl nicht, daß Josephine kaum gehört zu haben schien, was er gesprochen hatte. Sie stand mit seltsam gespanntem Ausdrucke in den Zügen da und starrte wie geistesabwesend in’s Leere.
Sobald er sich ihr wieder zuwandte, lächelte es allerdings um ihre geschlossenen Lippen. Die Hand auf seinen Arm legend, ließ sie sich nach einem Sessel führen. Er rückte einen andern dicht neben diesen, und bald schienen sie auch in das uralte Scherzen und Kosen aller Liebenden vertieft. Dem besonders Aufmerksamen wäre Pranten freilich lebhafter vorgekommen, als Josephine – weit lebhafter. Das mochte aber in Pranten’s Stimmung liegen.
Was man Launen nennt, diese leibhaftigen Pucks, denen oft beim besten Willen nicht beizukommen ist und welche doch jeder Umgebung zu so fühlbarem Leid werden können, hatte man an Josephine nie gekannt. Trotz ihrer schweren Heimsuchung war der Grundzug ihres Wesens eine gleichmäßige Heiterkeit geblieben. Sie hatte, als ihre Erblindung – der Ausgang längerer Skrophelleiden – vor einigen Jahren begann, in ihrer aufrichtigen Frömmigkeit die beste Stütze gefunden. Hierzu war noch das Zurücktreten, schließlich Aufhören aller bis dahin wie unabänderlich hingenommenen Beschwerden gekommen, kurz, Josephine hatte dieses eine Unglück, besonders da es so allmählich vorgeschritten war, fast wie ein Besserwerden ihres bisherigen Looses empfunden.
Nun aber, da sie sah, schien es mit der Heiterkeit, zumal einer gleichmäßigen, nicht mehr gehen zu wollen, ob auch der Frühling in diesem Jahre wahre Wunder von herrlichen Tagen schuf und sie dieselben nicht blos fühlend wie sonst, sondern auch wieder sehend mit genießen durfte. Ihrem Wesen nach war es fast, als ob sie noch an den Folgen der Operation litte, obgleich auch die des rechten Auges, nachdem eine langwierige Entzündung überstanden war, als völlig geglückt betrachtet werden konnte und nach ihrem sonstigen körperlichen Befinden eigentlich kein Anlaß zu dergleichen Besorgnissen vorlag. Bei ihrer großen Reizbarkeit schienen freilich immerhin länger andauernde Nachwehen nicht ausgeschlossen.
In Folge dessen war von irgend welchen Vorbereitungen für den Mai niemals die Rede. Sogar Frau Adelheid, zu deren Tugenden ja die Zartfühligkeit gerade nicht gehörte, empfand eine unbesiegbare Scheu selbst vor jeder Art von Anspielung.
Ueber Josephine lag mitunter ein dumpfer Hauch von Schwermuth – bis in ihre Stimme hinein krankte etwas; dann war ihr Lachen gezwungen; sie suchte die Einsamkeit, doch was sie dort trieb, erfuhr Niemand. Wenn Pranten nach alter Weise vorlas, schloß sie wohl die Augen, und man sah ihren Mienen an, daß sie kaum auf das Gelesene achtete, nur dem Wohllaut seiner Stimme lauschte oder an Fernes, Vergangenes dachte. Im Gegensatz zu solchen Tagen konnte sie an andern wieder ganz Leben und Frische sein. Freilich verlor diese Frische nie etwas Gespanntes; all ihr Necken oder Schmollen mit Felix, wenn er nicht rasch genug in ihre Stimmung einging oder gar in seinem Zurückhalten beharrte, durchzitterte ein Ton von Erregtheit, der ihr früher niemals eigen gewesen. Ob sie sich davon schon völlig Rechenschaft gegeben hatte, was in ihr vorging? Jetzt doch wohl!
Pranten wußte längst, was in ihr vorging. Gleich an jenem Morgen nach der Operation, als sie bei seiner Untersuchung zusammengeschaudert war, hatte er instinctiv gefühlt, daß dieses Schaudern nicht, wie sie meinte, die ersten Lichtstrahlen, die ihr Auge trafen, hervorgerufen, dazu war das Licht zu matt in’s Zimmer gefallen; ihm – ihm hatte ihr Erschrecken gegolten. Er wußte noch heute nicht, wie jene ersten Tage nach dieser Erkenntniß hingegangen waren. Dachte er zurück, so schob sich immer Etwas wie mitleidig dazwischen; irgend ein Gedanke, der ihn abzog, oder bloße Müdigkeit, auch wohl ein leises Hoffen. Denn Josephine blieb eben Josephine; trotz ihrer Jugend war sie kein Mädchen mehr, das leichtfertig einem Eindruck erliegen konnte. Sie kämpfte ja auch sichtbar. Und diesen Kampf glaubte er am besten zu unterstützen, wenn er ganz daraus fern blieb, sie ihn allein mit sich durchringen ließ; nur sollte und mußte sie jeden Augenblick, wenn auch nur gleichsam aus der Ferne, fühlen, daß seine Liebe heute dieselbe wie ehemals war, daß er sich einzig um ihretwillen in engeren Grenzen hielt.
Und sein Glaube schien ihn nicht getäuscht zu haben; gerade seit er diese zarte Art Josephinen gegenüber angenommen, war sie auch äußerlich ruhiger geworden; sie suchte ihn auf jede Weise von ihrer aufrichtigen Dankbarkeit zu überzeugen. Rechte Dankbarkeit aber soll ja bereits halbe Liebe sein.
Er hatte das Wort einmal gehört, es damals sogar angegriffen; jetzt wußte er bestimmt, daß er damals im Unrecht gewesen. Was bringt solch geliebtes – verzogenes Hoffen nicht fertig!
So war die Mitte des Juni herangekommen. Noch jetzt machte sich in dem Verhältniß der Brautleute zu einander keine besondere Veränderung bemerkbar. Vielleicht war Felix verschlossener geworden, und an Josephine trat ein Zug von Dulden, von stillem, gefaßtem Entsagen deutlicher hervor; sonst fand zwischen ihnen stets derselbe rege freundliche Verkehr statt. Pranten las viel vor, in letzter Zeit besonders wissenschaftliche Aufsätze; daran knüpften sich ernste Gespräche; oder es wurden gemeinsame Ausflüge gemacht. So folgte ein Tag dem andern, alle einander ähnlich.
Nur sich allein gehörte das Brautpaar oft wochenlang nicht; wie nach stillschweigender Uebereinkunft trennte man sich oder kam gar nicht zusammen, sobald die Cousine einmal leidend war oder irgend einer Einladung folgen mußte. Hier und da verging wohl auch ein Tag, ohne daß sich Pranten überhaupt sehen ließ, doch geschah das selten, und nach solchen Tagen war er immer reizbarer als gewöhnlich. Blieb er dann durch einen Zufall einige Augenblicke allein, so ging er wohl ohne Abschied fort. Der nächste Morgen führte ihn freilich wieder, sogar in einer gewissen reumüthigen Stimmung zurück, sein Fortgehen entschuldigte irgend ein Scherz, und weder er noch Josephine schienen diese leisen Zeichen von Unnatur in ihrem Verhältniß einer besondern Beachtung werth zu halten.
Es war ein schwüler, drückender Tag gewesen. Eben verschwand die Sonne in einer zusammengeballten Wolkenmasse, die sich langsam näher schob. Dann und wann züngelte Blitzgezack. Ueberall erschlaffende Müdigkeit; Mensch wie Thier und Pflanze lechzten gemeinsam dem heraufkommenden Gewitter entgegen.
Auch auf dem Altan, um dessen Säulen sich wieder wie im vorigen Jahre das Weinlaub zu Kränzen schlang, stand die Luft gleichsam still, kein Blättchen regte sich.
