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Ernst von Leutsch: Ein Nekrolog

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Textdaten
Autor: Max Schneidewin
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Titel: Ernst von Leutsch
Untertitel: Ein Nekrolog
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1888
Verlag: Dieterich’sche Verlagshandlung
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Erscheinungsort: Göttingen
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Quelle: Scan auf Commons von einem Exemplar der Niedersächsischen Universitäts- und Landesbibliothek Göttingen (Signatur CD 8 H L BI VI, 2343)
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[I] [WS: Handschriftliche Anmerkung]

Der Text erschien zugleich als Anhang zum 17. Bande – 1887 – des Philologischen Anzeigers.

[II]
Ernst von Leutsch.


Ein Nekrolog


von


Max Schneidewin.



Göttingen,
Dieterich’sche Verlagshandlung.
1888.

[III] [WS: Stempel der Bibliothek]


[1] Ernst Ludwig von Leutsch wurde geboren am 16. august 1808 zu Frankfurt a. M., wo sein vater damals als kön. sächsischer gesandter beim fürsten Primas fungirte. Seine gymnasialbildung erhielt er, da seine familie schon vor der abdankung Dalberg’s vom „Grossherzogthum Frankfurt“ nach der sächsischen hauptstadt zurückgekehrt war, zuerst in Dresden, dann in Leipzig, zum schluss aber in Celle, nachdem sein vater als oberappellationsgerichtsrath in hannoversche Staatsdienste übergetreten war. Seine neigung zu den classischen Studien hatte sich schon auf dem gymnasium so entschieden entwickelt, dass er, im alter von 18½ jahren die Universität Göttingen beziehend, den festen entschluss sich als classischer philologe einst der akademischen laufbahn zu widmen dorthin mitbrachte. In seiner studienzeit stand er nicht weniger unter dem einflusse des ausgezeichneten lateiners Mitscherlich und des gelehrten und gründlichen Dissen wie des genialen Otfried Müller, welcher schon am ende der zwanziger jahre zu einem hellstrahlenden lichte der Georgia Augusta erblühte. Die beziehungen zu gleichstehenden freunden, welche das universitätsleben ihm zuführte, waren edler wissenschaftlicher art und zugleich von menschlicher, für das leben andauernder herzlichkeit; an die wissenschaftsfremden erscheinungen des studentischen lebens, in welchen die deutsche akademische jugendlichkeit sich auszuleben liebt, ging keine zeit verloren. Unter den damals angeknüpften wissenschaftlichen lebensfreundschaften sind namentlich hervorzuheben die mit L. Ahrens, C. L. Grotefend, namentlich aber mit F. W. Schneidewin und A. Geffers, welche letzteren beiden auch räumlich E. v. Leutsch bis zu ihrem tode (1856 resp. 1863) nahe blieben, der erstere als professor, der letztere als gymnasialdirector in Göttingen. Die tiefe und den werth dieser beiden freundesverhältnisse habe ich als knabe und jüngling mit hoher achtung zu empfinden [2] die gelegenheit gehabt. Ein besonderes band des συμφιλολογεῖν zwischen den genannten und anderen begeisterten jüngern der alterthumswissenschaft war ihre „philologische gesellschaft“, in welcher lateinisch vorgetragen, disputirt und protokollirt wurde und die studien sich namentlich die Fragmente der Cykliker und der Hesiodeischen gedichte als ein feld gründlicher durcharbeitung gewählt hatten; die öftere theilnahme Otfried Müllers an ihren sitzungen verlieh diesen erhöhten werth. Eine verbindung mit der kritischen methode Gottfried Hermanns stellte sich 1828 durch den eintritt des trefflichen und für mathematik und sprachwissenschaft gleich hoch begabten Adolf Emperius aus Braunschweig, eines schülers des Leipziger altmeisters, her, ohne dass die sonstige antipolarität des Göttinger und des Leipziger schulhauptes in die bestrebungen der schüler ihren schatten warf. Eine frucht gerade der in der philol. gesellschaft gepflegten studien war E. v. Leutsch’s erstlingsschrift „Thebaidos cyclicae reliquiae“, mit welcher er am 7. april 1830 promovierte; eine anknüpfung an sie war es auch noch, wenn Leutsch[1] noch in den siebenziger jahren den Orion Thebanus den übungen des philol. seminars zu grunde legte. Das Göttinger philol. studium ergänzte Leutsch durch einen einjährigen aufenthalt in Berlin, 1830–1831, in dem er dem grossen A. Böckh, namentlich durch eifrige hingebung an dessen metrisches system, nahe trat. Wie Leutsch zeitlebens eine glühende verehrung für die coryphäen der philologischen wissenschaft in ihrer individuellen besonderheit empfand, so hat er noch in seinen letzten lebensjahren Immanuel Bekker und A. Böckh in zwei kürzeren, aber liebevollen monographieen ein schönes denkmal gesetzt. Am 2. mai 1831 habilitirte sich Leutsch als privatdocent der philologie in Göttingen. Die nicht weniger als 60 thesen, welche er am 6. juli 1833 vertheidigte, nach welcher akademischen amtshandlung er zum „assessor“ der philos. facultät aufstieg, zeigten einen grossen studienumfang des jungen gelehrten in den griech. und lat. schriftstellern; sonst hatten sie mit zahlreichen solcher thesen den gleichen charakter, dass nicht überall das bedürfniss der objectiven wahrheit mit dem bestreben, in die werkstatt der subjectiven forschungslust einen einblick zu gewähren, völlig ausgeglichen ist.

