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Evangelien-Postille (Wilhelm Löhe)/Trinitatis 10

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Evangelien-Postille (Wilhelm Löhe)
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Am zehnten Sonntage nach Trinitatis.

Evang. Luc. 19, 41–44.
41. Und als Er nahe hinzu kam, sahe Er die Stadt an und weinte über sie. 42. Und sprach: wenn du es wüßtest, so würdest du auch bedenken zu dieser deiner Zeit, was zu deinem Frieden dienet. Aber nun ist es vor deinen Augen verborgen. 43. Denn es wird die Zeit über dich kommen, daß deine Feinde werden um dich und deine Kinder mit dir eine Wagenburg schlagen, dich belagern, und an allen Orten ängsten; 44. Und werden dich schleifen und keinen Stein auf dem andern laßen; darum, daß du nicht erkennet hast die Zeit, darinnen du heimgesucht bist etc.[1]

 DIeses Evangelium gibt uns folgende von uns näher zu erwägende Hauptgedanken:

Diese Hauptgedanken des heutigen Evangeliums näher anzusehen und genauer zu erwägen, verleihe uns der barmherzige Gott Seine Gnade! Amen.

 1. Das Evangelium versetzt uns gen Jerusalem und zwar in jenes Thal, wo der Bach Kidron fließt. Da haben wir gegen Abend im Lichte der sich neigenden Sonne die heilige Stadt mit ihrem Tempel, ihrer Herrlichkeit. Gegen Morgen erhebt sich der Oelberg, schön bewachsen mit Oel- und Feigenbäumen. Aus dem Thore kommen Schaaren der Kinder Israel herausgezogen. Vom Berge her rauscht, wie große Waßer, der Hosiannagesang, der aus dem Munde der Jünger und Begleiter JEsu aufsteigt. Näher und näher kommt Er der Stadt. Es ergreift der Geist des HErrn immer mehrere von dem entgegenziehenden Volke. Sie sehen nicht an den Armen, der auf dem Füllen der Eselin friedlich einherreitet, sondern den Gerechten sehen sie, den Seine Feinde keiner Sünde zeihen können, − den Helfer erblicken sie im Ruhm zahlloser Thaten, die ER zum Frommen Seines Volkes vollbracht hat, − sie schauen Ihn in Erinnerung Seiner wunderbaren Reden, die ganz anders, als die Worte der Pharisäer und Schriftgelehrten, das Volk bewältigt hatten. Seine geistige Herrlichkeit erblicken sie. Der Sohn David, der König, welcher kommt im| Namen des HErrn, ist ihnen offenbart. Der HErr hatte sie heimgesucht mit Gnaden. Ihr Hosianna, ihre Freude, das Licht JEsu, der von morgenwärts einherreitet, was ists anders, als eine Heimsuchung, der Gnaden?

 Aber nicht so kurz ist die Zeit der Heimsuchung, daß sie mit dem Hosianna, mit Freude und Jubel der Menge begönne und schlöße. Bereits drei Jahre hat ER rastlos in Israel gewirkt mit mächtigen Worten und großen Thaten: Jahre der Heimsuchung sind am Palmensonntage bereits zurückgelegt. Und eine Woche der Heimsuchung beginnt, Einer Heimsuchung, deren Gnadenfülle nur das Herz JEsu Christi faßen kann, die sonst von keiner Kreatur in ihren Tiefen und Höhen und Weiten erkannt wird. Denn ER kommt, die Missethat Seines Volkes und der ganzen Welt zu versöhnen und mit Einem Opfer in Ewigkeit alle zu vollenden, die geheiligt werden sollen. Er kommt, der Gerechtigkeit durch Sein barmherziges, unschuldiges Leiden genug zu thun, und mit dem unnennbaren Wehe Seines Todes das Urtheil des jüngsten Gerichtes verstummen zu machen und in lauter Vergebung zu verwandeln. ER kommt, um sich ins Grab zu betten, die Macht und den Schauer der Verwesung zu vernichten, der Hölle Burg und Pforten zu zerbrechen und durch Seine Auferstehung Leben und unsterbliches Wesen ans Licht zu bringen. ER kommt, sich zu erniedrigen, auf daß ER, erhöhet zum Throne Seiner Ehren, ein Heiland aller Menschen würde und ihnen durch die Kraft Seines Geistes, Seines Wortes, Seiner Sacramente Lust und Kraft mittheilte, aufzufahren zu Seinen Höhen, zu schauen und zu theilen die Herrlichkeit und Seligkeit des Menschensohnes. − Siehe die Zeit der Heimsuchung in Gnaden, die am Palmensonntag bereits zugegen war, die auch jetzt noch nicht abgelaufen ist, sondern als die letzte, lange Gnadenstunde Gottes, wie zur Zeit Josuas die Sonne des Siegs, am Himmel verweilt, auf daß die Geduld des HErrn unsre Seligkeit werde. Noch wirkt JEsus Christus, noch sammelt ER, noch sind Seine Pforten nicht geschloßen, noch hat ER dem Vater das Reich nicht übergeben, noch tönet Seiner Knechte Ruf: „Kommet, es ist Alles bereit!“ Noch nöthigt man mit Bitten an Christi Statt: „Laßet euch versöhnen mit Gott!“ Noch ist die Braut des HErrn nicht völlig bereitet, Isaaks Elieser, JEsu Christi Diener, harren noch am Altare mit Himmelsbrot und Himmelstrank, dem, der größer als Ahasverus ist, seine Esther zu verklären. − Mit Einem Worte: wie in Jerusalem am Palmensonntag, so waltet jetzt noch über uns die Gnadenstunde!


