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Evangelien-Postille (Wilhelm Löhe)/Trinitatis 12

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Am zwölften Sonntage nach Trinitatis.

Evang. Marc. 7, 31–37.
31. Und da Er wieder ausgieng von den Grenzen Tyrus und Sidons, kam Er an das galiläische Meer, mitten unter die Grenze der zehn Städte. 32. Und sie brachten zu Ihm einen Tauben, der stumm war, und sie baten Ihn, daß Er die Hand auf ihn legete. 33. Und Er nahm ihn von dem Volk besonders, und legte ihm die Finger in die Ohren, und spützete, und rührete seine Zunge, 34. Und sahe auf gen Himmel, seufzete und sprach zu ihm: Hephatha! das ist, thue dich auf! 35. Und alsobald thaten sich seine Ohren auf, und das Band seiner Zunge ward los und redete recht. 36. Und Er verbot ihnen, sie sollten es Niemand sagen. Je mehr Er aber verbot, je mehr sie es ausbreiteten. 37. Und verwunderten sich über die Maße und sprachen: Er hat alles wohl gemacht; die Tauben macht Er hörend und die Sprachlosen redend.

 DEr HErr war eine kleine Zeit auf das phönicische Gebiet gegangen. Da hatte sich die Geschichte mit dem cananäischen Weiblein und ihrer Tochter ereignet. Darnach gieng Er wieder zurück bis an das galiläische Meer oder, was eins ist, zum See Genezareth, auf das Gebiet der zehn Städte. Hier heilte Er einen Taubstummen, deßen Heilung unser Evangelium erzählt und unsre Predigt näher betrachten wird. Wir zerlegen uns zu dem Ende den Inhalt des Textes in folgende fünf Stücke:

1. Das Leiden des Taubstummen;
2. Das Mitleiden der Menschen;
3. Das Mitleid JEsu in der Art und Weise Seiner Erweisung.|
4. Die Vollkommenheit der mitleidigen Hilfleistung JEsu.
5. Die Wirkung des Wunders auf die Menschen.

