Etwas vom Gedächtnis
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Etwas vom Gedächtnis.
Das Gedächtnis ist ein kapriciöses und launisches Wesen, einem jungen Mädchen zu vergleichen,“ – so lautet eine Bemerkung eines unserer ersten, auch in der Naturwissenschaft bedeutenden Philosophen über die Gabe des Erinnerungsvermögens, und es möchte schwer fallen, für diese wunderbarste aller menschlichen Fähigkeiten einen besseren Vergleich zu finden. Wie oft quälen wir nicht stunden-, tagelang vergeblich unseren Kopf, damit er etwas einmal Gewußtes wieder herausgebe, und dann, wenn wir, des eitlen Bemühens satt, davon abstehen, ja gar nicht mehr an den Gegenstand denken, wirft uns das Gedächtnis, wie neckend, das Gesuchte von selbst in den Schoß. Oder eine Melodie summt und klingt uns den ganzen Tag, bis zum Ueberdruß in den Ohren – der Schlaf einer Nacht liegt dazwischen, und am Morgen ist alles Bemühen, uns ihrer noch einmal zu entsinnen, vergeblich. Oder urplötzlich schießt, scheinbar ohne allen Anlaß, in uns die Erinnerung an einen schönen Augenblick der Vergangenheit herauf, dessen wir vielleicht seit Jahren völlig vergaßen; suchen wir aber weiter dem lieblichen Traum nachzuspüren, so schiebt das Gedächtnis mürrisch einen Riegel vor, all unser Pochen ist vergebens, und die Unmöglichkeit, den duftigen Schimmer, der so unvermutet vor uns auftauchte, zum genauen Erinnerungsbilde zu verstärken, kann uns schließlich wohl soweit bringen, daß wir zweifelnd fragen: war denn das, wovon eben eine schwache Erinnerung in uns aufblitzte, überhaupt einmal Wirklichkeit?
Und auch in der Art, wie es seine Gaben auf die einzelnen Menschen verteilt, gleicht das Gedächtnis einem kapriciösen Mädchen. Hier ein Gelehrter, dessen Kopf aus der ganzen Vergangenheit der Völker jedes Datum augenblicklich zur Verfügung hat und doch nicht imstande ist, die einfachsten Dinge des täglichen Lebens auf eine halbe Stunde zu behalten; dort ein einfacher, allem Wissen und Denken fernstehender Kopf, der plötzlich bei zufälligen Gelegenheiten sich von so außerordentlicher Gedächtniskraft zeigt, daß man ihm Hunderte von zusammenhangs- und bedeutungslosen Worten und Ziffern nur einmal vorzusprechen braucht, um sie ohne weiteres in derselben Folge von ihm wiederholt zu hören. Ja, es lassen sich leicht noch größere Extreme aufstellen: hier haben wir einen Knaben von acht bis zwölf Jahren, dem Alter, in welchem nachweislich die Erinnerungskraft noch am ungeschwächtesten ist, und wir sind nicht imstande, seinem Gedächtnis die einfachsten Regeln der lateinischen Sprache einzuprägen; dort wiederum stehen Gelehrte von geradezu unheimlicher Gedächtniskraft, wie der Philologe Lipsius, der sich erbot, angesichts eines dolchbewaffneten Mannes, der ihn beim ersten Versagen niederstoßen sollte, die „Historien“ des Tacitus wörtlich herzusagen, oder wie der Mathematiker Euler und der Philosoph Leibniz, deren Gedächtnis neben ihrem ungeheuren Specialwissen noch Platz für die ganze Aeneis bot.