 2. Eine lange Gnadenstunde, aber unterbrochen für diejenigen, denen es also gebührte, durch ernste Stunden der Heimsuchung mit Gericht und Gerechtigkeit. Zur Zeit, da Christus in unsrem Evangelium redete, war die schreckliche Stunde des Gerichts über Israel noch nicht gekommen, sie war erst noch zukünftig. Wir aber kennen sie, als vergangen, − so weit die Länder ausgebreitet sind über die Waßer, redet man vom Falle Jerusalems und die Thränen und Klagelieder Jeremiä, über die erste Zerstörung hingeweint, sind, wie eine Quelle, bei der zweiten wieder hervorgekommen, um völlig − nicht mehr zu versiegen. Oder weint nicht Israel noch jetzt über die gefallene Stadt − und weint nicht die heilige Kirche an jedem zehnten Sonntag nach Trinitatis mit Israel? Kommen wir nicht überall in den Nachmittagsstunden dieses Sonntags zusammen, um die Geschichte vom Fall Jerusalems, wie eine schreckliche, tatsächliche Weißagung auf das Schicksal und Ende der widerspänstigen Menschheit zu vernehmen, und Jerusalem zu klagen wie einen Erstling unter vielen Brüdern, wie den Erstling des Zornes Gottes?!

 Ja sie ist gefallen. Es ist geschehen, was der HErr geweißagt hat. Im Jahre 70 ist es geschehen. Die Römer haben eine „Wagenburg um Jerusalem und ihre Kinder geschlagen, sie belagert und an allen Orten geängstet.“ Sie haben einen Theil der Stadt nach dem andern erobert und die Juden über die Leichen ihrer Brüder hin in immer engere Räume eingeschloßen. Sie haben endlich am 10. August den Tempel angezündet, der unter dem Wehgeschrei der Juden, unter dem Siegsgeschrei der Römer in Flammen aufgieng. Sie haben unter den Juden gewürgt, bis sie müde wurden. Sie haben alles so der Erde gleich gemacht, „daß man hätte glauben sollen, es habe da nie eine bewohnte Stadt gestanden.“ Nur drei Thürme blieben auf Befehl des Feldherrn Titus stehen, um „als Denkmale den Nachkommen zu berichten, wie fest die Stadt war,“ die geschleift und vom Erdboden weggetilgt| war ohne Spuren, wie man einen Schwamm vom Baume wegnimmt! 1,100,000 Juden waren während der Belagerung umgekommen, 97,000 wurden gefangen genommen und zerstreut in die Lande. Tausende fanden auch nach dem Schluß der blutigen Belagerungsarbeit ihren Tod auf mancherlei grausame Weise. Denn der HErr hatte gesagt: „Sie werden fallen durch des Schwerts Schärfe und gefangen geführt unter alle Völker, und Jerusalem wird zertreten werden von den Heiden, bis daß der Heiden Zeit erfüllet wird.“ (Luc. 21, 24.) − So gieng des HErrn Weißagung in eine Erfüllung, welche alle Furcht und Besorgnis überstieg. „Wie hat der HErr die Tochter Zion mit Seinem Zorne überschüttet! Er hat die Herrlichkeit Israel vom Himmel auf die Erde geworfen, Er hat nicht gedacht an Seinen Fußschämel am Tage Seines Zorns.“ (Klagl. 2, 1.) „Der HErr hat Seinen Altar verworfen und Sein Heiligtum verbannet, Er hat die Mauern ihrer Paläste in des Feindes Hände gegeben, daß sie im Hause des HErrn geschrieen haben, wie an einem Feiertage.“ (V. 7.) „Der HErr hat gedacht, zu verderben die Mauern der Tochter Zion, Er hat die Richtschnur darüber gezogen, und Seine Hand nicht abgewendet, bis Er sie vertilgete.“ (V. 8.) „Der HErr hat gethan, was Er vor hatte. Er hat Sein Wort erfüllt, das Er längst zuvor geboten hat.“ (5. Mos. 28, 15. 20.) „Er hat ohne Barmherzigkeit zerstöret, Er hat den Feind über dir erfreuet und deiner Widersacher Horn erhöhet!“ (V. 17.)