Die Cousine war nach ihrem Fächer gegangen. Als sie nach [715] einer Weile, in der das Brautpaar schweigend dagesessen hatte, nicht wiederkam, stand auch Josephine unter dem Vorwande auf, eine Arbeit zu holen. Ihr war heute ungewöhnlich schwer und trübe zu Muth. Pranten schien ebenfalls seine düsterste Stimmung zu haben; er hatte mit augenscheinlicher Unlust gelesen, und lehnte nun regungslos an einer der Säulen. Josephine mußte dicht an ihm vorüber. Als ihr Kleid ihn streifte, kehrte er sich plötzlich um und fragte, sie an der Hand festhaltend:
„Wo willst Du hin?“
Der Klang seiner Stimme, das unheimliche Feuer in den Augen, der harte Griff, welcher fast schmerzte, erschreckten Josephine.
„Ich sagte Dir schon,“ erwiderte sie zitternd, „ich will meine Stickerei holen. Du thust mir weh.“
Damit wollte sie ihre Hand aus der seinigen ziehen, aber er umschloß sie nur fester.
„Nicht so weh, wie Du mir thust!“ sagte er.
„Ich –“
„Du, Du!“
Einen Augenblick fand er keine Worte, dann brach es los, das so lange mühsam Zurückgehaltene, und strömte und raste wie in Wogen hin:
„Ja Du, Josephine, mit diesem Engelslächeln – ich trage es nicht länger. In all den Tagen und Wochen und Monden – was habe ich gelitten! Diese Nächte – ich würde wahnsinnig, sollte ich sie wieder leben; am Mark haben sie mir gesogen, mich verdorben für Welt und Seligkeit. Und Du, Du trägst die Schuld. Was hat Dir meine Liebe gethan, daß Du sie so lohnen kannst? Du weißt doch, wie Du mir Alles bist, Licht, Dasein – jedes Liebe der Erde. Ich habe Niemand sonst; Alles würde mir fehlen, was das Menschsein tragen läßt, wenn Du von mir gingst. Und das willst Du.“
Josephine hob den Kopf, als wollte sie sprechen, doch er fuhr jäh auf:
„Keine Lüge! Ich könnte – ich könnte mich vergessen, und Du hättest dann das Recht, von mir zu gehen. Das wenigstens will ich Dir nicht geben, so lange ich noch weiß, daß Du Josephine bist, meine Josephine. Sieh, ich habe ja mit mir gerungen; wenn ich nicht zu Dir kam, das waren solche Tage. Da versuchte ich es, ob ich ohne Dich leben könnte.“ Er lachte heiser vor sich hin. „Bis zum Abend ging es, auch ein Stück in die Nacht hinein, dann – dann hätte ich den todten Tag mit den Nägeln aus der Erde graben mögen. Wahnsinn! Ich lese das Wort in Deinen Augen, aber ich bin nur wahnsinnig, wenn ich den Gedanken fassen soll, Dich zu verlieren.“
Aus Josephinens Antlitz war nach und nach jede Farbe gewichen, und um ihren Mund hatte sich ein Zug von Härte, von Bitterkeit vertieft, der ihr sonst nie eigen gewesen. Was ihr all die Monde hindurch nicht so deutlich zum Bewußtsein gekommen, das schien sich ihr urplötzlich mit vernichtender Klarheit aufzudrängen.
„Du rührst an Schweres!“ sagte sie.
„Muß ich nicht endlich?“
„Hast Du bedacht, wohin –“
„So kann es nicht fortgehen,“ unterbrach er sie außer sich. „Ich reibe mich auf, untauglich werde ich zu aller Arbeit; gestern bebten mir die Hände, so daß ich eine Operation verschieben mußte. Nenne das Schwachheit, schilt mich krank – ich kann doch nicht anders. Solcher Zustand der Unsicherheit, des ewigen Mißtrauens – auf mich wirkt er entnervend; ich kenne mich selbst nicht mehr.“
Josephine war von ihm weggetreten und stützte sich auf die Brüstung des Altans. Ihre Blicke hingen an der Wolkenwand, die immer drohender aufstieg. Dort – hier Drohen; war Beides nur Gewitter? Brachte Beides Erlösung?
Ohne es zu wissen, streckte sie die Hand, als ein Blitz hinzuckte, wie zur Abwehr gegen den Himmel aus.
Pranten bemerkte die Bewegung und sagte schneidend:
„Ob Du auch wehren möchtest, es kommt doch herauf; immer wehren, immer hinhalten, niemals bis in’s Letzte sehen!“
„O, ich sehe das wohl.“
„Was siehst Du?“
„Du wolltest Wahrheit?“
„Ich – wollte – Wahrheit.“
Er hatte die Worte mechanisch nachgesprochen und starrte mit weitgeöffneten Augen auf Josephine.
Diese fühlte den Blick, aber sie schwieg.
„Sprich!“
„Ja, es muß sein.“
„Warte noch einen Augenblick!“ rief er bittend. „Man pflegt zuletzt Alles doppelt zu bedenken, Alles! Und wir haben Zeit; nichts Uebereiltes! Es könnte auch Dich reuen, denn lieb hast Du mich doch, Josephine. Wenn auch nicht so lieb, wie ich Dich, aber das verlange ich ja nicht. Ich bin gar einfach im Genügen; o, mein Weib wird Alles über mich vermögen; ich verspreche es Dir – erinnere mich an diese Stunde, wenn ich je mehr fordern sollte! Siehst Du, meine Augen sind voll Thränen, voll seliger Thränen, wenn es nur wie Möglichkeit erscheint, Dich endlich mein zu nennen. Gehören sie mir nicht zu eigen, diese Augen, die ich wieder sehen hieß? Habe ich Dich nicht wieder neu geschaffen? Ein Theil bist Du nun von mir. Alles habe ich Dir gegeben, was ich hatte und wußte und liebte, so in Gedanken, wie in Werken: und der Theil könnte sich gegen das Ganze auflehnen , ihm das Herzblut stehlen und nichts als elend Stückwerk zurücklassen? O nein, nein – nein! Das wäre gegen allen Sinn; es brächte die Gesetze der Natur in’s Schwanken. Sprich jetzt – nun kann ich hören.“
Josephine hatte, die Lippen auf einander gepreßt, ohne jede Bewegung dagestanden. Als er schwieg, blickte sie noch eine Weile mit halb geschlossenen Augen in die Ferne; endlich sagte sie leise:
„Ich habe mich nicht gekannt. Daß uns armen, beschränkten Menschen jeder Theil unseres Wesens erst zum Bewußtsein kommt, wenn er sich an etwas zu erproben hat, nicht eher! Als die Pathe und Adelheid mich warnten, habe ich darüber gescherzt, und als sie nicht aufhörten, sie unwillig von mir gewiesen, es gleich Undenkbarem fortgeleugnet – und sobald ich Dich gesehen, fühlte ich mit Entsetzen, daß ich niemals –“
„Josephine!“
„Dein werden könnte, nie – niemals!“
Sie hatte die Worte so jäh herausgestoßen, als erläge sie dabei einer inneren Gewalt oder fürchtete, daran gehindert zu werden. Mit schwerem Athmen, das dennoch etwas von Erleichterung an sich hatte, stand sie da; ihre Blicke suchten scheu den Boden. Pranten erwiderte nichts und strich nur mit der Hand langsam an der Brüstung des Altans hin.
Sie sah zu ihm empor; er war sehr blaß geworden, und seine Brust hob und senkte sich krampfhaft. Ein unsägliches Mitleid regte sich in ihr, und Bild an Bild tauchte es auf: von seinem ersten Eintreten an durch all die Zeit bis heute. Und nichts Anderes empfand sie, vermochte sie festzuhalten, als seine zärtliche Sorge, diese unendliche, immer und überall hervorbrechende Liebe. Beinahe schien es ihr, als wäre sie nur befangen, als hätte sie noch immer nicht genug gekämpft, als müßte zu überwinden sein, woran sich alle Ihrigen gewöhnt. Warum sie nicht? Welches Verhängniß lag auf ihr, vor dem, den sie doch geliebt, so lange sie blind war, nun zurückschaudern zu müssen? O, wäre sie blind geblieben!