Was ist nun das Gedächtnis? Welche Vorgänge spielen sich in uns ab, wenn sich längstvergangene Erlebnisse, einmal gehegte Gedanken, gehörte Worte oder Geschichten, plötzlich aufs neue vor unserm Geiste entrollen? Man hat über diese Fragen viel gesonnen und gestritten, ohne bis jetzt zu ganz unanfechtbaren Ergebnissen gekommen zu sein. Wo man sich früher mit einfachen, nichts- und allessagenden Worten wie „Denkkraft“, „Ideenverknüpfung“ aus der Verlegenheit half, da verlangt man heute bestimmte Erklärungen. Seit die Naturwissenschaft es mehr und mehr versucht, scheinbar übersinnliche Vorgänge des Lebens auf mechanische [490] Ursachen zurückzuführen, haben sich ähnliche Anschauungen auch für die Erscheinungen des Denkens und der Erinnerung vielfach geltend gemacht und sind innerhalb gewisser Grenzen sicherlich nicht ohne Berechtigung. Eine andere Frage wäre es freilich, ob im Gehirn, wie es die radikalen Vertreter dieser Lehre wollen, die Grundursache aller geistigen Vorgänge zu suchen ist, oder ob wir dieses nicht vielmehr lediglich als ein Werkzeug ansehen müssen, dessen sich die in ihrem tiefsten Wesen unerkannte, ja vielleicht unerkennbare Lebenskraft zum Denken und Empfinden, wie etwa des Magens und Blutlaufes zur Ernährung bedient. Jedenfalls bietet auch bei der letzteren, gerade von den tiefsten Denkern stets bevorzugten Ansicht die Art und Weise, wie das Gedächtnis ans Gehirn gebunden ist, genug Interesse, daß es sich verlohnt, der Natur auf ihren versteckten Pfaden nachzugehen, soweit es die bisherigen Forschungen gestatten.
Schon im fünfzehnten Jahrhundert finden wir die Ansicht ausgesprochen, daß den geistigen Fähigkeiten im Gehirn je ihr besonderer Sitz zugeteilt sei, und zwar ist es der sogenannte „Hexenhammer“, jenes gelehrte und doch voll des blödesten Aberglaubens steckende Werkzeug der Hexenrichter des Mittelalters, in dem diese Anschauung ausgesprochen wird. Die Vorstellungen haben nach diesem schauerlichen Gesetzbuche ihren Sitz im Mittelgehirn, während das Erinnerungsvermögen im Hintergehirn untergebracht ist: eine Ansicht, die schon um deswillen ziemlich kindlich klingt, weil doch, falls überhaupt solche örtliche Verteilung annehmbar erschiene, das Gedächtnis auch dort, wo die Vorstellungen entstehen, offenbar nicht fehlen dürfte. Man müßte ja sonst annehmen, daß die Vorstellungen, im ursprünglichen Zustande im Mittelgehirn entstehend, alsdann diesen ihren Geburtsort gleich Bohrwürmern durchkreuzen, nur im hinteren Teil des Gehirns als Erinnerungen in verjüngter Gestalt wieder aufzutauchen.
Heute ist man von derlei abenteuerlichen Vermutungen zurückgekommen und weiß, daß überall da, wo im Gehirn Vorstellungen, seien es durch die Sinne vermittelte Anschauungen, seien es Gedankenverbindungen, gebildet werden, auch die Fähigkeit schlummern muß, sie als Erinnerungsbilder zu wiederholen. Sehr geteilt sind hingegen die Ansichten darüber, auf welche Art und Weise diese Wiedererzeugung längstvergangener Gedanken oder Erlebnisse bewerkstelligt wird, und zwar schwanken hier die Meinungen vom treuherzigsten Idealismus, der alles auf übersinnlichem Wege vor sich gehen läßt, bis zum hartnäckigsten Materialismus, der in der ganzen Gedanken- und Gedächtnisarbeit bloße Atom- oder Molekularveränderungen sieht, und nach dem, um einen Ausdruck von Carl Vogt zu gebrauchen, „die Gedanken in demselben Verhältnis zum Gehirn stehen, wie die Galle zu der Leber“. In der Laienwelt findet man besonders jene durch den Sprachgebrauch begünstigte Meinung noch weit verbreitet, daß sich die Gedanken dem Gehirn „einprägen“, d. h. erkennbare Veränderungen in demselben zurücklassen, wie etwa der vom Ton in Bewegung gesetzte Stift auf dem Wachscylinder des Phonographen. Daß weiter die Erinnerungsbilder diesen Gehirneindrücken entsprechen und demgemäß aufs notwendigste hervorgerufen werden müssen, sobald die von früheren Vorgängen zurückgebliebenen Eindrücke durch irgend welche Ursachen aufs neue erregt werden. Die Erregung kann einerseits durch den Willen des Betreffenden geschehen, der dann in seinem „Gedächtnis“ solange herumtastet, bis er auf die richtige Stelle gestoßen ist und die vielleicht vor Jahren eingegrabenen Runen entziffert hat, anderseits aber können auch äußere Anlässe, ein Wort, ein Gesichtseindruck, ja ein Geruch auf die im Gehirn lagernden Eindrücke wirken und damit die schlummernde Erinnerung wecken.