 1. Taube, namentlich taub geborene, sind oft auch stumm, weil der die Töne der Sprache seiner Eltern nicht nachahmen kann, welcher sie nicht hört. Stummheit ist allein schon ein großes Uebel, denn es ist im Menschen ein großer Drang, sein Inneres zu offenbaren. Auch Taubheit allein ist ein großes Uebel: die Welt wird zum bloßen Bilde für den, welcher ihren Schall nicht vernimmt. Der Taubstumme ist doppelt elend. Gerade diejenigen Sinne und Organe, durch welche die geschaffene Welt dem Herzen nahe gebracht und erst recht lebendig wird, fehlen dem Taubstummen. Wie ausgeschloßen steht er in der Welt − und je theilnehmender seine Seele ist, desto schwerer wird es ihm fallen, wenn der Versuch, sich anzuschließen, so mühevoll ist und so oft mislingt. Er sieht, wie sich die Lippen der Seinigen bewegen, wie alle Glieder, alle Mienen mit der Bewegung der Lippen lebendig werden, wie bald Freude und Traurigkeit, bald Zorn und bald Freundlichkeit, bald diese, bald jene Seelenstimmung unter dem Lippenspiel die Züge der Redenden beleben, − wie von einem Redenden auf den Hörenden sich dieselben Gebärden, derselbe Ausdruck des Auges und der Züge mittheilt und fortpflanzt, − wie eine ganze Gesellschaft bewegt wird, so wie die Lippen sich bewegen. Er sieht es − und es ist ihm so fremd, es wird ihm so wehmüthig zu Muth. Er fühlt sich so einsam in der beweglichen Stille, dem stummen Gewühle der Menschen. Wendet man sich an ihn, so bemerkt er, daß ganz andere Mittel, sich mitzutheilen, angewendet werden, daß die freundlichste Annäherung seiner Lieben mit einer Art von Mitleid, ach von Aufopferung geschieht. Und wie oft muß er warnehmen, daß Ungeduld und Widerwille sich in den Mienen derer ausspricht, die es versuchen, ihm verständlich zu werden. Er weiß, er ist ein Mensch, wie andere, aber ein ganz besonderer, auffälliger, seltener, unbehaglicher, der auch selbst kein Behagen finden kann. Ach, Leidens genug trägt jeder Taubstumme! − Besonders müßen wir aber den Taubstummen des Evangeliums bedauern. Er hört JEsum nicht, − nicht das Wort, das wie ein Feuer alle Welt ergreift! Er sieht Bewegungen unter den Hörenden, Entzückungen, Wunder − Wunder in der ganzen Natur: es ist eine außerordentliche Zeit, welche unter der Lippenbewegung des stillen JEsus geboren wird! Nur der Taubstumme vernimmt’s nicht und kann weder in Alleluja, noch in Hosianna einstimmen. Er lebt in den schönsten Tagen, im herrlichsten Frühling der Erde − aber es scheint ihm aller Segen seiner Geburtszeit genommen zu sein, weil er sie nicht mit erleben kann, weil er nicht hört und nicht nachspricht, was der HErr, welcher das Wort ist, vorspricht. Wie unglücklich ist der Taubstumme! Und doch gab es damals, es ist schrecklich wahr, Leute, die noch unglücklicher waren, als er. Der Taubstumme wandte das verschloßene Ohr umsonst dem HErrn zu, er wollte hören und hörte nichts. Hingegen standen andere rings umher, welche alles, was der HErr sagte, genau vernahmen, aber theilnahmloser, ausgeschloßener von der seligen Bewegung ihrer Zeit waren, als der Taubstumme. Sie hörten die süßen Worte des Evangeliums, sie hörten, wie ringsum die Begeisterung in Seufzen, in lautem Lob und Dank sich kund gab, wie bald ein Weib in die Worte ausbrach: „Selig ist der Leib, der dich getragen etc.“, bald ein Pharisäer rief: „Selig ist, der das Brot ißt im Reiche Gottes“ − oder: „Ich will dir nachfolgen, wo du hingehst.“ Sie hörtens − und blieben kalt: Die Stimmen der Hure, die Stimme des Wechslers, die Stimme des Verläumders, die Stimme des Klagweibes an den Gräbern, die Stimme eitler menschlicher Weisheit − hatte ihr Herz und darum ihr Ohr taub gemacht für das Lied des neuen Bundes. Neben ihnen standen vielleicht noch unglücklichere, die Neider, die Feinde JEsu. Sie vernahmen aus Seinem Munde nur das Echo des eigenen Herzens − nur Neiderregendes, Haßerregendes vernahmen sie. Sie sahen in dem Heiligen Gottes Belials Diener, sie sahen und hörten ihn ganz in ihrer Gestalt. Sie waren umgekehrte Bienen. Denn rechte Bienen sammeln überall Honig, sie aber sammelten von der süßen Rose von Saron nur Gift, ach nur Gift fürs eigene Herz und achteten sich also selbst der Zeit, in der sie lebten, und des Heiles JEsu Christi nicht werth. Wehe, wehe, wehe, wie viel unglücklicher waren sie, als der Taubstumme, welcher dem himmlischen Gnadentage der Freudentage und des Lobgesangs entgegengieng!

|  O daß unter uns so wenige geistlich Taube und Stumme, als leibliche Taube und Stumme wären! Aber ach, wie viele unter uns hören die Stimme des guten Hirten in der Predigt an, als wäre es die Rede des Lotterbuben! Wie viele vermögen sie nicht zu verstehen! Wie viele werden trotz der lauttönenden Wahrheit in ihrem verkehrten Denken und Reden nicht geändert, sondern eher immer härter! Wie viele hören, wie die falschen Zeugen JEsu gerade das Gegentheil von dem heraus, was gemeint ist! Wie viele hören sich zum Schaden! Wie viele sind nicht etwa nur taubstumm, wie geschrieben steht: „Sie haben Ohren und hören nicht etc.“; sondern haben so kranke Ohren, daß sie die klare Wahrheit als Verwirrung, das reine Wort als Lüge, den Segen als Fluch − und den Fluch als Segen verstehen müßen, − müßen, weil sie nicht anders wollen!

