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Erinnerungen aus meinem Leben/In der grünen Steiermark

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aus: Erinnerungen aus meinem Leben
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von: Willibrord Benzler
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In der grünen Steiermark
(1883–1887)

Seckau liegt im Murtale, acht Kilometer von der Stadt Knittelfeld, auf einer dem Hochgebirge vorgelagerten Ebene. Der Ausblick in das weite Tal, auf die ragenden Berge ist herrlich. Die Gebirgsformen sind sanfter, als in Tirol; die saftigen Matten haben mit Recht dem Lande den Namen die »grüne« Steiermark eingetragen.

Im Jahre 1143 hatte Adalram von Waldeck in Seckau ein Augustinerchorherrnstift gegründet. Als Erzbischof Eberhard II. von Salzburg († 1. Dezember 1246) in diesen Gegenden ein Bistum errichten wollte, bestimmte er, daß die Seckauer Stiftskirche die Kathedrale der neuen Diözese sein und diese von Seckau den Namen erhalten solle. Josef II. hob 1782 das Chorherrnstift auf und verlegte die bischöfliche Residenz nach Graz. Die Benennung ‚Bistum Seckau‘ wurde aber beibehalten.

Wir fanden die ausgedehnten Klostergebäude noch zum großen Teile erhalten; sie befanden sich aber nicht durchweg in gutem Zustande und konnten nur allmählich unseren Zwecken angepaßt werden.

Die ehemalige Domkirche ist ein Juwel romanischer Baukunst. Der Hochalter zeigt eine Krönung Mariä mit einer interessanten Darstellung der heiligsten Dreifaltigkeit, einer Schnitzerei in Holz aus spätgotischer Zeit, in der auch der Heilige Geist als menschliche Person erscheint. Außerdem besitzt die Kirche ein kleines Muttergottesbild in byzantinischen Formen, das nach der Legende in einem hohlen Baumstamme gefunden worden sein und den Anlaß zur Gründung von Seckau gegeben haben soll. Dieses sogenannte »Ursprungsbild« steht als Bild der »Hausfrau von Seckau« hoch in Ehren. Es wurde nach unserer Ankunft auf den neu errichteten Altar der »Bischofskapelle« übertragen. Die genannte Kapelle, in gotischem Stil erbaut, ist an die Nordseite der Kirche gelehnt. Sie ist mit den Bildnissen der Bischöfe von Seckau geschmückt; [51] hier hat Fürstbischof Martin Brenner († 14. Oktober 1616), der tatkräftige Gegenreformator, genannt malleus hæreticorum (Hammer der Häretiker), ein marmornes Grabdenkmal. In der nördlichen Seitenkapelle der Kirche befindet sich das in reicher Renaissance ausgeführte Mausoleum des Herzogs Karl II. von Steiermark.

Pfarrer war bei unserer Ankunft der Jubelpriester Adalbert Janisch, ein Mähre von Geburt. Er nahm die neuen Ankömmlinge mit herzlichem Wohlwollen auf. Da sein damaliger Kaplan sich uns anzuschließen wünschte und bald nach Emaus ins Noviziat übersiedelte, so übernahm einer unserer Patres sein Amt als Hilfsseelsorger. Pfarrer Janisch war trotz seines Alters noch sehr rüstig. Er predigte regelmäßig, und zwar in so fließender, wohlgesetzter Rede, daß man den Greis wirklich bewundern mußte. Nach einigen Jahren zog er sich ins benachbarte Städtchen Knittelfeld zurück, wo er auch gestorben ist.

Am 8. September, dem Feste Mariä Geburt, fand die feierliche Einführung der Klostergemeinde in das ehrwürdige Gotteshaus statt. Abt Maurus Wolter zelebrierte das Pontifikalamt, Fürstbischof Zwerger hielt die Predigt. Die Kommunität bestand aus einer Anzahl Patres mit den von Emaus mitgekommenen Klerikern und einer entsprechenden Zahl von Laienbrüdern.