Nach einem privatdocententhum von mittlerer dauer wurde Leutsch am 2. mai 1837 ausserordentlicher professor und noch in demselben jahre nach Dissen’s am 25. sept. eingetretenem tode mitdirigent des philol. seminars. Die bekannten politischen wirren, welche in jenem jahre der thronbesteigung Ernst August’s, des ersten [3] in Hannover selbst residirenden königs von Hannover, die Georgia Augusta erschütterten, sollten auch Leutsch in gewisser weise verhängnissvoll werden, da ihm sein damaliges oppositionelles, männliches auftreten die gunst der hannoverschen regierung bis zu deren ende hin empfindlich schmälerte. Leutsch gehörte nicht zu den berühmten Sieben, welche gegen die eigenmächtige königliche aufhebung des staatsgrundgesetzes von 1833 protestirten und in consequenz ihrer eidesverweigerung ihrer anstellungen an der universität Göttingen verlustig gingen, um bald an anderen deutschen hochschulen einen erweiterten ruhmvollen wirkungskreis zu finden. Aber er mit noch fünf anderen, O. Müller, F. W. Schneidewin, dem geschichtsschreiber der philosophie H. Ritter und den juristen Kraut und Thöl trennten sich doch durch einen gedruckten und an mehrere zeitungen versandten protest von den durch die mehrheit des akademischen lehrkörpers in einer ergebenheitsadresse an Ernst August ausgesprochenen gesinnungen, durch welche nicht ohne das odium eines anhauches von servilismus die Sieben desavouirt wurden. (Uebrigens war es auch streng genommen gar nicht die professorenschaft gewesen, welche jene addresse hatte emaniren lassen, sondern eine deputation derselben unter führung des schwachen prorectors, des juristen Bergmann, hatte eigenmächtig auf dem jagdschloss Rotenkirchen bei Einbeck, wo sich im nov. 1837 der könig aufhielt, dieselbe unter starker pression seitens der umgebung des königs verfasst und verlesen). Die Sechs also wurden seit jener zeit mehr oder weniger – Thöl wurde doch 1857 von der hannoverschen regierung durch abordnung in die commission zur abfassung des allgemeinen deutschen handelsgesetzbuches, die ihre sitzungen in Nürnberg hielt, ausgezeichnet – personae minus gratae bei dem „rector“ der universität und seinen ministerien. In diesem zusammenhange will ich doch sogleich von der politischen gesinnung unseres Leutsch bemerken, dass derselbe von anfang an unter seinen Göttinger collegen einer der entschiedensten anhänger der 1866 geschaffenen umwandlung der dinge wurde, obgleich er wohl in spätern jahren vom reinen standpunkt der universität Göttingen aus so etwas empfinden konnte, wie dass sie nun nicht mehr einzige das „landesjuwel“ schien, sondern ideell als eine unter acht schwestern dastand, – die übrigens bekanntlich in realistischer beziehung unter der preussischen regierung auf das fürsorglichste bedacht ist. Der grosse krieg von 1870 erweckte in Leutsch eine hochfluth patriotischen gefühles, in welchem er juli 1870 – in vernünftiger voraussicht des eclatanten sieges der gerechten und moralisch wie militärisch weit stärkeren sache – schon nicht nur Verdun und Toul, sondern auch Lyon und Marseille als zukünftige deutsche reichsstädte in anspruch nahm, von welchen träumen er aber sicherlich durch die nicht genug zu rühmende masshaltung der deutschen politik bald zurückgekommen sein wird. [4] Bekannt ist den lesern d. bl., welch hohes interesse ihr nun verstorbener herausgeber insbesondere der betheiligung der philologen in des königs oder deutscher fürsten rock am grossen feldzuge gewidmet hat; auch zu einer beabsichtigten geschichte des krieges, dessen einzelnheiten er sehr genau kannte, hat er lange material gesammelt.