 So hat der HErr an Seinem Hause die Heimsuchung Seines Gerichtes begonnen: was Er zukünftig über die Stadt Seines Namens verkündigt hatte, ist geschehen. Was aber geschehen ist, ist uns zur Warnung geschehen. Die Angst Jerusalems deutet auf die Angst der letzten Tage. Denn wenn diese kommen werden, so „wird den Leuten auf Erden bang sein und werden zagen, und das Meer und die Waßerwogen werden brausen, und die Menschen werden verschmachten vor Furcht und Warten der Dinge, die kommen sollen auf Erden. Denn auch der Himmel Kräfte sich bewegen werden.“ (Lucä 21, 25. 26.) − Die Heere der Römer vor Jerusalem deuten auf jene Heerschaaren, in deren Mitte der Schreckliche erscheinen wird, von welchem der Feldherr Titus nur ein geringes Vorbild war. Denn „Siehe, der HErr kommt mit viel tausend Heiligen, Gericht zu halten über alle und zu strafen alle ihre Gottlosen um alle Werke ihres gottlosen Wandels, damit sie gottlos gewesen sind, und um alle das Harte, das die gottlosen Sünder wider Ihn geredt haben.“ (Juda 14. 15.) Ja, man wird „alsdann sehen des Menschen Sohn kommen in den Wolken, mit großer Kraft und Herrlichkeit.“ (Luc. 21, 27.) − Und die Flamme Jerusalems erinnert an jenen Brand, von welchem St. Petrus schreibt: „Der Himmel und die Erden werden durch Sein Wort gespart, daß sie zum Feuer behalten werden am Tage des Gerichts und Verdammnis der gottlosen Menschen. − Es wird aber des HErrn Tag kommen als ein Dieb in der Nacht, in welchem die Himmel zergehen werden mit großem Krachen, die Elemente aber werden vor Hitze zerschmelzen, und die Erde und die Werke, die drinnen sind, werden verbrennen.“ (1. Petr. 3, 7. 10.) Also wird vor dem Angesichte Deßen, der da kommt, „Himmel und Erde fliehen und wird ihnen keine Stätte mehr erfunden werden.“ (Offb. 20, 11.)

 Noch ist diese Heimsuchung Gottes in Gericht und Gerechtigkeit über die ganze Erde nicht gekommen. Aber sie kommt! So gewis nach langer Zeit der Weißagung die Sündfluth über die Erde, und Feuer und Schwert über Jerusalem kam: so gewis wird kommen zur Zeit, da mans nicht denket, der HErr, der Wahrhaftige, und mit Ihm Sein Lohn! Ein Tag ist vor dem HErrn, wie tausend Jahre, und tausend Jahre, wie Ein Tag (2. Petr. 3, 8.), − aber Er, der da spricht, so geschiehts, Er spricht: „Siehe, Ich komme bald!“ (Offenb. 22, 20.)


 3. So lehrt also die Schrift eine doppelte Heimsuchung Gottes. Da ist die Heimsuchung der Gnaden. Künftig ist die Heimsuchung des gerechten Gerichts Gottes. Jene wird verkündigt und bewährt sich mit ihrem himmlischen Reichtum und ergießt sich mit Freuden, wie ein Strom. Diese wird verkündigt, und Gott Lob! Gott Lob! noch ist sie nicht erschienen. Es kommt nun alles darauf an, wie jene aufgenommen wird, und wie man sich zu dieser bereitet.