Pranten sah zu ihr nieder; angstvoll begegnete sie seinen Blicken. Ihre Finger berührten seine Hand.
„Du verachtest mich?“ schluchzte sie mehr als sie sprach.
Er schüttelte traurig das Haupt. „Was kannst Du dafür? Und Du hast mir nichts gesagt, was ich nicht längst wußte: Schritt für Schritt sah ich es ja kommen. Glaube nicht, daß Liebe blind ist! Wenn ich mich nach Deinen Küssen sehnte, Dich an mich reißen wollte, nur eine selige Secunde lang – wie Du vorahnend zurückwichest, wie Du immer, ob ich auch ein Recht auf Dein Alleinsein hatte, Jemand in der Nähe hieltest, einen Schutz vor meinen Liebkosungen! Ach, daß man nicht geliebt wird, man weiß es so schmerzlich gut! Wäre nur die Hoffnung nicht, die immer wieder versöhnen will, immer flüstert: was heute nicht geworden, das Morgen bringt es, das Morgen! Jetzt freilich giebt es kein Morgen mehr.“
„Ich habe nicht weniger gelitten als Du.“
Er lachte gellend auf.
„Felix! welch schauerliches Lachen! sei barmherzig! Wenn es wahr ist, daß Du mich nicht verachtest, so mußt Du auch glauben, wenn – ich Dir sage: ich kann nicht anders. Die Seele, das heißeste Wollen, alle, alle Kräfte der Vernunft haben keine Macht über unsere Sinne. Wie habe ich mit mir gerungen, wie mich hingequält! Mein inniges Fühlen von Dankbarkeit, meine Gebete, ich steigerte sie bis zur Ekstase – umsonst! In der Nacht dachte [716] ich mich bezwungen zu haben, hoffte den langen Tag über, und wenn ich in Deiner Gegenwart dem Gedanken in’s Auge zu blicken suchte, in Dir meinen Gatten zu sehen, dann bebte mein ganzes Sein zurück. O mein Gott, ich bin ja schuldlos! Du darfst mich keiner Treulosigkeit zeihen; mein Herz blieb rein: so grauenvoll es ist, uns treibt etwas aus einander – wie soll ich es nennen? Hättest Du mich in meiner Blindheit gelassen, oder wärst leichtsinnig zu Werke gegangen – Unglück wäre Glück geblieben.“
„Werde ich es tragen?“ sagte er tonlos vor sich hin.
„Ich trage mit Dir.“
„Du?“
„Bleibe ich nicht lebenslang Deine treueste Freundin?“
„Warum hauchest Du nicht gleich in Versen,“ unterbrach er sie höhnend: „Ritter, treue Schwesterliebe – ah, der seufzte sich ja wohl zu Tode? Nun, darüber kann ich Dich wenigstens beruhigen; dergleichen wäre nicht mein Geschmack. Eher –! Aber das spukt wohl im Blute von den Vätern her – der Eine so, der Andere so; bleibt sich im Grunde gleich – was liegt an der Art?“
„Felix, ich beschwöre Dich: treibe uns nicht in Aeußerstes hinein! Ich fühle unerbittlich klar, wenn Du mich mir selbst untreu machen könntest, wenn Du mich zwängest, Dir nachzugeben – mit dieser Scheu, diesem Grauen in allen Sinnen, Deine Gattin zu werden, es wäre uns Beiden zu lebenslanger Qual. Finde ich doch Deiner Leidenschaft gegenüber nicht einen erwidernden Ton; ich erschrecke nur. Auch eben war es nur die namenlose Furcht vor der Zukunft, ein letztes Stück Selbstachtung, das mir den Muth gab, Dich endlich in mein Herz blicken zu lassen. Ich weiß noch nicht, ob ich recht gethan, und doch ist mir so; der Mann soll ja stärker sein als wir; er muß die Kraft finden, zu entsagen –“
„Einer Liebe, die er selbst geworden ist?“ rief Pranten wie in einem Aufschrei – „niemals! Wie wär’ es möglich! Ja: ich kann in mir gebrochen, vernichtet werden, und somit auch meine Liebe – nimmer anders! Wer entsagen kann, hat nie geliebt. Da sprechen sie, Liebe wäre das Höchste, das eigentliche Glück, welches die Erde zu vergeben hätte. Dich erschreckt meine Liebe. Und ahntest Du, wie demüthig sie ist, wie sie über all Deine Wege sich breiten möchte, daß Du einzig über sie hinschrittest! Josephine, jeder Deiner Blicke ist Gnade, der Hauch Deines Mundes mir Odem, meine Lebenslust. Und Du willst mich von Dir stoßen, härter als Fremde, härter als meine Mutter. Sie duldete mich doch auf Stunden in ihrer Nähe. Du glaubst nicht, was die Gewöhnung Alles vergessen lehrt; Du kannst noch nicht in Dir abgeschlossen haben; die Zeit war zu kurz. Laß uns wenigstens noch eine Frist setzen, bis dahin – bis dahin –“
Er stockte. Ueber Josephinens Züge – ihr unbewußt – war etwas hingeglitten, nur schattenhaft – es hatte der Verachtung täuschend gleich gesehen. Zu viel, allzu viel! Ein Rest von Mannheit war noch in Pranten; er wandte sich plötzlich mit stummem Neigen ab und schritt der Thür zu.
Josephine eilte ihm nach; ihre zitternden Finger umschlossen seine Arme.
„Ich lasse Dich nicht, so nicht, o, nur so nicht!“
Aus trocknen, heißen Augen blickte er auf sie herab; es that ihm wohl, sie so in Schmerz aufgelöst zu sehen. Ganz ungeliebt konnte er also doch nicht sein; vielleicht, und wäre es nach Jahren, gab es noch eine Lösung. Ihn erschütterte der Gedanke so sehr, daß er Josephinen unwillkürlich glühender an sich preßte.
„Du liebst mich; ich weiß es nun besser, als Du selbst; mich täuscht nichts mehr, nichts! Was zusammen gehört und in einander erst sein volles Sein findet, das möchtest Du trennen, weil etwas so Aeußeres, wie es unsere Erscheinung ist, Deinen Augen mißfällt? Was lieben wir denn? Den Gott im Menschen oder das Stück elender, in Fleisch und Blut verwandelter Materie? Durch einen Zufall mißrieth die Form, und um solchen Zufalls willen könntest Du mich verwerfen? Besinne Dich! Sage mir, daß Du nur wissen wolltest, wie unendlich Du geliebt würdest! Ich verzeihe Dir, und hätte bloße Eitelkeit die Prüfung gefordert, immer wüßte ich ja, wie es im Grunde Liebe gewesen, die mich geprüft, die ihr Weh schafft, um unaussprechlich lohnen zu können. Josephine! O Gott, in Deinen Augen steht nichts mehr.“
„Dankbarkeit steht darin,“ rief diese fassungslos, „glühende Dankbarkeit! Und die hat in ihnen gestanden, seit ich Dich zum ersten Male gesehen, und kann erst mit ihnen brechen. Sie auch trieb mich Dir nach; sie konnte Dich nicht im Zorn scheiden lassen; sie zwingt mich Dir zu Füßen und fleht: ein Wort der Vergebung!“
Pranten wollte sie emporziehen, doch sie rang sich los:
„Lasse mich! Hier muß ich liegen, bis Du es findest – das Wort. Felix, sei Mann, nicht dieses schreckliche Hinstarren! Was hälfe es, wenn ich Dir heuchelte? Dein Weib könnte ich doch nie werden; und ob Du mir Frist gäbest, es bliebe immer dasselbe – ich kann nicht.“
Langhin rollte der Donner; wie in tiefem Grollen brach er dann jäh ab, und der Himmel schien sich zu öffnen, eine klaffende Feuerschlucht. Josephine barg ihr Gesicht in den Händen; Pranten bemerkte es nicht. An die Mauer des Altans gelehnt, folgte er scheinbar völlig hingegeben dem Toben der Elemente. Nach einigen Augenblicken beugte er sich zu Josephinen nieder.