1842 wurde Leutsch mit F. W. Schneidewin zugleich ordentlicher professor, dank einem druck, welchen K. Fr. Hermann, der damals als würdiger nachfolger Otfried Müllers von Marburg berufen wurde, in seiner sympathie für die politische mannhaftigkeit der Sechs auf die Hannoversche regierung dadurch ausübte, dass er ein ordinariat für F. W. S. und E. v. L. zur bedingung seines kommens nach Göttingen machte. Dass diese ernennung also nicht unmittelbar als anerkennung der verdienste in wissenschaft und lehramt erfolgte, war für Leutsch freilich ein wermuthstropfen in den becher seiner befriedigung über die erfüllung seines hauptsächlichen lebenswunsches. In den grossen universitätsferien 1842 machte Leutsch mit F. W. Schneidewin zusammen auf staatskosten eine reise nach Avranche in der Normandie, behufs vergleichung einer dortigen handschrift von Cic. de oratore und orator, deren hinter der erwartung zurückbleibendes ergebniss erst 1857 im Philol. bd. XI von ihm veröffentlicht worden ist. Uebrigens war die reise fruchtbar durch die eindrücke des fremden nachbarlandes und besonders seiner hauptstadt und durch die anknüpfung persönlicher beziehungen mit französischen philologen, wie Letronne und Boissonade. Aus Leutsch’s nunmehr still und gleichmässig verfliessenden gelehrtenleben mögen nur noch die folgenden daten mittheilung finden. Im winter 1862 feierte er sein fünfundzwanzigjähriges jubiläum als mitleiter des philol. seminars, dessen director er seit 1856 geworden war. Die anregung zu dieser seitens seiner studenten recht würdig (auch durch darreichung einer commentatio Pindarica von Albert Grumme, jetzt director in Gera) veranstalteten feier, an die sonst vielleicht nicht gedacht wäre, sollte im stillen ausgehen von meiner seligen mutter, die mich, den damaligen princeps des seminars, auf den bevorstehenden tag aufmerksam machte; diese ächte gelehrtenfrau hatte eine sehr umfassende kenntniss der personalia der zahlreichen mit ihrem 1856 verstorbenem manne befreundet gewesenen philologen und für Leutsch besonders eine dankbare verehrung als den nächsten freund ihres lebensgefährten und den seit 1856 höchst sorgsamen und gewissenhaften vormund ihrer kinder. Auch zwei funfzigjährige jubiläen hat Leutsch unter freundlicher betheiligung der universität erlebt, 1880 das doctor- und 1887 das professor-jubiläum. Den titel „hofrath“ hatte Leutsch noch in Hannoverscher zeit, den titel „geh. regierungsrath“ 1880 erhalten. Der 150jährigen jubelfeier der Georgia Augusta sah Leutsch mit hoher freude in der vollen liebe seines [5] herzens für die alma mater entgegen, als einer der sehr wenigen professoren, die schon mitbetheiligte zeugen der grossen und unvergesslichen jubelfeier von 1837 gewesen waren, bei welcher ein kranz der hervorragendsten deutschen gelehrten, speciell auch von philologen, durch ihre gegenwart die festlichen tage in der Leinestadt verherrlicht hatten, wie denn auch der entschluss alljährlicher philologenversammlungen der damaligen vereinigung der trefflichsten dieser wissenschaft entsprungen war. Leutsch hatte schon mannigfache persönliche einladungen zu dem 1887er feste an wissenschaftliche freunde in der ferne erlassen und traf in seinem gastlichen hause vorkehrungen für deren aufnahme, als ihn ganz kurz vor dem anbruch der akademischen festtage unerwartet der tod abrief. Seine letzten lebensjahre waren durch ein schweres augenleiden getrübt, welches ihn der erblindung nahe brachte. Zwei, mit längerem aufenthalt im hospital verbundene operationen schufen nur geringe hülfe; nach der dritten, im märz 1887 vorgenommenen, wurde ich plötzlich durch die seit fünf jahren nur in der unterschrift seiner dictate gesehene handschrift Leutsch’s auf einem briefcouvert freudig überrascht, der ganze brief war von seiner hand, und er konnte wieder ganz gut sehen; jedoch kehrte er immerhin bald zu dem ihm gewohnt gewordenen dictiren schriftlicher mittheilungen zurück. Am 28. juli desselben jahres starb er plötzlich an einem binnen einer halben stunde sich zweimal wiederholenden schlaganfall, der ganz unerwartet zu einem an sich leichteren leiden der letztvorhergehenden woche hinzugetreten war. Soeben hatte ihn noch einer seiner treusten und ergebensten schüler, der jetzige professor Carl Müller am gymnasium in Kiel, auf dem krankenlager, aber bei guter laune verlassen. Leutsch war in den letzten jahren recht vereinsamt gewesen; aus Göttingen, so sagte er mir einmal, bekäme er wohl über München einmal etwas zu hören; treue besucher waren dem greise noch prof. Hentze, landrichter H. Thöl und bis zu seinem übergang nach Tübingen geheimjustizrath prof. Gustav Hartmann; frl. H. v. Bobers und seine liebenswürdige gehülfin durch vorlesen und schreiben, frl. E. Wöhler, die tochter des berühmten chemikers, deren mit Leutsch gemeinschaftliche arbeit auch die übersetzung von Jebb’s schöner biographie Bentley’s ist. Leutsch liegt bestattet auf dem neuen kirchhofe bei „der alten linde“ unweit Grone, neben dem ausgezeichneten anatom Henle, gleich am eingange des gottesackers. Sein testament lautete zu gunsten der universität Göttingen, doch hat diese die annahme desselben jetzt definitiv ausgeschlagen, in dem gefühl, dass blutsverwandte, welche in geschwisterkindern Leutsch’s vorhanden sind, ein natürliches näheres anrecht hätten. Das vermögen war nicht bedeutend, ganz wundervoll dagegen seine bibliothek, gewiss eine der umfangreichsten und wohlgeordnetsten [6] sammlung der schriften einer wissenschaft, die in Deutschland in privatem besitz sein mögen.