Das monastische Leben und besonders die Feier des liturgischen Chorgebetes nahmen sogleich ihren Anfang. Daneben wurden die Studien für die Scholastiker eingerichtet, bei denen ich meine Lehrtätigkeit fortsetzte. Überdies lag mir die Leitung des ganzen Klosters ob. Für die aszetischen Konferenzen, die ich der Kommunität an den Sonntagen zu halten hatte, fand ich bei Rodriguez, »Übung der christlichen Vollkommenheit«, reichen und gediegenen Stoff. Die Aussprüche der heiligen Väter und Lehrer, die Beispiele aus dem Leben der Heiligen, besonders der Altväter, belebten die Vorträge, die ich möglichst praktisch und nützlich zu machen suchte.

[52] An Schwierigkeiten fehlte es uns in den Anfängen des wiedererstandenen Klosters nicht; die Werke Gottes müssen das Kreuz zum Fundamente haben. Am 10. Februar, dem Feste der heiligen Scholastika, reiste unser Ökonom, P. Gregor Fechter, nach Prag, um den dortigen Mitbrüdern in geschäftlichen Angelegenheiten behilflich zu sein. Dort wurde er vom Typhus befallen. Am 12. März, seinem Namenstage, sang er seine letzte heilige Messe; am Feste des heiligen Ordensvaters Benedikt, am 21. März, starb er, nachdem er kurz vor seinem Hinscheiden das Magnifikat angestimmt hatte. Sein Tod war für uns in Seckau ein harter Schlag. Wir verloren in P. Gregor einen Mitbruder, der allein über die materiellen Verhältnisse unterrichtet war. Die Bestellung der Felder drängte, und niemand von uns wußte auch nur zu sagen, welche Felder die unsrigen waren. Ein braver Bauersmann, der besser orientiert war als wir, kam uns in dieser Verlegenheit zu Hilfe und besorgte die notwendigsten Arbeiten. Einige Wochen später schickten uns die Obern Ersatz in der Person des P. Karl Mattes, der sich in der Folge um die Klosterökonomie große Verdienste erwarb.

Nach Gebet und Arbeit gewährte die herrliche Natur die beste Gelegenheit, Körper und Geist zu erfrischen. Die gewöhnlichen Spaziergänge führten uns nur in die nächste Umgebung; doch von Zeit zu Zeit wurden auch größere Märsche ins Gebirge unternommen. Ich gestehe, daß ich an ihnen kaum teilgenommen habe, ich fühlte mich am wohlsten bei der gewohnten klösterlichen Tagesordnung. Nur einmal stieg ich zu der oberhalb Seckau gelegenen ,Hochalm’ hinauf und besuchte das Wallfahrtskirchlein ,Maria Schnee’. Hier wird alljährlich an Mariä Heimsuchung (2. Juli) und Maria Schnee (5. August) feierlicher Gottesdienst gehalten, wozu die Gläubigen aus nah und fern zahlreich herbeiströmen. Ein anderes Mal gings durch die Alpenwelt nach dem sechs Stunden entfernten Mautern, wo die Patres Redemptoristen ein blühendes Scholastikat besitzen. Die uns dort erwiesene Liebe ist mir noch in angenehmer Erinnerung.

[53] Von den Jahreszeiten pflegt in Steiermark der Herbst mit seinem Farbenspiel besonders schön zu sein. Der Winter setzt verhältnismäßig spät ein. Es schneit dann wohl einige Tage ununterbrochen, aber dann ergießt die Sonne ihre Strahlen in ungetrübter Klarheit über die reine Schneedecke. Des Nachts fällt die Temperatur bis auf 20° R unter Null; –10° R ist die Durchschnittstemperatur. Nach einigen schönen Wochen setzt der Schneefall aufs neue ein; es schneit ein paar Tage in prächtigen Flocken, die senkrecht zur Erde niederfallen; darnach tritt die Sonne wieder ein in ihr Recht.