„Ich bitte!“ sagte er, indem er sie aufhob. „Zwar,“ fuhr er in rascher Wendung fort, „bin ich unsicher, was Du von mir gefordert hast. Dir, Dir vermöchte ich zu zürnen? Halte mich nicht für ärmer, als ich bin! Es ist wohl Schicksalswille, immer Gleich zu Gleich; das traf bei uns nicht zu, weiter nichts. Aber nun zu Ende – sonst überfällt mich noch das Wetter!“ Er lächelte in bitterem Hohn. „Innen Thränen, außen Thränen; es wäre überlächerlich, nicht wahr? So lache doch mit! Ich kann noch lachen. O Josephine!“
Er riß sie an die Brust; schon näherten sich seine Lippen den ihren, da bog er sich mit einem erstickten Schrei zurück und stürzte aus der Thür.
„Felix!“ hallte es ihm nach; er hörte es nicht mehr.
Pranten hätte kaum sagen können, wie und wann er heimgekehrt. Als er zu sich kam, fühlte er fröstelnd, daß er völlig durchnäßt war; doch ob er im Gewitter noch unterwegs gewesen, ob ihn der Regen am Fenster getroffen, darüber sann er umsonst. Nur Eines wußte er genau: er hatte lange mit dem Kopf auf dem Fensterbrett gelegen und immer gebetet, daß ein erlösender Strahl niederzucke.
Die Strahlen hatten Besseres zu thun gehabt: drüben in der Vorstadt, wo die Hütten der Armen anfangen, brannte es an zwei Stellen, und ein Mann wurde erschlagen, der Waisen hinterließ.
[729]Einige Tage waren vergangen. Mit den besten Vorsätzen hatte Pranten am Morgen nach der Gewitternacht die Klinik betreten, sich unausgesetzt beschäftigt und selbst seine Freistunden damit hingebracht, allerlei in letzter Zeit in Unordnung Gekommenes wieder in den alten Gang zu bringen. Seine Stimmung war dabei frischer, weniger unruhig als seit Monden. Freilich, sobald irgend eine nothwendige Pause in seiner Beschäftigung eintrat, sah man ihm an, daß er tief ermüdet sein mußte, trotz des fieberhaften Verlangens nach immer neuer Thätigkeit.
So war wieder einmal der Abend herangekommen, die Klinik wurde geschlossen und Pranten schritt langsam den Rosengang hin, seinem Häuschen zu. Die Blumen dufteten stark; ein Luftzug, kaum fühlbar, streifte seine Wangen; die eben untergehende Sonne hauchte über Alles einen goldenen Schimmer.
Pranten fühlte sich unendlich wohlthätig berührt; der Athemzug so vieler Schönheit erquickte ihn, wie ihn seit lange nichts erquickt hatte. Sein Schritt wurde immer langsamer, und bei der Wendung des Ganges, wo sich der Durchblick auf’s Gebirge öffnete, blieb er stehen. Träumerisch folgte er den zarten, so bestimmten und doch gleichsam in den Horizont verschwimmenden Berglinien. Etwas wie Sehnsucht nach der bloßen Ferne, Sehnsucht ohne Namen, ohne wahren Zweck stieg in ihm auf. Mit einem Seufzer riß er sich los; mit tieferem Aufathmen betrat er sein Zimmer.
Das Fenster stand offen; im Zuge bewegten sich die weißen Vorhänge; Schwalben flogen hin und wieder.
Genau so war es gewesen, als er an jenem verhängnißvollen Gewitterabend heimgekehrt. Und mit dem Gedanken wurde auch wieder das ganze Elend der Gegenwart in ihm lebendig; er sank wie erschöpft auf einen Stuhl und verlor sich in regungsloses Hinbrüten.
Mehr und mehr erlosch alles Licht; ein frischerer Wind wehte auf; wie mit den Wolken trieb die Dämmerung daher. In den Ecken begannen Schatten zu lagern; ein leises Tönen geheimnißvoller Laute, halb Blätterrauschen, halb Windesstimmen, zog durch den Raum, und die Vorhänge bauschten sich wie um Gestalten. Pranten sah in der That Gestalten, doch immer dieselbe eine: jetzt ihm die Arme öffnend, jetzt mit sanftem Ernst ihn anblickend oder fortschwebend und winkend. Er fuhr mit der Hand über die Augen; der Spuk war verschwunden, aber das heiße, unbezwingliche Sehnen nicht. So viele Tage hatte er schon durchgerungen und endlich selbst die Hoffnung verloren, von ihr noch zu hören. Alles zu Ende, Alles wieder so öde um ihn her, wie es immer gewesen. Und dennoch erschien er sich ruhig heute, so todtruhig, daß er wohl wagen konnte, was er bis dahin vermieden hatte – warum eigentlich vermieden? Liegt es doch tief in der Natur des Menschen, die Stätte wiedersehen zu müssen, wo er glücklich gewesen. Sucht er aus ähnlichem Grunde nicht auch seine Todten auf?
Mit raschen Schritten, als könnte ihm noch Reue kommen, eilte Pranten, die Hauptstraße, die er sonst gegangen war, heute vermeidend, durch ein anderes Stadtviertel nach der Frauengasse, die er ein wenig oberhalb des Hauses, wo Josephine wohnte, betrat. Es war inzwischen völlig dämmerig geworden und wohl unnöthig, daß er dicht an den gegenüberliegenden Häusern der Straße hinschritt, aber es trieb ihn etwas dazu. So näherte er sich Nr. 18; je näher er kam, um so starrer wurden seine Blicke, um so beklommener sein Empfinden, als thäte er dennoch Unrechtes.
Alle Jalousien der Fenster niedergelassen; nirgends ein Lichtschimmer! Sonst waren die Jalousien des Gesellschaftszimmers stets offen geblieben – aus welchem Anlaß hatte man sie geschlossen? Die hämmernden Schläge des Herzens wollten in Pranten’s Brust nicht aufhören. Wär’ es denkbar, was er doch denken mußte – fort? Josephine fort? Abgereist ohne ein letztes Wort? Wirklich vorbei, was er trotz Allem noch nicht hatte fassen können? Aber nein! Es war heiß gewesen; nur deshalb hatte sie die Jalousien schließen lassen; wie immer saß sie auf dem Altan – darum fehlte auch das Licht in ihrem Zimmer. Jeden Augenblick konnte es aufleuchten – – war es da nicht schon? Oeffnete sich nicht das Fenster? Unwillkürlich trat er einen Schritt zurück. Bloße Täuschung! Alles blieb unverändert.
Wie ließ sich erfahren, ab sie daheim war? Im Eckladen drüben konnte er etwas kaufen – dabei fragen. Und wenn man ihn erkannte? Er sah sich rathlos um; da lehnte noch ein Dienstmann.
Er trat zu ihm und theilte ihm mit einer gewissen Ueberstürzung sein Verlangen mit. Der Mann lachte breit.
„I da kann ich Ihne schon Auskunft gebe; die Herrschaft is verreist; ich habe die Koffer selbst zur Bahn bringe müsse. – Zwei Damens?“
Pranten nickte.
„Eine so ein schmales Herrgottskäferche? kreideweiß?“
„Entsinnen Sie sich des Tages?“
[730] „Das muß noch in vergangener Woche gewese sein; richtig, den Tag nach’m Brande. Wisse Se, als es eingeschlage? Das war Donnerstag; Freitag Abend brachte ich die Sache weg – hier auf die Ostbahn.“
„Auf die Ostbahn!“ wiederholte Pranten tonlos und fuhr mit dem Stocke immer wieder die Fliesen entlang.