 Wie die Gnadenheimsuchung aufgenommen wird, das zeigt das Beispiel Jerusalems zur Zeit Seiner gnädigen Heimsuchung. Wenn man freilich nach dem| Jubel urtheilen dürfte, mit welchem der HErr in Jerusalem einzog; so würde man freilich sagen dürfen: Jerusalem hat seine Gnadenzeit benützt. Aber sieh einmal auf den HErrn, welcher unter der jubelnden Menge einherreitet. Ueber den Rauchwolken des Lobes und der Begeisterung gewahrest du ein ernsthaftes Angesicht des HErrn. Er hat Selbst gelehrt, daß man mit den Fröhlichen sich freuen soll; aber so groß die Freude um Ihn her, so empfänglich Sein Herz für die Freuden Seiner Brüder ist: dies Mal freut Er sich nicht, mitten unter der fröhlichen Schaar weint Er bittre Zähren, mitten unter ihren Lobgesängen ertönt Sein trauriges Klagen. Sein untrügliches Auge erkennt die Aufnahme nicht für recht. − Ferner! Uebersieh einmal mit prüfendem Auge die Menge, welche den HErrn zu Seinem Tempel geleitet! Streuen sie alle Palmen und Kleider auf Seinen Weg? Singen sie alle Hosianna, jubeln sie alle, sind sie alle begeistert? Prüfe nur genau. Siehst du nicht jene Wohlgekleideten mit den ernsten, ehrbaren Gesichtern, die hie und da an der Straße lautlos stehen und mit Kopfschütteln und sichtbarem Aerger den lobsingenden Zug mit seinem armen König vorüberziehen laßen? Siehst du nicht in des Tempels Vorhöfen die Pharisäer und Schriftgelehrten, welche vom Hosianna der Kinder die heiligen Mauern des Tempels entheiligt glauben? Wie sie zur Ruhe winken! Wie sie als kluge Leute zu dem HErrn Selber treten und von Ihm, der über die Kinder Macht hat, Beschwichtigung des Geschreis verlangen! Die nehmen Ihn nicht auf, die erkennen Sein Kommen für keine Heimsuchung der Gnade! An denen siehst du, wie wahr des HErrn Wort ist: „Sie werden keinen Stein auf dem andern laßen, darum, daß du nicht erkannt hast die Zeit, darinnen du heimgesucht bist.“ Luc. 19, 44. − Und die schreiende Menge selber, erkennt wohl sie die gnädige Heimsuchung Gottes? Fern sei es, sie so ins Allgemeine hin der Heuchelei zu zeihen. Ihr Jubel, ihr Hosianna ist keine Heuchelei! Der Mensch hat seine Stunden, wo er dem Geiste des HErrn sich williger hingibt, als sonst. Solche Stunden werden nicht vom nachkommenden Alltagsleben der Sünden Lügen gestraft, sondern sie sind selbst ein Zeugnis wider dieses. So wenig Bileam ein Heuchler war, da er, vom Geiste des HErrn ergriffen, über Israels Hütten dahin rief: „Meine Seele müße sterben des Todes der Gerechten und mein Ende werde wie dieser Ende!“ (4. Mos. 23, 10.), eben so wenig ist die Freude und das Hosianna des Palmensonntags eine Heuchelei. Im Gegentheil, es hat sie heimgesucht, was Christus den Seinen bringt, Licht und Leben; aber sie tragens in irdischen Gefäßen, in denen der geistige Schatz nicht bleibt, wenn ihn die Treue nicht hält. Sie verlieren wieder, wie es zu geschehen pflegt, aus dem Auge, was sie geschaut, aus dem Herzen, was sie gefühlt haben, eben weil sie nicht erkannten die Zeit, wo sie heimgesucht waren. Wie sich manchmal ein Vogel auf deinen Baum setzt, wunderbare Töne dir zu Ohren bringt, schnell wieder entfliegt, und, so sehr dein Herz bewegt war, doch bald vergeßen wird; so ist alle Rührung des Geistes, wenn nicht ihre Ursache erkannt und im Glauben festgehalten wird. Die von Freuden leben, nach Freuden schmachten, verlieren sie immer wieder: aber die gerne bei dem HErrn verweilen, Sein Wort gerne hören und lernen, haben daran eine nicht versiegende Quelle, die auch in Traurigkeit heimlich die Seele stärkt und erquickt. Das Volk erkannte den HErrn, Seines Kommens, Seiner Werke Sinn nicht; − sie freuten sich eine Weile in Seinem Lichte, wie sie sich auch im Lichte Johannis gefreut hatten, − aber sie erkannten in Ihm nicht den HErrn, den ihre Väter begehrt, und den Engel des Bundes (Mal. 3, 1.), der einen ewigen Frieden bringen sollte. Sie sahen in Ihm nicht, was Er war, sie erkannten Ihn nicht. Daher das „Kreuzige!“ nach dem Hosianna! Daher der leichte, schnelle Wechsel zwischen der Begeisterung des Himmels am Palmensonntag und der Begeisterung der Hölle am Charfreitag. Daher die Thränen JEsu am Palmensonntag und Seine Klage über Jerusalem: „Du hast nicht erkannt die Zeit, darinnen Du heimgesucht bist!“
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 Ach, daß wir die Heimsuchung des HErrn beßer erkennen möchten! − Drei sind, die da zeugen auf Erden, der Geist, das Waßer und das Blut. Der Geist zeugt durchs Predigtamt, der Geist setzt Hirten und Lehrer und lehrt sie vermahnen und bitten an Christi Statt. Der Geist Christi, Christus und der Vater begehren durchs Wort den Einlaß in unser Herz. Erkennet doch Gottes Heimsuchung, wenn Sein Wort aus dem Munde der Prediger an eure Herzen dringt! Ihn ehrt, Ihn verachtet ihr im Worte.| „Dieser ist’s, der da kommt mit Waßer und Blut, nicht mit Waßer allein, sondern mit Waßer und Blut,“ zeugt Johannes. Wo ist denn das Waßer, mit welchem der HErr kommt? Es ist das gnadenreiche Waßer des Lebens, das Bad der neuen Geburt, das Waßer der Taufe, mit ihm kommt der HErr! Erkennet in unscheinbarer Begleitung den HErrn der Herrlichkeit und Gnade! − Und wo ist denn das Blut, mit welchem der HErr kommt? Siehe, es ist das Blut des Abendmahles, das du mit dem Weine empfängst! Wie mit dem Weine das Blut, so kommt mit dem Blute der HErr! − Welch eine Heimsuchung! Lernet sie und in ihr den HErrn erkennen, damit nicht zu euch gesagt sei von der Zeit euers Lebens: „Du hast nicht erkannt die Zeit, darinnen du heimgesucht bist!“