 2. Da darf man wohl Mitleid haben. − Mitleid ist Mitleiden, Mitleid thut weh, wenigstens ist es bittersüß. Mitleid erfüllt das Herz, − das Auge, − die Züge, − den Mund, − die Hände, − die Füße. Mitleid ist Leben, ruhendes Mitleid ist todtes Leben. − Zum Mitleid gehört Wohlwollen und Liebe. Wer sich den Zustand des andern wohlwollend vor Augen stellt und sich recht lebendig hineinversetzt, in dem wird Mitleid entstehen. Wer deshalb den Zustand eines Taubstummen, seine Gebundenheit, seine Entbehrungen genau ermißt, der wird mitleidig und zur Hilfe geneigt werden. Er wird es um so mehr, je glücklicher er selbst ist, je verschiedener sein Schicksal von dem traurigen Schicksale seines Nächsten ist, und je mehr der bemitleidete Unglückliche von der Art ist, daß er seinen Mangel nicht oder nicht genug fühlen kann. So war es nun auch bei dem Taubstummen unsers Textes. Er konnte, so sehr es etwa auch seinen Kräften gemäß geschah, doch nicht genug ermeßen, wie elend er war. Seine Angehörigen ermaßen es um so mehr. Ihr Mitleid trieb sie, für ihn zu sorgen und alles anzuwenden, was zu seinem Heile dienen konnte. Zwar an allen menschlichen Aerzten hatten sie Ursache, zu zweifeln; menschliche Aerzte heilen Taubstumme nicht, das wußten sie. Es gab für ihren Kranken keinen Helfer, als JEsum. Darum brachten sie ihn zu JEsu! Sie brachten ihn und baten den HErrn, die Hand auf ihn zu legen. Die Leute zur damaligen Zeit konnten mehr nicht thun, als ihre Kranken bringen und für sie bitten. Mit dem Bitten war ihre Arbeit zu Ende. Wir können für unsere Kranken und Elenden noch weniger thun, und brauchen nicht so viel zu thun. Wir können sie nicht bringen, und Gott Lob, wir brauchen sie nicht zu bringen, denn ER ist ihnen allen Selbst nahe und Seinen barmherzigen Augen ist niemand verborgen. Aber bitten können sollen auch wir und haben beim Bitten eine größere Hoffnung, als die Leute zu JEsu Zeit. Denn zur Zeit Seines Fleisches war JEsus Christus Seiner Herrlichkeit entäußert, Wunder waren Ausnahmen, so viel es auch waren. Jetzt aber sitzt ER im Regimente. Ihm ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden, wir können betend aus Seinem Reichtum schöpfen, was und wie Großes wir auch bedürfen. Unser Bitten erwartet nun nicht mehr zu viel.

 Da nun das Mitleid nicht mehr thun kann, als Fürbitte, da es so wenig thun kann und so große Hoffnung des Erfolgs hat, warum bitten nicht auch wir mehr für unsere Freunde, für unsere Feinde? Wir sehen die Mängel an Freund und Feind oft so scharf, wir reden so oft davon mit Menschen, die nicht helfen können, − warum tragen wir nicht unserer Brüder Bedürfnis dem Vater im Himmel und Seinem Sohne JEsu Christo betend vor? Wir können zwar mit unserer Fürbitte die Barmherzigkeit des HErrn weder erwecken, noch stärken; aber der HErr hat doch der Fürbitte so große Verheißungen gegeben: wollen wir denn nicht betend diese Verheißungen einsammeln, wie himmlische Garben, zu der Brüder Heile und zu unserer Freude? Und das Elend so vieler Menschen fordert uns so dringend auf zur Fürbitte! Wir sehens, wir greifens fast, wie viele unter uns sind, welche nicht sehen und hören, noch reden. Es ist um uns her alles so taub und stumm. Die unheimliche Stille von Gott und göttlichen Dingen bei dem Geräusche weltlicher Angelegenheiten; die taube Verschließung aller Ohren vor den Stimmen, die vom Himmel kommen, muß uns so sehr befremden! Kann es uns denn wohl sein in solchen Umgebungen? Kümmerts uns denn gar nichts, ob Tausende, ja Millionen verloren gehen? stumm und taub zur Hölle fahren? Wie viele, die nun selig sind, sind erbetene Gotteskinder! Wie wenige sinds nicht! In einem gewissen Sinne sind es alle, denn der ewige Hohepriester betet für alle mit| Namen und Seine Kirche betet mit und ohne Namen und Namenkenntnis für alle! Ohne Gebet ist niemand selig geworden. Darum, Brüder, weniger Klage, weniger Scheltwort, weniger Hader, weniger Getöne dieser Welt und mehr Gebet, mehr Gebet! mehr Fürbitte! Die Welt spürts, ohne zu wißen, woher es kommt, wenn einige betende Menschen mehr sind! Der Beter spürts nicht, aber die für welche gebetet wird! Der HErr vergibt öffentlich, was heimlich im Kämmerlein geschieht. Dazu schürt der betende Mensch in sich eine Flamme der höhern Welt an, welche ihn durchglüht und verklärt und all seine Umgebung erwärmt. Darum, Brüder, beten, beten! daß das Widerwärtige verzehrt werde, daß der HErr und Seine Hilfe erscheine!