Nach einer Weile fragte der Dienstmann, indem er mitleidig den Kopf schüttelte: „War wohl gar was Liebes vom Herrn?“
Pranten schreckte auf und sah wirr um sich; dann suchte er für den Mann hastig eine Münze hervor, gab sie ihm und verschwand um die Ecke.
Lange irrte er ziellos umher; etwas zu Ende denken konnte er nicht. Die Gedanken wirbelten und kreisten, bis ihm der Kopf schmerzte und das Blut ihm zu Herzen drang, als sollte es ihn ersticken. Ohne Lebewohl war sie gegangen; nicht eines Grußes, den man doch für bloße Bekannte hat, nicht einmal dessen hatte sie ihn werth gehalten! Aus seinem Herzen quoll ein wilder Aufschrei: „Josephine!“ Dann sank er zu Boden wie ein Todter.
Er lag auf etwas, das schmerzte plötzlich; aus seiner Versunkenheit erwachend, sah er, daß es Wurzelknorren einer Weide waren, die über den Boden herausragten. Mit leisem Glucksen schob sich müde ein Wasser fort; in der dunkeln Fluth zitterte das falbe Licht des ersten Mondviertels. Schaurig still und einsam dehnte sich eine flache Landschaft hin.
Er mußte sich erst besinnen, wo er hingerathen war. Die Umgebung erschien ihm gänzlich unbekannt; hinter ihm die schwarzen Laubmassen konnten nur zum Stadtpark gehören; bis über dieselben hinaus flog der helle Gasschein.
Hastig sprang er auf und eilte bald auf bekannteren Wegen dem Parke zu. Je näher er diesem kam, um so ruhiger wurde sein Schritt. Seine Stimmung wechselte mehr und mehr; zuletzt ging sie in eine Art von Humor über. Mit stillem Behagen sah er in die erleuchteten Locale, aus denen Musik und heiterer Gesang erschallte. Was er noch eben geflohen, jetzt lockte es ihn auf einmal. Zu Ende mit dem Gewinsel! Nur eine Reue gab es noch für ihn – die um ungenutzte Stunden.
Da ging es nach seiner Wohnung ab. Gedankenlos bog er in das Gäßchen, doch plötzlich stehen bleibend, lachte er auf, hob die Hand wie zum Gruße und schritt in entgegengesetzter Richtung weiter. – –
In der Morgenfrühe schwankten drei Männer desselben Weges. Zwei waren angetrunken; der Große, welcher zwischen ihnen hinstolperte, lallte nur. An der Thür eines Häuschens, um welches Rosen dufteten, machte das Kleeblatt Halt; wüstes Anbieten, wüsteres Abweisen gellte durch die Nacht. Endlich schoben sich doch alle Drei in das Häuschen.
Kurze Zeit darauf kamen Zwei wieder heraus, und Einer von ihnen rief johlend: „Der schöne Felix hat wieder seinen bösen Rausch!“
Unter den öffentlichen Gärten der Residenz war der von prächtigen Alleen durchzogene Burgthorgarten der besuchteste. Seine zahlreichen Kastanienbäume und großblättrigen Linden spannten ein vollständiges Laubzelt über ihm aus und bewahrten ihm selbst im Hochsommer einen wonnigen Hauch von Kühle und Frische; seit Väter Zeiten her galt er als eine Art neutralen Bodens, auf dem sich im buntesten Gemisch und mit gleichen Rechten Arm wie Reich, Hoch wie Gering tummelten. Deshalb wurden hier auch, unter dem großen türkischen Gartenzelte, alle Concerte gegeben, die einen Wohlthätigkeitszweck verfolgten.
Auch heute Abend war ein solches Concert, durch welches sich die Residenzler auf ziemlich mühelose Weise ihr Stück Gotteslohn verdienten. Ein schwerer, in einem Gebirgsthal des Ländchens niedergegangener Wolkenbruch, der die gesammte Ernte jenes Landstrichs vernichtet hatte, mußte willkommene Gelegenheit geben, den Burgthorgarten wieder einmal zu besuchen.
Der ganze große Concertplatz war dicht mit fröhlichen Menschen besetzt, und selbst in den entlegensten Theilen des Gartens hatten sich kleine Gesellschaften eingerichtet. Es war ein unvergleichlicher Abend; das weiche Flüstern in den Baumwipfeln, das Spielen mit abendrothen Lichtern drängte sich Jedem wohlig in’s Herz, und die Harmonien durchdrangen wie ein Evangelium der Versöhnung dieses reizvolle Stückchen Welt.
An einem kleinen Tisch, der seitwärts auf dem Platze am Gartenzelt unter einer einzelnen Platane stand, saß Josephine Harder mit Frau Adelheid und einem jungen Manne, dessen Bewegungen und ganzes Benehmen auf den ersten Blick den Vollblutaristokraten kennzeichneten. Alles an ihm war gemessen und voll feiner Reserve, trotz eines verbindlichen, beinahe warmen Tones, sobald ihn etwas lebhafter erregte. Man lächelte oft an dem kleinen Tische, und Josephine schien dem Reiz einer sympathischen Unterhaltung völlig hingegeben. Baron Reichenau mußte seinen guten Tag haben; dann konnten ihn Anflüge von Witz, ja Geist in der That zum angenehmsten Gesellschafter machen.
Der Abend rückte vor; bald flammte es überall in den zahllosen weißen Lampenglocken der Candelaber, Bogen und Kronen. Ein gedämpftes Lichtmeer durchwogte den Raum und verwandelte ihn scheinbar, da sich das Laub der Bäume wie zu einer einzigen Wölbung emporhob, in einen mächtigen Saal.
Nicht weit von dem Platze, den sich Josephine gewählt, war ein offenes Büffet. Die Kellner liefen dort ab und zu; es trat auch wohl ein Herr heran und nahm im Stehen noch irgend einen „Steigbügeltrunk“. An einer Ecke dieses Büffets, mehr im Schatten als im Lichte, lehnte nachlässig ein hagerer Mann, der augenscheinlich mit sich zu Rathe ging, ob er noch etwas trinken sollte oder nicht. Begehrlich fuhren seine unsteten Blicke zwischen den Flaschen hin; die Hand klimperte in der Tasche mit kleiner Münze. Es war ein häßlicher Mensch; die eingebogene Nase, der große Mund mit dem fast vierkantigen Kinn hatten trotz des verhüllenden Bartes etwas Thierisches. Dabei sah er tief leidend aus; die eingefallenen Wangen waren aschfarben und alle Züge wie vorzeitig welk geworden.
Mit ein paar gleichsam hervorgestoßenen Worten forderte er endlich einen Rum. Er trank ihn und ließ sich das Glas nochmals füllen. In der Art, wie ihn die Büffetdame bedient, wie sie sein Geld genommen, mußte etwas gewesen sein, was den Mann verletzt hatte; er sagte höhnisch:
„Na na! Verbrennen Sie sich nur die Pfötchen nicht! Ihre Zimperlichkeit soll leben!“
Mit diesen Worten stürzte er auch das zweite Glas hinunter; bei dem Emporheben des Armes bemerkte man, daß sein Rock sehr abgetragen war, sich unten am Aermel sogar in Fransen auflöste.
Wie zufällig trat ein Polizist heran, und die beiden Männer maßen sich. In dem Blicke des Hagern, in seinem stolzen Sichabwenden lag für den Augenblick etwas Achtung Einflößendes. Er ging unbehelligt fort, und der Polizist begann ein Gespräch mit einem herbeikommenden Kellner.
Der hagere Mann trat an eine Statue, welche sich unter all diesen modernen Tischen und Stühlen seltsam genug ausnahm. Es war jene Polyhymnia, die, auf den umschleierten Arm gestützt, mit so ernstem Sinnen in die Ferne blickt. Der Mann legte die Hand leicht auf das Postament der Statue und sah gleichgültig in das Gewühl der aufbrechenden und kommenden Menschen. Plötzlich fuhr seine Hand am Postament hin und umfaßte wie im Krampf eine Ecke desselben. Auf den Wangen des Mannes trat scharf abgegrenzte Röthe hervor; seine Blicke hafteten in unnatürlichem Glanze auf einer Gruppe von Menschen, aus der sich eben drei Personen abzweigten, indem sie langsam einen Seitenweg einschlugen.