In Wirklichkeit ist auch diese Anschauung von der Wahrheit weit entfernt und wird schon dadurch widerlegt, daß das Gehirn ebensogut wie alle anderen Teile des Körpers einer fortwährenden Abnutzung (Verbrennung) unterliegt und sich ebenso unausgesetzt durch die Zufuhr des Blutes erneut und verjüngt. In diesem fortwährenden Kreislauf des Stoffes giebt es keine bleibende Stätte, welche fähig wäre, mechanische Eindrücke aufzunehmen und jahre-, ja jahrzehntelang für die Wiedererregung aufzubewahren; wenn also wirklich körperliche Vorgänge bei der Thätigkeit des Gedächtnisses eine bedeutende Rolle spielen, so muß diese Thätigkeit so beschaffen sein, daß sie durch das Werden und Vergehen des Stoffes in unserem irdischen Teile nicht gestört wird. Es giebt aber auch noch eine Menge anderer Thatsachen, welche gegen eine so einfache Erklärung des Gedächtnisses sprechen und dasselbe als eine weit verwickeltere und weit schwieriger zu enträtselnde Thätigkeit unseres Geistes kennzeichnen. Verweilen wir einen Augenblick bei einigen hervorragenden Gedächtnisleistungen aus verschiedenen Zeiten und legen wir uns dann die Frage vor, ob es möglich ist, solche Massen von Vorstellungen, wie sie hier auftreten, gleichzeitig zu späterer Benutzung im Gehirn aufzubewahren, während dieses in der That bei den meisten Menschen außer stande ist, mehr als einen einzigen Gedanken zu genau gleicher Zeit zu erfassen. Von dem Athener Themistokles wird erzählt, daß er die Namen von 20 000 Athenern gewußt habe; mehreren Feldherren des Altertums, z. B. dem Cyrus, dem Mithridates, dem Scipio und dem Kaiser Hadrian, wird die Fähigkeit zugeschrieben, jeden einzelnen Mann ihres Heeres bei Namen zu nennen. Von dem römischen Redner Hortensius erzählte man sich, daß er einmal einer den ganzen Tag dauernden öffentlichen Versteigerung beigewohnt habe, um dann, als diese zu Ende war, sämtliche verkauften Gegenstände mitsamt dem Preise und dem Namen dessen, der sie erworben, der Reihe nach aufzusagen: eine That, welche die Zuhörer ebenso in Staunen gesetzt haben mag wie die des Gesandten Kineas, der, einmal im römischen Senat vorgelassen, am folgenden Tage alle 300 Senatoren mit Namen anredete. Sind solche Leistungen schon außerordentlich, so ist beispielsweise die Erinnerungskraft des Italieners Scaliger noch mehr danach angethan, den Glauben an ein mechanisches Haften der einzelnen Eindrücke im Gedächtnis zu bannen; Scaliger nämlich brachte es in 21 Tagen dahin, die ganze, 15 210 Verse und über hunderttausend Worte zählende Ilias auswendig zu lernen, worauf sein Gedächtnis für die ganze Odyssee noch ebenfalls Platz bot. Hunderttausend Eindrücke, dem Gehirn mechanisch eingepflanzt, ohne sich gegenseitig zu stören oder zu verwischen, wer vermöchte an einer derartigen Vermutung im Ernst festzuhalten? Und welche verwickelten Seelenzustände bewahrt man unter Umständen lange Zeit hindurch im Gedächtnis auf, ohne damit das Gehirn sonderlich zu belasten! So erzählt der Schweizer Professor Aug. Forel von einer älteren ihm bekannten Dame, welche die Fähigkeit besitzt, sich eine Menge großer Musikwerke, Opern, Oratorien und dergl. nach der bloßen Erinnerung vorzustellen, ohne den Text, ohne das Anschlagen einer Note, aber mit dem vollen unbeeinträchtigten Genuß aller Schönheiten. Wem das noch nicht genügt, den erinnern wir an die bewundernswürdige Gedächtniskraft des jüngst verstorbenen Hans von Bülow, welcher die ganzen von ihm geleiteten Konzerte aus dem Kopfe zu dirigieren pflegte, ohne selbst bei stundenlang währenden Tondichtungen auch nur einer Note zu bedürfen. Halten wir daneben das ebenfalls von Forel beglaubigte Gegenstück eines berühmten Professors, der in der Zerstreuung einmal zum nicht geringen Vergnügen seiner Hörer in Unterbeinkleidern den Kollegsaal betrat, so kommt uns unbewußt wieder des Philosophen treffendes Wort auf die Lippen: „Das Gedächtnis ist ein kapriciöses und launisches Wesen, einem jungen Mädchen zu vergleichen.“
Kommen wir indessen, nach allen diesen Beispielen und der Verwerfung jener älteren Anschauung vom „Einprägen“ der Vorstellungen, zur wirklichen Erklärung: wie bewahrt das Gehirn seine Erinnerungsbilder auf?