 4. Ach, aber es ist wenig Erkenntnis der gnädigen Heimsuchung des HErrn! Wort und Sacrament, der Dienst der heiligen Kirche, werden nicht als eine Heimsuchung des HErrn erkannt, werden andern Erdendingen gleich geachtet. So leuchtet dann die Sonne der Gnaden, und in selbsterwählter Finsternis wandelt der größere Theil der Menschheit, − mich schaudert, zu sagen: der Christenheit − seinen Lebenstag dahin. Darum offenbart uns der HErr die Zukunft des Gerichts, Seine Heimsuchung in Gerechtigkeit. Wirkt auf uns die Heimsuchung der Gnaden nicht, wie ERs wünscht; so soll uns der Anblick Seiner feurigen Tage des Gerichts erschrecken. Erwärmt uns der Sonnenschein der Gnaden nicht, so soll Gehennas unverlöschliche Gluth und Flamme uns bewegen, den Fuß auf dem Pfade der Hölle rückwärts zu setzen. Jerusalems Feuersäule soll uns an die Höllengluth erinnern! − Aber ach! es ist wenig Hoffnung, daß den der Hölle Gluth erschrecke, den die Sonne der Gnaden nicht erwärmt hat. „Wenn du es wüßtest,“ spricht der HErr über Jerusalem, − und verkündigt ihrs dann, daß ein schreckliches Schicksal ihrer wartet. Sie konnte es wißen, sie hörte es ja, und nicht bloß ein Mal. Dennoch spricht der HErr: „Aber nun ist’s vor deinen Augen verborgen.“ − Deutlicher, als Jerusalem der Untergang, ist uns das Ende der Welt und das Gericht, ist uns der Tod und die Entscheidung unsers ewigen Looßes geoffenbart. Erst heute ist uns darüber manches kund gethan mit Gottes eigenen Worten. Und doch, und dennoch, obwohl wir unserm und der Welt Ende stündlich näher treten, wird die Kenntnis nicht zur kräftigen Erkenntnis, und die Offenbarung, die uns erleuchten will, verhindert nicht, daß auch von uns gesagt sei: „Nun ist es vor deinen Augen verborgen.“