Der Mann eilte mit großen, unsichern Schritten querüber zu dem Bosquet, ging in demselben bis an die Stelle, wo jener Seitenweg einmündete, und stellte sich dicht an eine Platane. Ihre langen Aeste hingen wie ein Mantel um ihn.
Arglos, mit Scherzen auf den Lippen, näherten sich die drei Personen – Josephine mit ihren Begleitern – dem Bosquet. So fröhlich klang der Ausruf: „Ich gebe mich nicht gefangen – es gilt eine Wette.“
Den Mann unter der Platane mußte der Ton von Josephine’s Stimme erschreckt haben; er zuckte jäh zusammen. Doch nur einen Moment lang; dann schlug er die herumhängenden Aeste bei Seite und stand hochaufgerichtet vor ihr. Ehe sie zurückweichen konnte, hatte er ihre Hand gefasst:
„Finde ich Dich endlich? Wie lange Du mich suchen ließest!“ rang es sich von seinen Lippen.
„Sie, wirklich – Sie?“ rief Josephine, mit Entsetzen auf ihren Angreifer starrend.
[731] Reichenau, der neben Frau Ballingen gegangen, aber sofort an Josephinens Seite war, suchte sie durch einen kräftigen Stoß, welchen er gegen den Mann führte, zu befreien. Dieser aber hielt ihre Hand eisern fest und rief, sie an sich reißend:
„Zurück, Herr, mit Ihnen habe ich nichts zu schaffen, nur mit Der hier! Daß Sie es wissen – meine Braut ist sie vor Gott und Menschen.“
Reichenau sah Josephine, die das Haupt tief gesenkt hatte, betroffen an.
„Er ist wahnsinnig geworden, wahnsinnig,“ gellte Frau Ballingen’s Stimme dazwischen.
„Wäre das ein Wunder?“ fuhr der Mann auf. „Was mir geschehen, wem geschah das? Aber nein, so schwach bin ich doch nicht! Und nun sag’ Du mir, Feinslieb – ist es der neue Schatz? Juch, die Veränderung! Hüten Sie sich aber wohl, Herr!“ damit wandte er sich an Reichenau, „kommt Einer, dessen Larve schmeichlerischer als die Ihre, so kann Niemand gut stehen, ob Sie nicht morgen ohne Sang und Klang begraben werden. Figürlich, mein Herr, figürlich! Ohne Gift – mit einem Lächeln – Sie kennen ihr Lächeln doch? Fluch ihm – es hat mich zum Lumpen gemacht.“
Eine harte Faust packte seinen Arm und grinsend wiederholte der Polizist, mit dem er sich eben gemessen hatte:
„Ja, Lump! So haben wir doch richtig taxirt – vorwärts!“
„Was soll das?“ schrie der Mann zurücktaumelnd.
„Das fragt Er noch?“ entgegnete der Polizist mit festerem Zufassen; „man wird Ihn lehren, anständige Damen zu insultiren. Nur keine Umstände – sonst wird Er geschlossen!“
Josephine hatte betäubt, fassungslos dagestanden; ihre Begleiter versuchten sie fortzuführen; da riß sie sich los, stürzte trotz der Menschen, die sich rasch gesammelt, dem Polizisten nach und rief:
„Haben Sie Erbarmen. Ich bürge für diesen Herrn. Er hat mir nichts gethan, gar nichts; geben Sie ihn frei – es ist der Baron Pranten.“
Dieser, mit einem Ausdruck von Verachtung auf sie herabblickend, sagte rauh zu dem Polizisten:
„Nichts da, gar nicht beachtet – dergleichen Schwatz! Sie sind im Recht; ich folge Ihnen.“
Mit einer kurzen Wendung verschwanden Beide im Dunkel des Bosquets.
Schwer und grau, ob auch die Sonne stets in all ihrem Sommerglanz gestrahlt hatte, waren die Tage für Josephine hingegangen. Was eben erst – nach beinahe zwei Jahren fortdauernden Kampfes – leise zurückzutreten begonnen, war von Neuem vor ihr aufgetaucht. Und in wie verzerrten Zügen! Hatte sie damals wirklich recht gehandelt? Ihr spurloses Verschwinden, das absichtliche Unmöglichmachen jeder neuen Annäherung, wer durfte heute noch behaupten, daß es einer Natur wie Pranten gegenüber das Rechte gewesen?
Was geworden, das verklagte sie nur allzu laut: er war verkommen um ihretwillen. Wenn sie damals die Kraft gefunden hätte, neben ihm auszuharren! Nicht in Liebe, doch mit Theilnahme, in Freundschaft! Hätte sie ihn nicht gehalten? O sicherlich! Dem Leichten – nun kam es ihr leicht vor – war sie aus dem Wege gegangen, um seinem Fluch zu erliegen. Gewiß, kein Mensch, kein Gericht konnte sie verurtheilen: für den Mann galt es die einfache Pflicht, sich aufzuraffen, wie es Unzählige vor ihm gethan, Unzählige noch thun müssen, so lange Menschen – Menschen bleiben; dennoch fühlte sie sich schuldig. Und ob es die Andern Verhängnis nannten, was bedeutete der Name? Es blieb dasselbe, immer dasselbe.
Ihre Phantasie irrte durch die grausigsten Möglichkeiten; der Reichthum, welcher sie umgab, jede Freundlichkeit des Seins lag nun wie ein Vorwurf auf ihr – denn er, er darbte bestimmt. Todt sah sie ihn – wie oft! Mit Zagen entfaltete sie jedes kommende Blatt des Anzeigers; trotzdem schickte sie oft vor der Zeit nach dem Blatte; es dünkte ihr wie augenblickliche Erlösung, wenn sie nichts fand, was auf ihn zu beziehen wäre. Keinen Schritt that sie aus dem Hause, weil es ihr immer war, als müßte er sie dann gerade aufsuchen; jeder Wagen, der einmal dichter an ihrer Straßenseite hinrollte, ließ sie an’s Fenster stürzen, um zu sehen, ob er bei ihr vorführe; kein Klingelzug ertönte, ohne daß sie, an ihre Thür gedrückt, lauschte, wer gekommen.
Auf den Polizeibureaus wagte sie nicht nach ihm zu forschen, weil sie hoffte, daß er neulich unbehelligt geblieben; der Polizist war ihr im letzten Augenblick wie mitleidig erschienen; ihr Forschen also konnte eine Verfolgung erst heraufbeschwören – und wer wußte, ob die nicht zu scheuen war?
Auch die Cousine hatte Alles umsonst in Bewegung gesetzt, um über Cleebronn her bestimmte Nachrichten zu erhalten; daß Pranten vor drei Monaten fortgegangen, blieb die einzige Auskunft. Und von keinem bessern Erfolg waren die discreten Erkundigungen Reichenau’s in der Residenz selbst begleitet gewesen. Es schien ersichtlich, daß Pranten verschollen bleiben wollte.
Frau Ballingen fand das nach dem letzten Auftritt aus Gründen der Scham, eines Restes von Ritterlichkeit ganz natürlich und fand es so am besten für alle Theile, Josephine aber vermochte den Gedanken gar nicht zu fassen. Es dünkte ihr völlig unmöglich, Pranten nie wiedersehen zu sollen; ohne ein Aussprechen, ein milderes Wort des Abschiedes – das durfte Gott nicht zugeben, so schwer hatte sie sich nicht vergangen.