Der winterlichen Natur so recht entsprechend ist die Adventsfeier. Jeden Morgen findet ein feierliches Rorate-Amt statt. Es ist stimmungsvoll, wenn aus der mit einer dichten Schneedecke wie mit einem Hermelin behängten Kirche die hellerleuchteten Fenster in die Winternacht hinausstrahlen, und dazu die wohl hundert Zentner schwere St. Annaglocke mit ihrer gewaltigen melodischen Stimme die Adventsbotschaft von der Erlösung über die schweigende Alpenlandschaft dahinsendet. Die Pfarrei ist sehr ausgedehnt; die am weitesten entfernt sind, haben wohl eine Stunde bis zur Kirche zu gehen; aber beim Rorate-Amt fehlt niemand, der abkommen kann.

Der Winter dauert sehr lange und geht dann fast unvermittelt in den Sommer über; ein eigentliches Frühjahr gibt es kaum. Aber staunen muß man über die Triebkraft, welche die Natur nach langem Winterschlaf entwickelt. Das Versäumte ist bald nachgeholt, und die Früchte in Garten und Feld gedeihen vorzüglich.

Furchtbar sind im Sommer die Gewitter in dieser Alpengegend. Einmal schlug der Blitz ins Refektorium ein, als eben die Kommunität beim Mittagstische war. Durch den Kamin drang er in die Heizungsröhren, die unter den Sitzbänken an der Längsseite angebracht sind, und entlud sich am Küchenschalter in einer Feuerkugel mit starkem Knall. Glücklicherweise kam niemand zu Schaden.

Von den Geistlichen der Nachbarschaft war Dechant Pernhofer von Knittelfeld uns besonders zugetan; das gastliche Haus des edlen Priesters stand uns immer offen: »Quod hamus, damus«, [54] pflegte er scherzend zu sagen; er erwies sich auch sonst als Wohltäter unseres Klosters. Eine interessante Figur war unser Nachbar, Pfarrer Waldherr von St. Marein, ein geborener Ungar und Studiengenosse unseres Pfarrers Janisch. Der gute alte Herr war die Freundlichkeit selber; er erzählte gern aus der alten Zeit unter Fürstbischof Zängerle († 27. April 1848) oder aus seinen Studienjahren. Auch mit den übrigen geistlichen Herrn der näheren oder weiteren Umgebung hatten wir gute Beziehungen.

Mit vieler Mühe war es gelungen, für eine Anzahl Patres das österreichische Staatsbürgerrecht zu erwerben. Der Bezirkshauptmann von Judenburg kam selber nach Seckau, um die feierliche Eidesleistung entgegenzunehmen. Mit Freuden schwuren wir dem edlen Monarchen Treue, der in schwerer Zeit sich als hervorragender Wohltäter unserer Kongregation erwiesen hatte. Als wir später nach Deutschland zurückkehren durften, wurde uns das preußische Staatsbürgerrecht zurückgegeben, ohne daß wir auf das österreichische verzichten mußten. So habe ich mich zeitlebens auch als Österreicher gefühlt.

Die Zeit, die mir meine pflichtmäßigen Arbeiten übrig ließen, verwendete ich zum Studium des Römerbriefes. Schon in Emaus hatte ich dieses Studium begonnen. Zweimal wöchentlich konnte ich den Mitbrüdern von den Früchten dieser Arbeit mitteilen. Während meines Aufenthaltes in Seckau vollendete ich einen ausführlichen Kommentar zu diesem Briefe, der zwar für die Öffentlichkeit nie reif wurde, mir aber doch großen Nutzen brachte.