Leutsch wollte in erster linie akademischer lehrer sein, und ein unermüdlicher fleiss eines langen lebens wurde dieser seiner lebensaufgabe gewidmet. Der umfang seiner vorlesungen war bedeutend. Von den realen seiten der classischen alterthumswissenschaft waren es griechische und lateinische litteraturgeschichte (oder auch einzelne theile derselben, wie die geschichte der prosa oder der poesie) und metrik, worauf sich seine vorlesungen bezogen. Von schriftstellern waren diejenigen, zu denen er am meisten zurückkehrte, Pindar, Aristophanes und Thukydides, Livius und Tacitus (historien); er hat aber auch wohl gelesen über die elegiker, Sophokles, Euripides, Theophrast; über Cicero, Horaz, Catull, Properz und Sallust. Seine hefte zu allen diesen collegien waren mit dem grössten fleiss ausgearbeitet und immer wieder überarbeitet; sein vortrag war nicht glänzend, aber erleichterte sehr ein beliebig vollständiges nachschreiben, trotzdem Leutsch keineswegs, wie manche docenten, in einschläferndem tone sprach und trotzdem er in den einzelnen stunden reichlichen stoff verarbeitete; seine vorlesungen pflegten irgendwie zu beginnen und zu endigen mit dem preis des wissenschaftlichen lebens, insbesondere des philologischen studiums und der deutschen universitäten. Dass in Leutsch’s collegien eine unermessliche fülle der erudition steckte, insbesondere auch eine allmälich seltener werdende beherrschung der grossen leistungen des 17. und 18. jahrhunderts, wurde ganz allgemein anerkannt. Seine strenge und gewissenhafte methodik dagegen wurde von manchen verkannt, und eine gewisse strömung gegen Leutsch war unter den philologischen studenten Göttingens meist vertreten. Trotzdem war sein docieren von methodik ganz unzweifelhaft getragen und durchdrungen. Stets, von abschnitt zu abschnitt, waren die ziele genau vorgezeichnet, auf welche sich die untersuchung zubewegte; aber die erreichung des zieles war wieder durch eine reihe von unterzielen bedingt, welche nun die kleineren strecken des weges beherrschten. Indem Leutsch nun alle diese kleinen theilstrecken mit gleicher akribie verfolgte, oft nach sachlich gebotenen ausweichungen auf seitenlinien wieder in die hauptstrasse einlenkte, um eine nächste etappe derselben doch wieder erst in einer neuen seitencurve zu erreichen, konnte es scheinen, als ob die rechts und links am wege gepflückten blumen gelehrten wissens es wären, deren reizen er nicht widerstehen könnte und die ihn wie eine Proserpina abseits lockten, um vom Plutonischen wust logisch unerhellter stofffülle verschlungen zu werden. Und doch tauschten diejenigen seiner zuhörer, die wir ihm besonders zugethan waren, oft unter uns aus, wie einem entgegenstehenden vorurtheil zuwider für uns das logische gerüst auf das wohlthuendste unter dem üppigen gerank der gelehrsamkeit als [7] dessen halt und stütze hervorschimmerte. Ein fehler war es, namentlich in den mehr systematischen collegien, dass die zeit zu völliger gleichmässigkeit der behandlung der theile nicht mehr ausreichte; z. b. blieb in den vorlesungen über lat. litteratur für die nachaugusteische zeit dann nur ungefähr eine woche übrig, in der massenhafter stoff noch durchgepeitscht werden musste. Leutsch las dann wohl noch bis zum 16. märz resp. august in einem sonst schon völlig verödeten collegiengebäude weiter, nach einer besonderen bitte an seine getreuen, so lange aushalten zu wollen. Doch bewältigte er Aristophanes’ Frösche oder Vögel ziemlich gleichmässig bis zu ende, von Thukydides etwa 60, von Tacitus etwa 40 capitel, da er hier sehr zahlreiche schöne excurse über realien der kaiserzeit einflocht. Die einleitungen zu den schriftstellern pflegten sich bis in die vierte woche hinzuziehen. Der glanzpunkt seiner vorlesungen waren Aristophanes und Pindar, die commentarien zu den einzelnen Pindarischen epinikien kleine in sich abgerundete kunstwerke. Ein schönes, ausdrucksvolles lesen der dichter, wodurch F. W. Schneidewin so sehr auch die begeisterung seiner zuhörer für die alte poesie zu wecken gewusst hatte, war seine gabe nicht, doch wusste er dem dichterischen gehalt in der form wissenschaftlicher ergründung seines charakters nahe zu dringen. – Ganz besonders wichtig war in Leutsch's augen für studirende philologen die betheiligung an den übungen des seminars (resp. zunächst proseminar’s, welches Leutsch etwa 1860 in’s leben gerufen hatte). Die wissenschaftlichen, halbjährlich zu liefernden abhandlungen waren auch gewiss zum theil sehr fördernd, von der interpretation der schriftsteller kann ich persönlich nicht das gleiche sagen. Leutsch gab sich um eine gewandte fertigkeit in einem eleganten mündlichen latein nicht eben mühe und trat darin empfindlich gegen Sauppe, dem solches latein nur so zufloss, zurück; er pflegte sich auch pedantisch in einige wenige zeilen des schriftstellers (z. b. sogar 2–3 verse Ilias) festzuhaken, ohne dass durch solches übermass des statarischen auch nur für den minimalen umfang des gelesenen etwas bedeutendes herauskam. Ich konnte mich diesen seminarübungen gegenüber nie des dilemma’s erwehren: ist diese art schriftsteller zu lesen die richtige, wie soll dann der philologe zu demjenigen umfange der belesenheit kommen, welcher für ihn ein hauptsächliches rüstzeug ist; ist es aber nicht die richtige art, warum wird sie auch nur für diese übungen so betrieben? Auch stand ich doch unter dem drückenden gefühl, dass leider lehrer und schüler das lateinische nicht mehr so gründlich beherrschten, um den feineren sich an den vorliegenden stoff knüpfenden fragen wahrhaft gerecht zu werden. Diese an dem leiter der seminaristischen disputationen geübte freimüthige kritik möge das im obigen dem selbständigen docenten aus überzeugung gespendete lob in um so helleres licht stellen.