 Ach wie wahr ist dies „verborgen!“ Wir lesen in der Geschichte der Zerstörung Jerusalems, daß die Juden nicht bloß die Weißagung Christi und Stephani (Ap.-Gesch. 6, 13. 14. im Zusammenhang mit Cap. 7.), sondern auch spätere Weißagungen und Zeichen verachteten. Je drohender sich das Wetter über Juda und Jerusalem zusammenzog, desto weniger sahen sie es, desto sicherer wurden sie, desto mehr lullten sie die armen, unruhigen Herzen mit dem Wahne göttlicher Gnade ein. Die vielen Tausende von Kreuzen, an welchen in den Thälern von Jerusalem ihre Brüder sterben mußten, erinnerten die Belagerten nicht an Christi Kreuz, nicht an die kommenden Strafen für den Mord des Sohnes Gottes. Der Gräuel der Verwüstung an heiliger Stätte, auf welchen nicht allein der HErr, sondern auch Daniel 9, 27. aufmerksam gemacht hatte, war für sie umsonst verkündigt nicht allein, sondern auch umsonst erfüllt. Da bereits der Tempel und seine Umgebungen brannten, glaubten sie noch einem Lügenpropheten, der ihnen Errettung verhieß, wenn sie eine der Tempelhallen besteigen würden und 6000 leichtgläubige Weiber und Kinder verharrten und verbrannten auf der Halle. − So gar verborgen blieb den Augen dieses Volkes die Heimsuchung des Zornes Gottes. So gar, so schrecklich wahr ist das Wort des HErrn gewesen: „Nun ist es vor deinen Augen verborgen.“

 Und läßt sich denn dieselbe schreckliche Wahrheit nicht auch unter uns nachweisen? Von dem Ende nicht zu sprechen, welches der Welt gedroht ist, wollen wir nur einmal auf das Ende des Lebens sehen. Unsre Tage fallen ab vom Baume unsres Lebens, wie welke Blätter, unsre Kräfte sinken, unser Auge wird matt, das Haupt wird grau, das Alter, der sichre Vorbote des Todes, naht herzu. Und doch gibt es Greise, welche am Ende ihrer Tage noch weitaussehende Pläne machen, die mit fast erblindeten Augen noch in weite Fernen zeitlicher Hoffnungen schauen, denn es ist in ihren Augen der Tod, der sie bereits an der Hand führt, der strenge Sitz des ewigen| Richters, vor dem sie bereits stehen, verborgen! − Krankheiten ergreifen uns, untrügliche Zeichen der untergrabenen, bald gar hinstürzenden Lebenskraft warnen uns, wir können das Zeitliche nicht mehr genießen, gewaltsam werden wir aus dem Treiben unsrer Tage herausgerißen und der Allmächtige drückt uns auf das Schmerzenslager, das Siechbette mit der Weisung nieder: „Bis hieher und nicht weiter!“ Aber wir verstehen seine Strafe nicht. Der Tod zittert manchem schon in den Adern, schon erkaltet der Leib, schon röchelt die Brust, schon erblindet und bricht das Auge; und der Sterbende träumt noch in Hoffnung von einer Crisis, die zur Genesung führt, und mancher letzte Hauch ist in Hoffnung irdischen Glücks entschwunden. So verborgen ist dem Menschen der Tod, − so verborgen seit Jahrtausenden die seit Jahrtausenden untrügliche Botschaft: „Mensch, du mußt sterben!“ Und wir wundern uns, daß die Botschaft vom jüngsten Gericht, von der letzten, großen Heimsuchung des Zornes Gottes oft genannt und dennoch so unbekannt ist. Schon Moses lehrt vom Tode: „Das macht dein Zorn, daß wir so vergehen, und dein Grimm, daß wir so plötzlich dahin müßen“ (Ps. 90, 7.) − und spricht mit Wahrheit: „Wer glaubets aber, daß du so sehr zürnest? Und wer fürchtet sich vor solchem, deinem Grimm?“ (V. 11.) Was täglich − heute mir und morgen dir − geschieht, findet keinen Glauben, bleibt ein allgemeines, öffentliches Geheimnis; und es sollte uns wundern, wenn die Verkündigung vom Ende der Tage, welche nur Ein Mal in Erfüllung gehen kann und noch nicht in Erfüllung gehen konnte, − ein verborgenes Räthsel und vor der Welt ein Mährchen ist, wenn man heut zu Tage noch überall in Kain’s Pallästen und Hütten unüberwunden glaubt behaupten zu dürfen: „Nachdem die Väter entschlafen sind, bleibt es alles, wie es vom Anfang der Creatur gewesen ist“? (2. Petr. 3, 4.)

 Nicht einmal verwundern, nicht einmal verwundern dürfen wir uns über das erschreckliche Loos der Menschheit, mit sehenden Augen nichts zu sehen, mit hörenden Ohren nichts zu hören, mit fühlenden Herzen nichts zu fühlen − von dem, was ewig, ewig unglückselig macht!? Gewöhnen müßen wir uns, o Jammer, klare Offenbarungen Gottes, nicht Träume der Menschen, verborgene, apocryphische Lehren nennen zu hören!? Die Heimsuchung gegenwärtiger Gnaden wird sammt der Weißagung kommender Gerichte für zu schwach erfunden, um den Menschen zur Erkenntnis und zum Bedenken deßen zu bringen, was zu seinem Frieden dient!? In Finsternis und Nacht zieht die Menschheit über die Erde, durch die Zeit zu einer noch schrecklicheren Nacht und Finsternis der ewigen Ewigkeit!?