Die verständlichste Antwort würde etwa lauten: „Genau so, wie der Turner sich seine Uebungen einprägt!“ Nicht die Riesenwellen oder Luftsprünge, nicht die Kunstgriffe sind es, die erhalten bleiben, wohl aber die Fähigkeit der Muskeln, sie auszuführen; und ebenso ist es beim Gedächtnis: nicht die Eindrücke, die Vorstellungen etc. sind es, die sich erhalten, sondern die Fähigkeit der Nerven- und Gehirnsubstanz, diese einmal empfangenen Eindrücke gelegentlich wieder zu erneuern.
Das Gehirn ist eben kein Faß, welches man mit Vorstellungen und Kenntnissen anfüllen könnte, sondern ein arbeitendes Organ, welchem, genau wie den Muskeln, diejenigen Thätigkeiten am leichtesten werden, welche es am häufigsten geübt hat. Bei einer Aufspeicherung der Erinnerungsbilder sollte man zudem geradezu meinen, daß diejenigen Bilder, welche man am häufigsten hervorkramt und benutzt, am frühesten abgebraucht und undeutlich werden müßten, aber wie oft zeigt uns nicht die Erfahrung das gerade Gegenteil! Die Erinnerungen aus unserer Kindheit nehmen wir mit bis in die spätesten Lebensjahre, eben weil das Gehirn in den frühesten Jahren am schwächsten beschäftigt ist und die wenigen Eindrücke, welche es in dieser Zeit aufnimmt, unablässig wiederholt. Die täglich von uns geübten Handgriffe, wie das Ankleiden, Waschen, werden bald zur Gewohnheit, d. h. die Erinnerung [491] daran wird so vollkommen, daß sie weder eines äußeren Anstoßes noch eines Willensaktes von unserer Seite, der besonderen Aufmerksamkeit, mehr bedarf. Umgekehrt schwächt anhaltender Nichtgebrauch selbst anscheinend festsitzende Erinnerungen: auch Leute, die sich lange in Italien aufgehalten haben, vergessen allmählich ihr Italienisch, wenn sie „aus der Uebung kommen“. Wer seinen Geist mißbraucht, indem er ihn täglich mit neuen Eindrücken sättigt und ihm keine Gelegenheit zum Wiederholen des Gesehenen und Gewußten bietet, der sündigt damit gegen sein Gedächtnis und wird schließlich überhaupt nicht mehr imstande sein, etwas zu „behalten“. An allzu eifrigen Romanlesern kann man diese Erscheinung beobachten, ebenso wie an allen denen, welche, außer stande, sich zeitweilig an sich selbst genügen zu lassen, beständig nach allerhand „Zerstreuungen“ jagen – schließlich werden sie in der That „zerstreut“. Zu welch großartigen Leistungen das Gehirn wiederum durch anhaltende Uebung erzogen werden kann, beweisen die oben angeführten Fälle von Gedächtniskraft, denen wir hier noch die Namen Wallis und Dase anfügen wollen. Diese beiden Mathematiker hatten es durch stete Beschäftigung mit der Arithmetik schließlich zu der fast unglaublichen Fertigkeit gebracht, im Kopf aus fünfzigstelligen Zahlen die zweite, ja die dritte Wurzel zu ziehen. An solchen und ähnlichen Beispielen aber ist in der Geschichte durchaus kein Mangel, erinnern wir nur noch – ein Gegenstück zu der oben erwähnten musikalischen Dame – an einen französischen Herrscher, Ludwig XIII., dem es ein Leichtes gewesen sein soll, den Plan eines Landes, den er genau studiert hatte, noch nach Jahresfrist mit allen Einzelheiten aus der Erinnerung aufzuzeichnen.