So war schon die dritte Woche nach jener letzten Begegnung herangekommen. Es war Mittwoch Nachmittag, Josephine allein in ihrem Zimmer. Da meldete das Mädchen einen alten Mann, der ihr persönlich etwas abzugeben hätte. Josephine winkte nur: „Das kommt von ihm, von ihm –“ dachte sie halb, halb flüsterten es ihre Lippen.
Der Mann trat herein: ein ihr fremdes, angenehm gutmüthiges Gesicht. Mit großen fragenden Augen blickte sie ihn an und nahm ein zusammengefaltetes Blatt Papier entgegen. Sie öffnete es hastig; ein Blick auf die Handschrift – es war die seinige. Fast versagten ihr die Sinne, dennoch verstand sie Alles. „Ich komme gleich; werden Sie mich begleiten?“ fragte sie. Der Mann bejahte und erbot sich, eine Droschke zu holen.
Josephine ging nicht mehr zur Cousine hinüber, befahl sogar, ihr erst später zu melden, daß sie ausgefahren, und stieg mit dem Alten in den Wagen.
Nach einer langen Fahrt hielten sie vor dem Stadtlazareth. Ueber Pranten hatte ihr Begleiter wenig zu sagen gewußt; er wäre vor zwei Tagen aufgenommen worden und sollte schwer leidend sein. Weiteres hatte er nicht gehört.
Mit unwillkürlichem Schauder sah Josephine zu dem Lazarethgebäude empor; sein grauer, vom Regen verwaschener Anstrich, die dunkeln tief in den Mauern liegenden Fenster gaben ihm etwas Kaltes, beinahe Finsteres trotz des warm darauf ruhenden Sonnenscheins. Noch mehr fröstelte es Josephine in den langen Bogengängen, die sie durchschreiten mußte; alle Fenster derselben gingen auf einen öden, gepflasterten Hof hinaus, und zur Rechten führte Thür an Thür in Krankenzimmer. Aus diesen tönten hier und da undeutliche Laute, sonst überall Stille; nur einmal begegnete sie einem Heilgehülfen, der ein Brett mit Medicinflaschen trug und neugierig die hier wohl ungewöhnliche Erscheinung einer Dame musterte.
Endlich öffnete der Alte eine Thür und nöthigte Josephine, einzutreten. Zögernd, in plötzlicher Schüchternheit, überschritt sie die Schwelle eines gewölbten, hohen Gemaches, welches die gewöhnliche spärliche Einrichtung solcher Räume zeigte. Unweit des Fensters sah sie ein Bett stehen; der darin Liegende hatte sich in dem Kissen aufgerichtet und streckte ihr die Hände entgegen. Sie eilte auf das Bett zu; der Alte ging und zog leise die Thür in’s Schloß.
Für die ersten Augenblicke blieb es lautlos in dem Zimmer; Beide starrten sich in die Augen, als stände in ihnen Alles, was zu wissen Noth that. Dann nickte Pranten schmerzlich und bat sie durch eine Bewegung, sich auf den Schemel zu setzen, der am Bett stand.
„Wie unendlich gut von Dir, daß Du gekommen bist!“ sagte er weich, indem sie sich setzte.
„Schon all’ die Tage lang erwartete ich Dich,“ erwiderte sie.
„Das konnte ich nicht wissen, vielleicht wäre ich sonst gekommen. Selbst zu meiner heutigen Bitte trieb mich nur die Nothwendigkeit; eine doppelte: sie sagten mir, zum Abend bekäme ich einen Cameraden in’s Zimmer; dann hätte ich Dich nicht mehr sprechen können.“
[732] „Nicht mehr sprechen?“ fragte Josephine erschrocken und gewann, ihn scharf anblickend, nun erst das Bewußtsein davon, wie sehr er sich verändert hatte.
Pranten, der ihre Bestürzung in den Mienen las, nickte wieder und sagte: „Es geht zu Ende. Für mich giebt es nicht die trügerischen Hoffnungen gewöhnlicher Schwindsüchtler; ich bin Arzt – nur absichtlich könnte ich mich täuschen. Vor der Nacht ist’s wohl vollbracht. Das reimt sich sogar. Und wohl mir: der meinte es nicht gut, der mein Ziel weiter steckte. Aber nicht daran wollen wir denken; ich habe Dir noch viel zu sagen, Dich so Vieles zu fragen.“ Er hielt erschöpft inne; seine Finger strichen zitternd über die Decke hin. „So hast Du mir auch vergeben,“ fuhr er fort, „daß ich in dem Garten –“
„Nicht ich habe zu vergeben,“ unterbrach sie ihn erschüttert. „Du, nur Du! Und könnte mein Herz jetzt offen vor Dir liegen, Du müßtest nachsichtig mit ihm sein: es hat unsäglich um Dich gelitten. Nicht jetzt erst; was bedeuten Tage? So lang ich von Dir bin, so lange fehlte mir jedes Glück. Die Anderen sprachen mir wohl zu und verstanden Alles zu wenden; ich wußte auch nicht, wie ich Dir helfen sollte, da es stets nur das Eine gewesen, was Du fordertest, und ich mich trotz heißesten Verlangens da nicht hinfand – aber Frieden fand ich ebenso wenig. Felix, gieb ihn mir wieder! Du allein kannst es, Niemand, Niemand sonst.“
„Fasse Dich, Josephine!“ bat er. „Ich will Dir ja geben, Alles, was Dir Bedürfen scheint, und noch viel mehr. Das gebietet mir ja schon das Herz, das Dir immer nur Dank schuldet für jene unvergeßlich holde Zeit, in der es leben durfte. Die Tage, da es begann, könnte ich Dir herzählen, die Tage des Glückes – auch das Ende: ich habe in nichts Anderem gelebt, all’ die Zeit her. Sie werden Dir in Cleebronn sagen, ich wäre gleich dem Vater geworden, ein Trinker – Josephine! Glaube ihnen nicht! Nur wenn ich fühlte, wie der Wahnsinn die kranke Brust heraufkroch, dann mußte ich trinken. Das betäubte; zuletzt freilich gab es eine Gewohnheit. Aber daran sterben, wie es mit dem Vater ging – das ist nicht mein Fall. Von je lag etwas Schwächliches, so eine Art Giftkeim, in mir; der ist ausgeartet – in die Zehrung, sagen sie in Cleebronn. – Ich sterbe ganz natürlich; zeuge für mich. Ah! Oder laß sie auch hecheln und klatschen – nach Herzens Gefallen! Wenn man erst seine Bretter und Brettchen so nahe weiß – Du glaubst nicht, welche Ruhe das giebt, welche vornehme Ruhe.“
„Mein armer, theurer Freund!“
„Dein Freund! Hätte ich mir daran genügen lassen! Ich konnte es nur nicht, wie Du das Andere nicht konntest. So klar liegt jetzt Alles zurück – der ganze schwüle Weg. Wir sind aber nicht schuldig. Etwas über uns hat es so gewollt. Eine traurige Macht! So manches Gute lag wohl in mir, hätte noch Vielen zum Heile werden können – es sollte nicht sein. Unserem guten Alten wurde es recht schwer, mich fortzujagen.“ Pranten lächelte vor sich hin; dann fuhr er in demselben allmählich leiser gewordenen Tone fort: „Doch ich selbst mußte ihm neulich Recht geben; zu heillos wurde die Unordnung, und für die Klinik paßte ich schon gar nicht mehr. Sprichst Du ihn einmal, so danke auch ihm noch! Ueberlange hat er mich zu halten gesucht. Die Krankheit, meine Krankheit – es ging eben nicht.“
Er schwieg. Josephine vermochte nur mühsam ihre Fassung zu bewahren; mit zärtlicher Hast strich sie ihm das Haar aus der Stirn.