Ich wurde auf diese Weise eingeführt in die großen Gedanken des Weltapostels und lernte seine Briefe immer mehr schätzen und lieben. Später wählte ich sie zum Gegenstande der täglichen Betrachtung und habe das mit Unterbrechung bis heute fortgesetzt. Ich bedaure es mit dem heiligen Chrysostomus, daß auch unter den Priestern so wenige dieses Werkzeug des heiligen Geistes hinreichend kennen und nach Gebühr würdigen. Die verschiedensten [55] Betrachtungsbücher werden zu Hilfe genommen, und das gehaltvollste, schönste und tiefste, die Briefe des heiligen Paulus, läßt man fast unbenutzt. Die Schwierigkeit des Verständnisses kann nicht als Entschuldigung gelten; die Kenntnis der dogmatischen Theologie nebst einem kurzen Kommentar genügen, um aus den reichen Schätzen der Erleuchtung, Erbauung und Tröstung zu schöpfen, die der Geist Gottes in diesen apostolischen Schreiben für uns niedergelegt hat. Von kaum einem anderen Buche der heiligen Schrift, die Evangelien ausgenommen, gilt in dem Maße das Wort des Völkerapostels, als von seinen eigenen Briefen: »Alles was geschrieben ist, ist zu unserer Belehrung geschrieben, damit wir durch Geduld und Trost aus der Schrift Hoffnung haben« (Röm. 15, 14).

Daneben beschäftigte ich mich damals eingehend mit den Schriften des heiligen Johannes vom Kreuz. Ich war erstaunt über die Klarheit und überzeugende Wahrheit der Darlegungen dieses großen Heiligen. Die christliche Grundlehre von der inneren Abtötung und Selbstverleugnung trägt kaum jemand so lichtvoll und überzeugend vor, wie er. Seine »Geistlichen Regeln und Denksprüche« sind Perlen himmlischer Weisheit, die man sich nicht sorgsam genug zu eigen machen kann. Die Schrift »Unterricht und Warnungen auf dem Weg zur Vollkommenheit« faßt auf wenigen Seiten die Lehre von der christlichen Vollkommenheit im Ordensstande in eindrucksvoller Weise zusammen; sie ist mir vom größten Nutzen gewesen. Auch auf die Höhen mystischer Beschauung folgte ich dem gotterleuchteten Führer gerne. Wohl blieb mir sehr vieles unverständlich, trotzdem hatte die Betrachtung dieser Dinge für mich einen eigentümlichen Reiz; sie gab mir gleichsam eine Ahnung von den großen und geheimnisvollen Wirkungen Gottes in den auserwählten Seelen; dieses Wirken auch nur von weitem und in dunkeln Umrissen zu schauen, ist ein hoher Genuß für die Seele. Daß es sich dabei nicht um ein unfruchtbares Schwelgen in geistigen Freuden handelte, zeigten die wirksamen Anregungen zur Liebe und Treue gegen Gott, die mir diese Betrachtungen gewährten.

[56] Unter den Übungen der Frömmigkeit sagte mir besonders der Wandel in der Gegenwart Gottes zu. »Cum Deo ambulare« (Mit Gott wandeln) wie die Heilige Schrift (1 Mos. 17, 1) so schön sagt, das schien auch meiner Schwäche nicht zu schwer; es legt keine Last auf, erleichtert vielmehr den Dienst des Herrn; es belebt das mündliche Gebet, befruchtet die Arbeit, erfreut das Herz. In dieser Uebung ruht die Seele bei Gott, verkehrt ungezwungen mit ihm, wird sich so recht bewußt, daß wir »in Gott leben, uns bewegen und sind« (Apg. 17, 28).

Gewiß habe ich diese so heilsame Uebung nicht mit der Treue gepflegt, wie ich es hätte sollen. Gleichwohl hat sie mir reichen Segen gebracht und mein Leben mit Freude erfüllt. Denn jeder, der dies versuchen will, erfährt, daß »der Umgang mit der ewigen Weisheit nichts Bitteres und ihre Gesellschaft nichts Widriges hat, sondern Frohsinn und Freude bringt« (Weish. 8, 16). Im Verkehr mit Gott ist man stets in der besten Gesellschaft; das Gefühl der Vereinsamung ist unbekannt, auch im einsamen Leben.