Daß sich die Gedächtniskraft bei den verschiedenen Menschen so verschiedenartig ausprägt, darf uns nicht wundernehmen. Sind doch die Fähigkeiten unter den Menschen ebenso mannigfaltig verteilt, und ist es doch nur natürlich, daß sich bei jedem einzelnen auch das Gedächtnis in denjenigen Fächern am meisten übt, für welche er gerade begabt ist. So spricht sich in dieser Mannigfaltigkeit des Erinnerungsvermögens nur die Wahrheit um so deutlicher aus, daß das Gedächtnis keine besondere, den sonstigen geistigen Eigenschaften an die Seite zu stellende Fähigkeit ist, die etwa tn einem eigenen Punkte des Gehirns ihren Sitz hätte, sondern daß es nur die Grundeigenschaft des Stoffes, aus dem wir bestehen, darstellt, einen einmal durchgemachten Prozeß leicht zu wiederholen. In diesem Sinne kann man sogar den Muskeln eine Art Gedächtnis zusprechen, denn sind sie nicht ebenfalls um so besser befähigt, dem Willen ihres Eigners nachzukommen, je mehr sie geübt wurden? Ja wir gehen noch weiter und finden eine dem Gedächtnis entsprechende Eigenschaft im ganzen Reiche der lebenden Natur wieder, gleichermaßen bei Pflanzen und bei Tieren. „Die organisierte (d. h. lebende) Materie, das sogenannte ‚Protoplasma‘, hat die Eigentümlichkeit, daß sie durch wiederholte Thätigkeit verstärkt, thatfähiger, durch Unthätigkeit dagegen schwächer, unfähiger wird.“ So drückt der oben erwähnte Professor Forel die von uns betonte Eigenschaft des lebenden Stoffes in kurzen Worten aus. Durch das ganze Weltall gilt das Gesetz: Thätigkeit stärkt, Unthätigkeit schwächt. Ein jedes Stoffteilchen so gut wie jedes ausgebildete Organ trägt in sich die ebenso wichtige, wie unerklärliche Kraft, eine einmal verrichtete Funktion zu wiederholen. Das Gehen, Sprechen, Schreiben, alle technischen Fertigkeiten, alle unsere zum Teil das ganze Leben begleitenden Gewohnheiten gehören hierher. Am ausgeprägtesten beobachten wir diese Regel bei dem Vorgange der Vererbung, den deshalb mehrere ausgezeichnete Naturforscher rückhaltlos als im innersten Wesen gleichwertig mit dem Gedächtnis bezeichnet haben, gleichsam als ein „Artgedächtnis“ gegenüber dem individuellen Gedächtnis. Der Instinkt, der die junge Spinne ihr Netz bauen, den Käfer das Loch für seine Larven beißen oder graben, den Vogel im Herbst wärmere Lande aufsuchen läßt, dieser Instinkt wird verständlich, wenn man ihn als das von Geschlecht zu Geschlecht reichende Artgedächtnis betrachtet.
Kommen wir von dieser Abschweifung nunmehr auf unser eigentliches Thema zurück. Offenbar ist es ein weiter Weg von der allverbreiteten Eigenschaft der Materie, sich immer wieder in denselben Formen zu geben, bis zu dem hochentwickelten Erinnerungsvermögen des Menschen. Von einer eigentlichen bewußten und selbständigen Erinnerungsthätigkeit können wir überhaupt nur bei den letzteren sprechen; denn so viele überraschende Beispiele von Gedächtnis man auch an den Tieren, besonders an Hunden, Pferden und Elefanten, schon beobachtet hat, so bleiben doch alle Erinnerungsbilder auch des klügsten Tieres an seine Begierden gebannt und sind von seinem Wissen und Willen völlig unabhängig. Alle beobachteten Beispiele dieser Art stellen, wenn auch oft in wunderbarer Verkettung, nur das Auftauchen einer angenehmen oder unangenehmen Empfindung dar, welche das Tier in der Vergangenheit hatte und welche jetzt durch einen Vorgang der Gegenwart aufs neue erwacht. Niemals dagegen wird ein Tier sich mit Absicht und Bewußtsein vergangener Dinge entsinnen können; es fehlt dazu die wichtigste Vorbedingung, das reine, vom unmittelbaren Wirken der Sinne losgelöste Denken. Das Tier lebt nur in der Gegenwart und für die Gegenwart, der Mensch aber, mehr als in dieser, in der Vergangenheit und Zukunft.