[8] Leutsch war, wie gesagt, mit so überwiegender liebe und gewissenhaftigkeit docent, dass seine wissenschaftliche schriftstellerei verhältnissmässig weniger hervortritt. Seine schriften sind (abgesehen von dem schon gelegentlich erwähnten): 1) Grundriss zu vorlesungen über metrik, 1841, ein dem damaligen stand der wissenschaft entsprechendes und namentlich durch seine fülle der beispiele aus den alten dichtern für jahrzehnte sehr brauchbares buch. 2) Corpus Paroemiographorum Graecorum, an dessen 1839 mit F. W. Schneidewin zusammen herausgegebenem ersten theile Leutsch (s. Praefatio Schneidewini p. XXXIX) schon den löwenantheil hatte, während er den zweiten 1851 allein herausgab. Das buch ist bis heute das hauptwerk über dieses etwas ablegene, aber für den griechischen volksgeist sehr interessante stoffgebiet. 3) Der 7 bogen lange artikel Ovidius in Ersch’ und Grubers encyclopädie, jahrgang 1836. 4) 8 übrigens ziemlich kurze Indices Scholarum, davon 6 auf Pindar bezügliche, 1859–69. 5) Seine beitrage zu philol. zeitschriften, insbesondere seinen eigenen. Diese beziehen sich auf mancherlei schriftsteller, sind übrigens nach länge und bedeutung sehr verschieden; Leutsch konnte wohl, wenn er in eile noch einen „lückenbüsser“ herstellte, in der festhaltung des begriffes „abhandlung“ die kategorie der quantität höchst cavalièrement bei seite setzen, andererseits hat er auch wohl ganze hefte ganz allein angefüllt.