„Wie mein Vater zu thun pflegte, wenn ich krank lag,“ sagte er und zog ihre Hand an die Lippen. „Schon als Kind war ich viel krank, und es saß nur die Magd bei mir; aber mein Vater trat stets an’s Bett, bevor er ausging. – Nun ich Dich so vor mir sehe, jeden, auch jeden der geliebten Züge wiederfinde, nun ist es wie etwas Undenkbares, daß ich mich neulich so vergessen, Dir so weh thun konnte.“
„O, laß das! Ich weiß es nicht mehr.“
„Aber ich weiß es und erinnere mich wohl, woran es lag. Daß ein Anderer bei Dir war, glaubte ich damals nicht ertragen zu können; was bedeutet das heute noch? Wer war der Mann? Ist er Dir lieb? Viel lieber als ich?“
„Es ist ein Baron Reichenau, ein Verwandter von Adelheid. Nahe, wie Du es meinst, steht er mir nicht und wird es niemals –“
„O, nicht so! Verschwöre nichts, was vielleicht einmal schwer fiele zu halten! Du hast einmal solch zartes Gewissen: wie Du Dich mir gegenüber schuldig fühlst, wo Du so ganz schuldlos bist, könntest Du dereinst auch zögern, Deinem Herzen sein Leben zu gönnen, weil ein Todter dazwischen stände. Das soll, das darf nicht sein. Ich habe es immer für bare Teufelei, für unsern einzigen Geisterspuk angesehen, wenn solch Menschenwurm den Egoismus so weit treibt, selbst im Grabe noch das Schicksal von Lebenden sein zu wollen. Du bist viel zu hold und gut, als daß Du an solchem elenden Gesellen, wie ich es bin, zu Grunde gehen dürftest. Ich bitte Dich sogar herzlich, vergiß mich bald – mir wird ja so wohl sein. Du hast schon zu lange getrauert – nun in’s volle, herrliche Leben! Es kann unsäglich beglücken; traue mir darin! Auch denke immer, je glücklicher Du Dich fühlst, je seliger fühlt sich der todte Freund. Dein Glaube verheißt ja Unsterblichkeit! Ich bin nicht mehr eifersüchtig: das liegt so in der Art – im Leben schwach, im Tode stark.“
„Felix, laß von den Gedanken! Du rufst den Tod. Wir bringen Dich zu uns; ich will Dich pflegen; noch bist Du nicht so kraftlos. Deine Hand zittert nicht mehr; die Wangen haben sich geröthet.“
„Das ist ein böses Roth. Doch was ist da böse? Gedankenlos bis zuletzt! Ach!“
Er fuhr mit der Hand nach der Brust, indem er schwer und kurz aufathmete. Josephine faltete die Hände und blickte besorgt auf den mit geschlossenen Augen Daliegenden. Jetzt sah auch sie, daß sich über seine Züge schon etwas gebreitet hatte, was kaum mehr weichen konnte; vielleicht war sogar der Tod nahe. Angstvoll blickte sie umher, dachte schon Hülfe herbeizurufen – da schlug Pranten die Augen auf. Er versuchte zu lächeln und sagte, indem er sich auf die Seite stützte: „Tritt einmal an’s Fenster! Drüben links die hohen Bäume, siehst Du sie?“
„Eine Allee?
„Eine Kastanienallee; da ist unser Kirchhof.“
Josephine eilte an Pranten’s Lager zurück, und rief seine Hand unter Thränen an sich drückend: „Sei nicht so grausam!“
„Das bin ich nicht,“ erwiderte dieser, während seine Blicke starr am Fenster hafteten. „Da es der Zufall neulich so fügte, daß ich an dem Kirchhof entlang ging, warum hätte ich nicht eintreten sollen und mir die Stelle ansehen, die bald die meine sein wird? Zuletzt bezieht Jeder sein eigen Haus, wer auch nie eines besessen hat, pflegte unsere Marthe zu sagen. Auf die Nummer, welche daran ist, besinne ich mich nicht mehr, die Stelle ist aber leicht zu finden und so heimlich und in Frieden. Ich möchte nun nirgend anders hin; man muß sie im Voraus lieb haben. Die Kastanienallee links hinunter, nur ein Stückchen – da liegen die frischen Gräber alle bei einander; die beiden letzten sind recht öde; keine Blume, kein Zweig, nur das schwarze Täfelchen mit den Nummern! – Die armen Teufel, die darin schlummern, mögen keinen Verwandten zurückgelassen haben oder starben in der Fremde. Ich sterbe in der Fremde und lasse Niemand zurück.“
Josephine drückte seine Hand fester, indem sie ihm flehend in die Augen sah; er lehnte sich zurück und strich sanft über ihren Scheitel.
„Ich habe Unrecht: lasse ich doch Dich zurück, und Du wirst meiner freundlich gedenken, mir auch einmal eine Blüthe bringen. Jene Gräber hatten etwas Trauriges. Nur ein großer Busch Mondblumen steht ihnen zu Häupten. Ich mußte weinen, als ich sie sah; schon als Knabe liebte ich diese Blumen und ging immer, wenn sie blühten, mit dem einzigen Freunde, den ich gehabt, bis weit hinaus vor Cleebronn, wo sie an einem Berghang standen. Oft pflückten wir sie im Mondenschein und hatten dann wunderliches Hoffen in der Brust. Ob es ihn trog, ich weiß es nicht – Aber Du wirst meines Sprechens müde sein; ich hatte nur so lange mit Niemandem geplaudert und gerade zuletzt – willst Du gehen?“
„Nein, Felix! Es zerreißt mir nur das Herz, Dich von dem Allen mit dieser entsetzlichen Gewißheit sprechen zu hören.“
„Du bist meine starke Josephine. Und sage Dir immer, daß ich sehr müde war und gern geschieden bin, unsäglich gern, seit Du mich angehört, mir vergeben hast, was an Fehl- und Mißverstehen in mir gewesen ist. Aber hörst Du?“ er richtete sich auf, „da schleift es auf dem Gange her; sie schleppen etwas – wohl das Bett für den Andern, der noch hierher soll. Oder – [734] tragen sie wieder einen Sarg? Gestern trugen sie einen vorbei, und der schlug an meine Thür.“
Wie ein Schauer lief es über ihn.
„Laß uns scheiden, Josephine! Die Stunde war schon Seligkeit; bis zum Ende hätte ich so plaudern mögen, hier drängt aber Einer den Andern, und vor Fremden wollen wir nicht scheiden. Ja, sie setzen das Bett an die Thür. Habe ich Dir noch etwas zu sagen? Lasse mir kein Kreuz setzen, nichts – die Nummer ist übergenug; es schickt sich nicht: solch alter vornehmer Name und ein Armenkirchhof. O, ich kann immer noch scherzen. Auch keinen Geistlichen will ich; für mich bedeutet der Mann nicht die Auferstehung, die hinter dem Tode herschreitet. Ah, nichts von Auferstehung! Ich könnte wieder zum Grauen erwachen und wieder ein Herz haben!“
Die letzten Worte klangen schrill hin; er sank in die Kissen zurück. Mit einem Aufschrei beugte sich Josephine über ihn, doch er hob noch einmal den Kopf und sagte abgebrochen, indem er mit leuchtendem Blick zu ihr aufsah: „Sonst ging ich, und Du bliebst; heute gehst Du, und ich muß bleiben. Aber gehe nun – sie kommen sonst. O Du all mein Glück, sei zu tausend Malen gesegnet! Josephine, meine – Josephine!“
Der Name erstarb ist einem leisen Röcheln, Pranten’s Augen brachen. Eh die Andern kamen, war der Tod gekommen. – –
Drei Tage darauf, spät am Abend, fuhr ein Leichenwagen auf den Armenkirchhof. Nur zwei Damen folgten dem Gefährt.
Der Todtengräber sah die Beiden dann oft kommen; bis er nach Jahren einmal ein Grab neben Nummer 513 auszuwerfen hatte. Seit dem Tage kam nur eine von den Beiden noch. Ob die Bleiche fortgezogen war oder in dem neuen Grabe ruhte? was kümmerte es ihn! Er wußte es nicht.
Wir aber wissen es.