Wie sehr ich übrigens der Nachsicht Gottes bedurfte und wie liebevoll seine väterliche Güte meiner Schwäche zu Hilfe kam, das beweist folgendes Vorkommnis. Das klösterliche Leben nahm unter Arbeit und Gebet seinen stillen, ungestörten Verlauf. Allerdings für den jungen und unerfahrenen Prior gab es oft Sorgen, die ihn sein Amt als eine nicht leichte Bürde empfinden ließen.

Eines Tages machte der Gedanke auf mich tiefen Eindruck, daß diese zerstreuenden Sorgen für meine Seele ein großes Hindernis seien, die innere Sammlung zu bewahren und in der Vollkommen­heit fortzuschreiten. Ich fragte mich, ob es nicht besser sei, einen strengeren Orden zu wählen, in dem ich in größerer Zurückgezogenheit und Sammlung Gott vollkommener dienen und mein Seelenheil leichter wirken könnte. Ich fühlte wohl, daß ich in Wirklichkeit damit dem Willen Gottes nicht entspreche und nur einem versteckten Egoismus diene; aber der Versucher hatte schon zu sehr Boden gewonnen.

[57] Meine Obern, denen ich von dem, was in mir vorging, Mitteilung machte, rieten in väterlicher Weise ab; allein ich bildete mir ein, ihnen hierin nicht folgen zu sollen, da ihr Urteil befangen sei und die Kirche den Übertritt in einen strengeren Orden auch ohne Zustimmung der Obern gestattet.

Als so ein folgenschwerer Mißgriff zu befürchten war, kam der Herr mir zu Hilfe und sandte mir seinen Engel in der Person eines aus fernen Landen kommenden Bischofs.

Damals klopfte ein Benediktiner-Missionär, P. Jordan, an unsere Klosterpforte und bat um Gastfreundschaft. Dieselbe wurde ihm gerne gewährt. Der Gast erbaute uns durch seine Bescheidenheit und erfreute uns durch seine interessanten Mitteilungen. Doch bald machte man mich aufmerksam, es müsse mit unserem Gaste eine besondere Bewandtnis haben; einer der Unsrigen wollte ihn schon in Monte Cassino gesehen haben und zwar mit einem Bischofskreuz. Wir forschten im kirchlichen Jahrbuch nach und fanden, daß P. Jordan, unser Gast, niemand anders sein könne als Bischof Jordan Ballsieper O.S.B., Apostolischer Vikar von Dakka in Ostindien. Sogleich begab ich mich zu ihm, und als ich ihm unsere Vermutung mitteilte, sagte er betrübt: »Also bin ich doch entdeckt!«

Für mich war diese Entdeckung eine große Gnade. Ich fühlte großes Vertrauen zu diesem ehrwürdigen Missionsbischof und teilte ihm offen die Schwierigkeiten mit, in denen ich mich befand. Natürlich riet er mir, an keine Änderung zu denken, sondern auszuharren auf dem Posten, den Gott mir angewiesen habe. Er teilte mir Beispiele mit aus seiner reichen Erfahrung und beruhigte mich vollständig. Es war wieder Licht geworden in meinem Geiste. Die Versuchung war gänzlich gewichen. Große Freude erfüllte mein Herz und innige Dankbarkeit gegen Gott, der einen Bischof aus dem fernen Indien in unser weltentlegenes Kloster geschickt hatte, um mir in schwieriger Lage zu helfen. Auch dem edlen Bischofe bewahre ich zeitlebens das dankbarste Andenken. Von Seckau begab sich Bischof Ballsieper nach Maria Einsiedeln. Nach Indien ist er nicht [58] mehr zurückgekehrt, da seine Gesundheit unter dem tropischen Klima zu sehr gelitten hatte. Er wurde zum Generalabt seiner Kongregation, von Subiako, gewählt und starb einige Jahre darauf[1]. Gott lohne ihm die große Liebe, die er mir erwiesen hat.