Der redaction seiner beiden philologischen zeitschriften widmete sich Leutsch in den letzten jahrzehnten seines lebens mit ganzen kräften und unermüdlichem fleisse. Die des Philologus übernahm er 1856 nach F. W. Schneidewin’s tode. Die damals 10 jahrgänge alte zeitschrift hatte sich schon in der philol. welt sehr gut eingeführt; Leutsch liess es sich angelegen sein, ihren ruf nicht nur auf der alten höhe zu halten, sondern womöglich ihn noch durch vielseitige trefflichkeit des gebotenen zu übertreffen. Und welche schätze unermesslichen gelehrtenfleisses sind in den 30 jahren seiner redaction wieder in dieser zeitschrift niedergelegt! Bei der gewissenhaftigkeit der prüfung des aufzunehmenden und bei der anregung zu beiträgen, welche er an die geeignetsten kräfte in die runde, in Deutschland und auch im ausland, ergehen liess, hatte Leutsch eine ganz ausserordentliche arbeitsfülle von dieser herausgabe des Philologus und neben dem erhebenden bewusstsein, in einer art von organisatorischem dienst der wissenschaft thätig zu sein doch auch den druck, nie aus den briefschulden herauskommen zu können. Er war in seiner correspondenz höchst pünktlich und trotz des bemühens eben nur sachgemäss zu schreiben doch oft ausführlich; zum princip hatte er sich gemacht, nie in einem briefe zu corrigiren und konnte wohl in seinem studirzimmer mit dem kopfzerbrechen auf- und ablaufen, wie er dieses princip einhalten sollte, wenn er sich zufällig an einen [9] abgrund geschrieben hatte, erzählte denn auch wohl von der glücklichen wendung, die ihn doch wieder ohne correctur auf die bahn geführt hätte. Und doch liess er sich bekanntlich noch nicht an der vom Philologus ihm aufgebürdeten arbeit genügen, sondern gründete im jahre 1868 dazu den „Philolog. anzeiger“, der schon in seinem zweiten jahre von 18 auf 40 bogen im umfange stieg und mehrfach noch supplementhefte erhielt. Die idee des Philologus war im wesentlichen, selbständige wissenschaftliche arbeiten zu vereinigen, die des „Philol. anzeigers“ sämmtliche altphilologische leistungen in möglichster vollständigkeit der kenntnissnahme und gerechten kritischen würdigung zugänglich zu machen. Der „Philol. anzeiger“ löst diese aufgabe in grosser vollkommenheit und ist in seiner anlage bekanntlich ein vorbild für viele andere zeitschriften geworden. Solche trefflichkeit einer zeitschrift ist ohne die höchste rührigkeit im centrum der herausgabe nicht denkbar, und nie habe ich seit jahrzehnten Leutsch besucht, ohne zeuge von dieser rührigkeit zu werden. Er hat in überaus reicher brieflicher beziehung zu fachgenossen gestanden, von den koryphäen bis zu dem einfachen gymnasiallehrer, welcher sich in ein speciellstes arbeitsgebiet eingelebt hatte. Auch die philologenversammlungen besuchte er von nun ab bis nahe zu anfang der achtziger jahre regelmässiger, um dort zum besten seiner zeitschriften thätig zu sein. War er bisher nur theilnehmer an den versammlungen zu Gotha (1840), Cassel (1843) und natürlich Göttingen (1852) gewesen, so versäumte er in den sechziger jahren keine einzige, kam später noch nach Leipzig (1872), Rostock (1875), Wiesbaden (1877). Besonders ehrenvoll gestalteten sich für ihn die versammlungen zu Heidelberg (1865), wo er die verhandlungen der kritisch-exegetischen section leitete, zu Braunschweig (1860) und Würzburg (1868), wo frühere schüler ihm zu ehren ein festmahl im engeren kreise veranstalteten, und in Rostock (1875) wo er sich der ihm gestellten aufgabe die schlussansprache zu halten in einer weise, welcher der allgemeine beifall zu theil wurde, entledigte. Vielleicht noch mehr als durch seine vorlesungen und schriften hat sich Leutsch durch seine lange redactionelle thätigkeit einen dauernden namen in der philologischen wissenschaft gestiftet.