 3. Auch ER, auch der HErr ist mitleidig, wie wir, oder vielmehr wie wirs nie sind. Das ist unsere Freude und unser Glück, daß die Gottheit in Christo JEsu der Menschheit so nahe geworden ist, daß sie die Menschheit annahm, daß der HErr Immanuel an eigenen Leiden Mitleiden lernte, daß ein menschliches Herz auf dem Throne Gottes schlägt, daß im Himmel ein mächtiges Bewußtsein und doch ein menschliches Bewußtsein unsers Elends ist. Ganz anders schaut nun der bedrängte Mensch gen Himmel auf, und in einem besondern Sinne sprechen wir in unsern Nöthen jetzt unser: „Du weißt, wie mir zu Muthe ist!“ Es ist ein göttlich-menschliches Erbarmen im Himmel − und eine heimliche Antwort, eine stille Versicherung des Mitleids steigt in die Seele des betenden Leidenden herab. − Doch laßt uns die Art und Weise, wie der HErr am Taubstummen Sein Erbarmen bewährt, betrachten.

 Er nimmt ihn vom Volke besonders − Er legt ihm die Finger ins Ohr − Er spützt und rührt seine Zunge. Er gebraucht Mittel, denen mans nicht ansieht, daß sie so große Hilfe mittheilen. Zwar so viel erkennt man wohl, diese Mittel mußten den Taubstummen aufmerksam machen, daß der HErr etwas Besonderes mit ihm vorhabe − die Seele des Armen wird diese Zeichensprache wohl verstanden haben und auf ihre Warte getreten sein, zu schauen, was da kommen sollte. Aber das bleibt gewis, es waren die Mittel an und für sich gering. Sein Finger − Sein Speichel, Sein Berühren, wie wenig ist es! Allein hätten diese Mittel auch gewis nichts ausgerichtet. Mit diesen äußerlichen Mitteln mußte sich eine Kraft vereinigen, welche sie fruchtbar machte. Diese Kraft lag in dem Worte des HErrn − im Hephatha, thue dich auf. Gleichwie im Sacramente des HErrn das Waßer allein kein gnadenreiches Lebenswaßer ist, sondern es erst durch das damit verbundene Wort ist; gleichwie das Brot, der Wein im Abendmahl ohne Wort des HErrn nur Brot und Wein sind und keine seelenheilende Kräfte des Lebens bei sich haben: so ist es auch mit unserm Wunder. Erst durch das Hephatha wird die Berührung des Fingers und Speichels JEsu zum mächtigen Hilfsmittel für den Taubstummen. − Da zeigt uns der HErr, wie Seine Weisheit unter den Menschenkindern gerne in verbergenden Hüllen spielt, wie ER sich so gerne mit Seiner Gnade in allerlei Mittelursachen verhüllt. So thut ER in der Natur, so thut Er im Reiche der Gnaden. ER bestreuet nicht unmittelbar die Erde mit Korn und Trauben, Er schüttet die Aepfel nicht unmittelbar aus Seiner himmlischen Vorrathskammer; sondern ER erzieht mit Seiner Geduld das Aehrenfeld, den Weinberg, den Baumgarten − und reicht uns durch mancherlei anmuthige Arme und Hände Seine süßen Gaben. Alle Gaben schenkt Er mittelbar − und keine Seiner Gaben dient der Seele zum Segen ohne Sein heiliges Wort. Die Sonne in ihrer Herrlichkeit, der Mond in seiner schauerlichen Heimatlichkeit, die Sterne in ihrer wundervollen Verheißungsfülle, − ja, alle Engel in ihrem himmlischen Glanze: ohne das Wort des HErrn sind sie Schaugepränge, Schaugerichte. Aber diese tauben Creaturen, diese vernunftlosen Wesen − sie bekommen eine Sprache, sie bekommen Segnungen über Segnungen für uns, sie werden uns zum Paradiese des Glaubens, − und die heiligen erscheinenden Engel werden zu Gottes Boten, wenn über ihnen, mit ihnen, durch sie ein Wort des HErrn zu uns gelangt. Nichts ist heilsam ohne Gottes benedeiendes Wort, alles, was nicht zum höllischen verlorenen Reiche gehört, wird heilsam, wenn das Wort damit verbunden wird. Der Apfelbaum lächelt ohne Wirkung, wenn ohne Wort − aber schreib über seine Blüthen „Gottes Verheißungen trügen nicht. Was ER zusagt, das hält ER gewis!“ so ist der Stumme redend worden − oder vielmehr dein verschloßenes Ohr ist empfänglich worden für die| Stimme der Creatur. Das Wort ist die lebendige Seele aller Dinge. Alles ist leer und öde, wie ein zum Feuer abgenommenes Nest, wenn das Wort nicht mehr drüber webt, − und ohne die durch das Wort weihende Kirche ist nichts uns heilsam.