Widmen wir nun zum Schluß auch der Kehrseite unserer Frage noch einen kurzen Abschnitt. Ist die Thätigkeit des Gedächtnisses ganz an die Zellen des Gehirns gebunden, so muß die Erinnerungskraft auch die Geschicke des Gehirns teilen, eine Mutmaßung, welche durch die Erfahrung bestätigt wird. Wer hat es nicht schon mit angesehen, wie an einem Greise bei sonst noch wohlerhaltenen Geisteskräften mit dem langsamen Verfall der Blutgefäße im Gehirn eine immer weiter greifende Gedächtnisschwäche sich bemerkbar machte? Zuerst schwindet die Erinnerung an alle Dinge, welche nicht ganz eng mit den persönlichen Angelegenheiten verknüpft sind, dann verblassen auch Erlebnisse, die sonst zu den wichtigsten zählten, und schließlich kann man es wohl erleben, daß der alte Mann oder die alte Frau zehnmal in einer Stunde an ihre Umgebung dieselbe Frage richtet und die Antwort mit stets gleicher Verwunderung entgegennimmt, um sie im nächsten Augenblick schon wieder vergessen zu haben. Am längsten pflegen sich Erinnerungen an die Kindheit zu erhalten, aber in schweren Fällen verlieren sich auch diese endlich, mit ihnen fast alles geistige Dasein, und die das ganze Leben hindurch geübten Thätigkeiten des Essens, Greifens, Gehens etc. sind schließlich alles, was dem absterbenden Organismus an Gedächtnis- oder Gewohnheitsfähigkeiten übrig bleibt.
Ist die Greisenschwäche eine Form von nahezu gänzlichem Schwund des Gedächtnisses, so besteht daneben noch eine Menge von anderen teilweisen Gedächtnisstörungen. So führt eine Zerstörung des Hinterhauptlappens im Großen Gehirn zum Verlust aller Erinnerungsbilder, welche mit dem Gesicht in Verbindung stehen. Der so Betroffene sieht wohl noch, ist aber nicht imstande, das Gesehene zu begreifen und im Gedächtnis zu behalten. Ebenso bewahren die Schläfenlappen die Erinnerungsbilder des Gehörsinns, und wer dieses Gehirnteiles beraubt ist, hört wohl noch die Glocken läuten, ohne daß er indessen wüßte, was er hört. Auch von noch weniger ausgedehnten Fällen von Gedächtnisverlust berichten die Naturforscher und Aerzte. Ribot z. B. thut eines Kindes Erwähnung, welches nach einer starken Verletzung des Kopfes drei Tage lang bewußtlos blieb, dann aber vollständig genas, bis auf einen Mangel – es hatte seine sämtlichen musikalischen Kenntnisse vergessen. Ein Chirurg, durch einen Sturz vom Pferde ebenfalls bewußtlos geworden, war, nachdem er in allen sonstigen Dingen den Vollbesitz seiner Geisteskräfte wiedererlangt hatte, drei Tage lang nicht imstande, sich zu entsinnen, daß er Gatte und Familienvater sei. Aehnliches geschah einer jungen Frau, welche ihren Mann leidenschaftlich liebte und nach der Geburt ihres ersten Kindes von einer langen Ohnmacht befallen wurde. Als sie zur Besinnung kam, hatte sie sowohl ihre Verheiratung als auch die ganze seit ihrer Hochzeit verflossene Zeit vollständig vergessen. Mit Abscheu stieß sie ihren Gatten und ihr Kind zurück, und als ihre Eltern sie schließlich mit vieler Mühe überredeten, daß sie verheiratet und Mutter sei, glaubte sie es nur, weil es ihr erträglicher schien, die Erinnerung an ein Jahr ihres Lebens verloren zu haben, als ihre ganze Umgebung für Betrüger halten zu müssen.
Um die Erklärung solcher Gedächtniskrankheiten steht es bis jetzt noch schlecht; die Heilkunde giebt darüber wohl Vermutungen, jedoch durchaus noch keine Gewißheit. Mit dem eifrig betriebenen Studium des Gehirns und seiner anatomischen Beschaffenheit wird indessen allmählich auch auf diese, wie auf alle geistigen Vorgänge ein helleres Licht geworfen und vielleicht in manchen Fällen die Heilung ermöglicht werden, wo heute der Arzt und Naturforscher noch einem dunklen Rätsel gegenübersteht.