Als mensch ist ein ächter gelehrter eben wesentlich auch gelehrter, das gelehrtenthum durchdringt das ganze geäder seines lebens und hält, indem es den ganzen menschen, die ganze zeit im wesentlichen absorbirt, ganz von selbst schon fern von dem aufgehen in dem getriebe des praktischen lebens oder gar den genüssen. In der liebe zu seiner wissenschaft alle zeit in ihren dienst zu stellen, und damit die lebenslange ausdauer und treue in der arbeit für ein ideales ziel, das war also auch bei unserem Leutsch das wesentlichste seines menschenthumes. Aber auch in allen an sich weniger für ihn centralen menschlichen beziehungen war er [10] voll treue und gewissenhaftigkeit, insbesondere in der berathuug jugendlicher freunde, in der theilnahme an den geschicken nahe stehender familien, in der leitung der lebenswege seiner mündel, die ihm unauslöschlichen dank bewahren. Ganz besonders stach in seinem charakter hervor wahrhaftigkeit und freimüthigkeit. Die studentische jugendlichkeit hat es ihm wohl verübelt, wenn der einzelne bei einem hausbesuche eine offene, unliebsame kritik seines studienbetriebes erfuhr, aber redlichstes meinen lag dem doch zu grunde und die höchst vernünftige anschauung, dass der zwanzigjährige gegen ein ehrliches wort gereifter männlichkeit nicht verschlossen sein darf. Mir dünkt es doch wünschenswert, dass die autorität und gesinnung der akademischen lehrer sich über der studentischen freiheit der noch vor kurzem aus der straffen gymnasialen zucht entlassenen akademischen jugend in einer an die freie einsicht derselben erfolgreich appellirenden weise geltend macht. Eine dem widerstrebende gesinnung der jugend lässt sich nicht besser bezeichnen als mit dem Platonischen (Gorg. 527 D) νεανιευέσθαι ὡς τὶ ὄντας, dessen vernünftige, sittlich autonome, von unten ausgehende einschränkung der innere quell sein müsste, aus dem heraus sich unser universitätsleben aus seinen ihm unleugbar anhaftenden übelständen zu befreien hätte. Uebrigens zeigte Leutsch – wie ich gelegenheit hatte aus symptomen zu schliessen – auch in der vertretung seiner überzeugung seinen collegen gegenüber in der facultät edlen mannesmuth und war dem zustande, wo ein einzelner unter gleichgestellten dominirt, von herzen abhold. Seine charakterbildung ruhte auf dem grunde gläubigen christenthums, welches er auch zeitlebens durch treues sichhalten zur kirche bewährt hat. Von völliger wissenschaftlicher freiheit war er auf diesem gebiete nicht erfasst. Einfache, praktische predigten liebte er am meisten und bezog deren inhalt höchst persönlich auf den eigenen seelenzustand, in dem schönen bestreben, stets „an der besserung seines herzens zu arbeiten“, wie es ein jedem deutschen theurer mund in seiner unvergleichlichen schlichtheit ausgedrückt hat.