 Wenn Deine Hand mir Krankheit sendet, o HErr, so benedeie Dein Wort mein Krankenbette, daß ich auf ihm geistlich nicht entschlafe! Dein Wort benedeie meine Arzenei mit Deinen Kräften, daß sie mir helfe! Dein Wort benedeie meinen Tod, daß er mir Leben heiße und sei! HErr, Dein Wort erkläre und verkläre mir alles und mache mir alles zum Segen! Alles werde mir durch Dein Wort zum Träger für die Kräfte der zukünftigen Welt! Alles werde mir so zum Gnadenmittel, − mich aber erleuchte, daß ich gerne alle Gnade durch Deine Gnadenmittel erhalte und behalte!


 4. Die Gnadenmittel sind ihrer äußern Erscheinung nach oft gering, irdischer, unvollkommener Art. Aber der HErr legt vollkommene, himmlische Schätze in irdische, geringe Gefäße; Er bietet in unscheinbaren Hüllen vollkommene, herrliche Güter. So hier bei dem Taubstummen. Der HErr thut ein doppeltes Wunder. Das Wunder wäre bei aller Erhabenheit doch nur einfach gewesen, wenn der HErr den Armen das Gehör und die Fähigkeit, reden zu lernen geschenkt hätte. Es ist aber doppelt, weil Er nicht bloß das Gehör, sondern auch das Verständnis des zuvor nie Verstandenen, und nicht allein die Fähigkeit zu reden, sondern auch gleich das Geschick zu reden, Fertigkeit im Reden gab, denn „Er redete recht“. Der HErr wollte den erwachsenen Mann nicht zum unmündigen und unverständigen Kinde machen. Ein Mann soll nach Seinem Sinn auch Mann sein, drum gibt Er dem Taubstummen männliches Gehör und männliche Rede. So hilft ER vollkommen, über Bitten und Verstehen! Eine große, eine durchgreifende Veränderung ist in dem Taubstummen vorgegangen! Aller Mangel seiner Geburt ist ersetzt, − er bedarf nicht erst wieder seine Jugend zu durchleben, um Versäumtes in Hören und Reden einzuholen, er ist geworden durch des HErrn Gnade, was andere Gesegnete des HErrn durch Erziehung, d. i. er ist durch einmalige Erfahrung der Gnadenmittel geworden, was andere durch anhaltenden Gebrauch derselben.

 Wunderbarer Segen, den wir geistlicher Weise auch jetzt noch inne werden. Es gibt Menschen, welche von Jugend auf das Evangelium vernehmen, wie Timotheus, − welche ein Wort, einen Begriff, ein Urtheil des HErrn nach dem andern faßen und in ihr Leben übergehen laßen, daß sie so nach und nach an Alter, Weisheit und Gnade, an Verständnis und Erkenntnis zunehmen und je länger, je mehr recht reden lernen.

 Es gibt aber auch Menschen anderer Art. Sie empfiengen den Funken des neuen Lebens in ihrer Taufe. Aber es fehlt ihnen jene Erziehung, deren Wort und Segen den Funken zur Flamme anfachte. Statt daß die großgezogene, reich genährte Flamme des neuen Lebens alles Widerwärtige verzehren sollte, erstarb das Gute und das Widerwärtige ward herrschend, daß sie völlig widerwärtig wurden. Sie gehen dahin und kennen den Anfang ihrer Tage und ihr Heil nicht und leben von Sünden. Da kommen klein scheinende Umstände. Sie werden von ihrem Volke gesondert und in eine Einsamkeit der Seele geführt. Finger und Speichel wird ihnen mit Hephatha vereinigt. Das Wort des Allmächtigen wird ihnen durch verachtete Umstände nahe gebracht, − sie vernehmen des HErrn Ruf. Da ist es dann oft nicht, als hätten sie ein neueröffnetes Reich zu schauen und zu erfahren; es ist, als fielen ihnen die Schuppen von den Augen, sie scheinen längst Ersehntes und Bekanntes warzunehmen, wie Erinnerung überwallt sies − und es wird nun ihr Hören, ihr Reden so schnell, so plötzlich anders, daß es scheint, als wäre in der Welt nichts Leichteres zu lernen, als − Hören und Reden des rechten Wortes. Das ist − nicht bei vielen schnell Erweckten, aber bei manchen − des HErrn Art und Seine, nur Seine Hand. Einen Blinden erfreute ER einst nicht mit plötzlichem und vollkommenem Schauen, er sah erst Menschen wie Bäume und drang aus Klarheit in Klarheit. Dem Taubstummen gab Er alles schnell und auf Ein Mal. Diese Art prägt seine Vollkommenheit im Helfen und Seine vollkommene Hilfe schnell und plötzlich aus, jene nach und nach. Jene scheint beim ersten Augenblick, diese bei näherer Betrachtung vollkommener; beide sind es! Was und wie es geschehe, es bleibt Seinen Anbetern immer nur Ein Eindruck.