 5. Das wären bittere Fragen der Verzweiflung! Aber sie finden ihre Lösung, − eine Lösung, die das Herz tröstet. Nein, in Gottes Namen nein! Weder die Heimsuchung der Gnaden, noch die kommende Heimsuchung des Gerichts wird wirkungslos gepredigt. Es gibt Menschen, welche die Zeit erkennen, darin sie heimgesucht sind; es gibt Menschen, welche durch Betrachtung der zukünftigen Gerichte Gottes zu desto größerem Fleiße erweckt werden und bedenken, was zu ihrem Frieden dient. Es gab solche Menschen, es gibt sie, es wird sie geben, − nicht über alle weint hier der ewige Gottessohn, nicht alle wird ER dort verdammen!

 Willst du Menschen wißen, welche die Gnadenzeit erkannten, so weise ich dich auf diejenigen, welche am Palmensonntage zunächst bei dem König JEsus giengen, − so nenn ich dir die Jünger, die Eilfe, − so nenn ich dir Lazarum und seine Schwestern, − Nikodemus und Joseph von Arimathia. Und wie manche kann ich dir nicht nennen, wie manche wird dir erst der Himmel offenbaren! Der HErr hat allezeit Seine heilige Kirche auf Erden gehabt, die Ihn nicht allein in Hoffnung zukünftiger Herrlichkeit, sondern auch voll Dankes für bereits empfangene und erkannte Gnadengüter pries. ER hatte sie allezeit und hat sie noch!

 Und willst du Menschen wißen, denen offenbarte Gerichte der Zukunft nicht mehr Geheimnisse waren, die bedachten, was zu ihrem Frieden diente in der bösen Zeit, die da kommen sollte; so nenne ich dir die Christen, welche zur Zeit der Zerstörung in Jerusalem wohnten. Sie erkannten die Zeit der Gnaden, darum entflohen sie dem Gerichte. Sie wurden vom Geiste des HErrn erleuchtet, zu erkennen den Greuel der Vernichtung und zu thun nach den Worten des HErrn, der da spricht: „Wenn ihr sehen werdet den Gräuel der Verwüstung, davon gesagt ist durch den Propheten Daniel, daß er stehe an der heiligen Stätte,| alsdann fliehe auf die Berge, wer im jüdischen Lande ist.“ (Matth. 24, 15. 16.) Sie flohen von Jerusalem zu guter Zeit und zogen gen Pella, die jenseits des Jordans lag, und ihrer keiner wurde deshalb in das gerechte Gerichte Gottes hineingezogen, − doch Jerusalems Zerstörung ist nur ein zeitliches Gericht. Könnte ich dir aber des Himmels Thore öffnen; so würdest du im Glanze der Seligkeit viele große Schaaren von Menschenkindern sehen, welche nicht mehr gerichtet werden, sondern für alle Ewigkeit der Angst und dem Gerichte entnommen sind. Und könntest du von denen, die noch leben, nach Gottes Sinn urtheilen: so würdest du auch unter ihnen Auserwählte in nicht geringer Zahl erkennen, die da Glauben halten, den Lauf vollenden und die Krone erlangen. Denn so gering gegen die Menge derer, welche durch ihre Schuld verloren gehen, die Schaar der Seligen ist; so ist sie doch groß und zahlreich genug zum vollstimmigen Chore des Lammes Gottes.