Im Jahre 1886 traf unser Kloster eine schwere Heimsuchung. Einer der beiden mächtigen Türme der Kirche war in seinen Fundamenten morsch geworden und verursachte ernste Sorgen. Wenn er einstürzt, welchen Schaden wird er anrichten? wie wird er fallen? auf die Kirche? Unser Architekt, P. Ephrem Entreß († in Beuron am 3. Juni 1888) hatte eine einfache, aber sinnige Vorrichtung auf dem anderen Turme angebracht, wodurch die Bewegung des bedrohten genau angegeben wurde. Diese war so bedeutend, daß wir es für nötig hielten, die Regierung davon zu benachrichtigen. Man sandte eine Kommission zur Prüfung der Sachlage, die sich dahin äußerte, daß der Turm noch hundert Jahre stehen könne. Allein der Turm nahm keine Rücksicht auf die Entscheidung der Kommission. Kaum drei Tage später erklärte uns P. Ephrem in der Abendrekreation, der Turm könne am folgenden Tage zum Sturze kommen.

Als wir am anderen Morgen Matutin und Laudes gebetet hatten, sagte mir P. Ephrem, wegen der drohenden Gefahr sei es unmöglich, in der Kirche die heilige Messe zu lesen. Auf meine Frage, wie lange es noch währen könne bis zum Eintritt der Katastrophe, antwortete er: »Etwa eine halbe Stunde«! Ich begab mich in die Hauskapelle und las dort die heilige Messe. Beim Paternoster vernahm ich ein starkes Knistern, dann einen dumpfen Krach, – der Turm lag am Boden. Als ich nach der Danksagung mich an Ort und Stelle begab, sah ich [59] die mächtige Helmkuppel des Turmes in das eingedrückte Dach des anstoßenden Klosterflügels gebettet, die große Masse des Mauerwerks war in den Hof gefallen, – die Kirche war ganz unbeschädigt geblieben. Als ich ankam, waren schon Arbeiter damit beschäftigt, die Schuttmassen wegzuräumen. Darunter lagen die Glocken be­graben. Wird die herrliche St. Annaglocke unversehrt geblieben sein? Das war die bange Frage, die sich uns aufdrängte. Nach stundenlanger Arbeit drang man bis zu den Glocken vor. Zum Glück waren sie durch die starken Stämme des Glockenstuhles geschützt worden und so unverletzt geblieben. Auch die St. Annaglocke war mit einer ganz unbedeutenden Beschädigung davongekommen. So konnten wir bei allem Unglück noch froh sein und Gott danken, daß er uns vor Schlimmerem bewahrt hatte.

Im Sommer desselben Jahres besuchte uns, von Rom kommend, Abt Plazidus von Maredsous. Er meinte, der noch stehende Turm sei auch nicht mehr solid. Wir wiesen eine solche Befürchtung weit von uns. Allein sie sollte nur zu begründet sein. Einige Monate später verfügte die Regierung den Abbruch des zweiten Turmes. Die Ausführung der Vorschrift, den Turm zu diesem Zwecke einzurüsten, wäre kostspielig und bei der vorgerückten Jahreszeit nicht ungefährlich gewesen. P. Ephrem wußte sich zu helfen; er brach den Turm von innen ab und erledigte sich der schwierigen Aufgabe in kurzer Zeit ohne den geringsten Unfall. Jetzt lagen beide Türme darnieder; sie mußten wieder aufgebaut werden. Aber woher die Mittel nehmen? Das war das Geheimnis der Vorsehung. Zunächst handelte es sich darum, einen Plan anfertigen zu lassen, der die Genehmigung der Regierung finden würde. Ich reiste zu diesem Zweck nach Wien, um mich mit dem berühmten Dombaumeister Freiherrn von Schmidt, ins Benehmen zu setzen. Genannter Herr, Erbauer mehrerer Kirchen und Dombaumeister des Stephansdomes, († 23. Januar 1891), bewies uns großes Wohlwollen und hat auch später die schönen Pläne entworfen, nach denen die Türme wieder aufgebaut worden sind.