|  5. Der nämlich: ER hat Alles wohl gemacht! Die Tauben macht Er hörend und die Sprachlosen redend!

 Dies Lob wird Ihm bleiben, wenn die Sonne und der Mond nicht mehr sind! Das wird nicht Lügen gestraft werden vom Feuerschein der untergehenden Welt! Es ist ein Geschrei in der Welt, daß ER alles wohl macht! Immer zahlreicher wird die lobsingende Schaar! Ihr Lobgesang geht Tag und Nacht fort von der Erde bis zum Himmel! Alle Land, alle Land sind Seiner Ehren voll! Das Kind am Hochaltare, am Firmungstag, die Braut und der Bräutigam unter der segnenden Hand, der Priester mit dem Sacramente, die Mutter, wenn sie ihren Neugeborenen herzt, der Mann am Ziele seines Berufs, die Christenseele, wenn sie von dem Leibe auffährt, die Seele, die ein gnädiges Urtheil fand, − sie haben von Seiner, von unsers HErrn Reichsverwaltung nur Einen Eindruck: Er hat Alles wohl gemacht! − Dies Geschrei wird einst so laut werden, daß die Hölle nicht wird widerstehen können, daß die Teufel miteinzustimmen genöthigt sein werden! Von der Tiefe bis in die höchste Höhe, von Ewigkeit zu Ewigkeit ist und wird sein Eine Stimme: Er hat alles wohlgemacht! Hörst du, Er hat alles wohlgemacht!

 Einst wollte ER in den Tagen Seiner Niedrigkeit das Geschrei beschwichtigen: denn Er wandelte in Seiner armen Gestalt, Er schrie und zankte nicht, Er fuhr sanft einher, man sollte Sein noch unvollendetes Werk nicht stören, der Hindernisse nicht allzuviele aufthürmen! Jetzt ists anders! Jetzt will ER den Lobgesang, jetzt läßt ER sich hernieder, jetzt ist es Seine Demuth, ihn anzunehmen! Vom Cherub Seines Thrones, vom Aeltesten auf dem Stuhle bis zum Bienlein kurzer Stunden ist Ein Schall: Er hat alles wohlgemacht!

 Wach auf, der du schläfst! Wach auf, hörst du nicht den Bräutigam und die Braut? Warum träumt man? Hört man nicht, daß die Braut-Nacht kommt, weil man so sehr schweigt! Hephatha! Thue dich auf, o finsteres Ohr des Herzens. Alles ist vollendet − Er hat Alles wohlgemacht! Der Feind ist bezwungen, das Leben errungen − Es gibt keinen Tod mehr! Gott ist uns versöhnt! Das Paradies Gottes ist wieder gefunden und offen für alle Kommenden! Nichts hindert! Er hat alles wohlgemacht! Ich grüße dich mit diesem Gruße. Antworte mir ebenmäßig.

 Antwortest du nicht? Macht auf dich deine Lebensführung und das Anschauen der Führung Anderer den Eindruck nicht? Siehst, greifst dus nicht, wie wir, daß ER alles wohlgemacht hat? − So bringen wir dich betend zum HErrn, der die Tauben hörend, die Stummen redend macht.

 Ja, HErr, Du siehst die Tauben und die Stummen! Rühre Ohr und Zunge! Segne durch die Gnadenmittel. Anfänger, beginne! Vollender, vollende! Laß hören Deine Stimm und ihre Seel weck auf und führ sie schön verklärt zum auserwählten Haus! JEsu, JEsu! Amen.




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