Die allerwichtigste grundlage für die gelehrte wie für jede thätigkeit und tüchtigkeit ist die körperliche gesundheit. Leutsch lebte stets mit aufmerksamer berücksichtigung derselben, war regelmässiger spaziergänger und liebte besonders kalte schwimmbäder im offenen flusse bis in sein alter. In der jugend war er auch reiter gewesen und hatte die ferienreisen von Göttingen nach Celle und umgekehrt meist zu pferde zurückgelegt, mit nachtquartier in Elze. Dass er als junger professor auch wohl tanzdirector auf den bällen des litterar. museums gewesen war und der Terpsichore mit leidenschaft gehuldigt hatte, klang uns schon anfang der funfziger jahre, wo der hagestolz einerseits und der zurückgezogene gelehrte andrerseits die beiden fest ausgeprägten seiten seiner erscheinung [11] geworden waren, wie eine sage. Freilich sprühte bei gelegenheit in Leutsch immer ein höchst joviales und belebendes gesellschaftliches talent hervor. Eine liebhaberei bis an sein ende blieb für ihn der schöne grosse garten bei seinem 1874 gekauften hause in der „karspüle“, den er in der sorgfältigsten pflege hielt und von jahr zu jahr verschönerte. Dem botaniker hätte hier sofort klar werden müssen, dass ein kenner für die mannigfaltigkeit und zusammenstellung sämmtlicher gewächse hier sorgte, aber zugleich sollte der garten dem philologen so zu sagen ein lebendiges lexikon der Flora in der griechischen und lateinischen litteratur sein, in welcher z. b. Vergil’s Georgika eine lieblingsschrift für ihn waren. Aber auch sein haus war höchst charaktervoll von dem geist des besitzers durchweht. An der treppe des lichten atriums herauf hingen – wie wohl in fürstlichen jagdschlössern hirschgeweihe – die bilder sämmtlicher grössen der Georgia Augusta seit deren gründung, mit den stufen aufwärts laufend, über einander, und so war denn vom eintritt in das haus an und weiter in allen seinen räumen die idee des gelehrtenheimes auf das consequenteste und anziehendste verkörpert. Ein ächter typus deutschen gelehrtenthumes und eines mit der wissenschaft vermählten herzens ist in Ernst v. Leutsch dahingegangen.

[12]
Göttingen,
Druck der Dieterich’schen Universitäts-Buchdruckerei.
W. Fr. Kaestner.

Anmerkungen des Originals

  1. So will ich ihn im einklange mit der gewohnheit des mündlichen sprachgebrauchs fortan nennen. Seinen adel schien er ohne jeden dünkel, doch nicht ohne stillen stolz auf die lange reihe seiner ahnen zu führen, von denen einzelne schöne alte gemälde seine gesellschaftsräume schmückten.