 Es ist also nicht nothwendig, daß man die Zeit der gnädigen Heimsuchung Gottes verkenne und daß einem die Zukunft der göttlichen Gerichte verborgen sei. Es ist also auch nicht nothwendig, daß man, was zum Frieden diene, unbedacht und unerwogen laße. Man kann zur Erkenntnis der Gnade und zur Furcht vor dem Gerichte, man kann zum Verständnis und zum Gehorsam des göttlichen Wortes und seiner Anweisungen kommen und also dem zukünftigen Gerichte entfliehen. Es liegt alles daran, daß uns, wie den ersten Jüngern, wie den Christen, die nach Pella zogen, das Auge von Gott geöffnet werde über Gegenwart und Zukunft. Aber von Gott muß es geöffnet werden. Ja noch mehr, von Gott muß die Kunde kommen, welche der natürliche Mensch nicht faßt, daß wir blind sind von Geburt für alle Wahrheit, die zum ewigen Leben führt. Wer sich nicht blind fühlt, wird um’s Licht nicht sorgen. Wer aber seine Blindheit fühlt, hat bereits den ersten Strahl des Lichtes empfangen, der nach weiterem, nach vollkommenem Lichte verlangend macht. Das ist das Erste, was Gott geben muß. Das Zweite erst ist Erkenntnis der Gegenwart, der Gnadenzeit; denn die Gegenwart ist Gnadenzeit. Die Gnadenzeit aber erkennen heißt nichts anderes, als Christum erkennen. Denn Gnade und Wahrheit ist uns in Christo geworden, und ohne Ihn gibt’s keine Gnadenzeit. Wer Ihn erkennt, der hört auf Ihn, empfängt aus Seinem Munde, wie Maria, Lazari Schwester, das Eine, was noth ist, die neue Creatur mit neuen Sinnen. Wer das hat, hat das Eine, − und wers behält, hat alles, auch die Furcht des HErrn, daß er sich mit Zittern freut und seine Seligkeit schafft mit Furcht und Zittern. Das dient ihm dann zum Frieden für den Tag des allgemeinen Aufruhrs, wenn der HErr zum Gerichte kommen wird; denn es wird ihn nicht faul noch träg sein laßen im Werk des HErrn, er wird ein Knecht werden, welchen der HErr, wenn ER kommen wird, also wird finden thun, wie es Ihm gefällt und echten Glaubens Zeugnis gibt.

 Wie aber nimmt uns der HErr die eigene Finsternis, wie überwindet, wie erleuchtet, wie erneuert ER das Herz? Das ist die letzte Frage, die ganz eine ist mit der: wie komm ich dahin, zu bedenken, was zu meinem Frieden am Gerichtstag dient? − Eine einfache Antwort gebe ich dir. Er gibt das Eine, was Noth ist; nimm es nur. Er gibt alles durch Wort und Sacrament, und du empfängst Alles, wenn du das Wort hörst und die Sacramente nach ihrem Zwecke gebrauchst. Willst du von der Blindheit erledigt und ein Kind des Lichtes und Lebens werden; so trage ich keinen Kummer mehr um dich in meinem Herzen. Der das Wollen gibt, gibt auch das Vollbringen. Der vollkommene Gott kann nichts Unvollkommenes beginnen. Willst du der Blindheit los werden, so wirst du auch das Licht nicht fliehen, das deine Augen erleuchten soll. Willst du neues Leben, so wirst du das allmächtige Wort deines Gottes, das dir naht, auch in dir walten laßen. Willst du Gnade hier und Gnade dort, so wirst du den Gnadenmitteln vertrauend nahen. Hier liegt das ganze Geheimnis, du kannst nichts, Gott aber kann alles durch Sein Wort und thut alles durch Sein Wort. Entziehe dich nur dem Worte nicht: selbst wenn dein Wille unrein wäre, wenn deine Unreinigkeit und Halbheit im Wollen des Guten dich hindern sollte: entziehe dich nur dem Worte nicht. Ob heut, ob morgen, − ob langsam oder plötzlich, − ob sanft, ob unsanft, das weiß ich nicht; aber siegen wird es bei dem, der gerne hört und fleißig lernt, − die Gnadenzeit wird noch erkannt werden, ehe sie verrinnt, − die Zukunft wird offenbart werden, ehe sie kommt, und noch ehe es ganz zu spät, noch so lang es| Zeit ist, wird bedacht, wird geglaubt, wird befolgt und gethan werden, was zum Frieden jenes Tages dient. Brüder, Schwestern, hören wollen wir, denn das können wir. Die Ohren Ihm leihen wollen wir, so werden sie geöffnet werden für Seine Stimme, und wir werden die Stimme des guten Hirten erkennen. ER wird uns dann mit Seiner Stimme leiten − vom Abgrund der Finsternis ins Reich der Gnaden und dort der Herrlichkeit!

 Du Hirte Israel’s, höre! der du Joseph hütest, wie der Schafe, erscheine, − der du sitzest über Cherubim! − − Laß leuchten dein Antlitz, so genesen wir! Amen. (Ps. 80, 2.)





  1. Luc. 19, 45–48 pflegen an diesem Sonntage mitgelesen zu werden. Um der Textwahl willen, welche dem Verfaßer dieser Postille fürs Reformationsfest die beste schien, blieben sie heute weg, da sie ohnehin für den heutigen Tag unwesentlicher schienen.
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