[60] Ich fand in Wien gastliche Aufnahme bei den Benediktinern zu den Schotten und hatte das Glück, die heilige Messe in dem in eine Kapelle umgewandelten Zimmer zu lesen, in welchem dem heiligen Stanislaus Kostka in schwerer Krankheit von Engelshand die heilige Kommunion gereicht worden war. Ich wurde auch von Kaiser Franz Josef I. in Audienz empfangen. Derselbe hatte den bisher der Beuroner Kongregation erwiesenen Wohltaten eine neue hinzugefügt, und mit Rücksicht auf die Habsburgergruft in der Kirche zu Seckau eine Summe zur Restaurierung des Gotteshauses gespendet. Für diesen Hulderweis wollte ich danken. Damals gab der Kaiser jeden Donnerstag Audienz. In dem weiten Vorsaale drängten sich, neben den Herren in bürgerlicher Kleidung, die Offiziere in ihren bunten Uniformen und geistliche Würdenträger in ihren Festgewändern – ­ein malerischer Anblick. Der Kaiser empfing mich sehr gnädig, nahm meinen Dank gütig entgegen und sprach mit großer Anerkennung von Abt Maurus Wolter.

Inzwischen hatte die Hitze des Kulturkampfes in Preußen nachgelassen; der Weg zum Frieden wurde gefunden, und die Hoffnung, nach Beuron ins teure Mutterkloster zurückkehren zu können, sollte sich verwirklichen. Abt, oder vielmehr Erzabt Maurus, – diesen Titel führte er seit der endgültigen Bestätigung der Konstitutionen durch den apostolischen Stuhl im Jahre 1884, – hatte be­reits im Jahre 1885 auf die Abtei Emaus in Prag verzichtet und ihr in der Person des bisherigen Priors P. Benedikt Sauter († 7. Juni 1908) einen eigenen Abt gegeben.

Jetzt war es an der Zeit, auch das Kloster Seckau selbständig zu machen. Erzabt Maurus ernannte den Cellerar des Klosters Emaus, P. Ildefons Schober, zu seinem ersten Abte. Am 3. Juli, dem Feste des kostbaren Blutes, fand in der Kirche zu Seckau die feierliche Abtsweihe statt, die Fürstbischof Johannes Zwerger unter Assistenz des Abtes Benedikt von Emaus und des infulierten Dompropstes [61] Winterer von Graz vollzog. Die Festpredigt, die ich bei dieser Gelegenheit hielt, hatte zum Text Isaias 66, 10: »Freuet euch mit Jerusalem und frohlocket in ihm ihr alle, die ihr es liebet.«

Das Wappen des neuen Abtes zeigte zwei Türme und den Wahlspruch: »Funda nos in pace« (Gründe uns in Frieden); damit sollte auf die Aufgabe hingewiesen werden, neben dem geistigen Aufbau der Klostergemeinde auch die gesunkenen Türme wieder aufzurichten. Er ist seiner Aufgabe gerecht geworden. Schon im Jahre 1891, als ich Seckau wiedersah, prangten vor der Kirche zwei stattliche Türme in echt romanischen Formen, durchaus würdig des ehrwürdigen Bauwerkes.

Für mich hatte die Stunde des Abschieds geschlagen. Ich war zum Prior des Mutterklosters ernannt worden und sollte sogleich dahin abreisen. So schied ich denn vom lieben Seckau mit innigem Danke gegen Gott für den gnädigen Beistand und alle die Wohltaten, die er mir daselbst hatte zuteil werden lassen.


  1. Geboren am 28. November 1835 zu Beyenburg bei Elberfeld, erhielt er am 30. Mai 1858 zu Subiako das Gewand des heiligen Benedikt. Von 1876–1878 Provisitator der belgischen Provinz, wurde er 1878 zum Apostolischen Vikar von Ostbengalen ernannt. 1887 wurde er von seinem Amte auf inständige Bitten enthoben, aber 1888 zum Generalabt gewählt. Er starb in Subiako am 1. März 1890.