Zum Inhalt springen

Erinnerungen aus dem letzten Kriege/13. Die Kirche von Argenteuil

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: v. Sz.
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Erinnerungen aus dem letzten Kriege/13. Die Kirche von Argenteuil
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 44, 45, S. 716–720, 729–731
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1873
Verlag: Verlag von Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[716]
Erinnerungen aus dem letzten Kriege.
Nr. 13. Die Kirche von Argenteuil.

„Die Franzosen sind heute wieder ganz des Teufels,“ meinte mein Corporalschaftsführer, indem er sich niederwarf, um nicht von den herumfliegenden Granatsplittern getroffen zu werden. „Sowie die Zeit der Ablösung kommt, beginnen sie zu knallen, als ob’s zum Sturm losgehen sollte.“

„Wie die Kerle im Dunkeln nur so genau zielen können! Die Schanze ist ganz neu und bei Nacht aufgeworfen, und selbst Spione können kaum etwas von ihr wissen.“

„Spione kommen auch nicht so bald hinein. Aber sie können bei Tage einen Posten bemerkt und so etwas gewittert haben. Das ist nicht so seltsam, als daß sie genau die Ablösungsstunde kennen, obwohl sie doch fast täglich geändert wird.“ Ich hatte mich wieder erhoben und wollte eben einen Schluck aus meiner Feldflasche thun, als eine Granate vor der Brustwehr einschlug und ein Splitter, die Flasche zerschmetternd, mir am Kopfe vorbeisauste. Donnerwetter! Das war doch ein wenig überraschend. Der Kopf brummte mir ordentlich von dem Geräusche, welches das Eisenstückchen gemacht hatte. Und meine schöne Flasche! Nun konnte ich mir eine große Literflasche um den Hals hängen, wenn ich einen Schluck Cognac auf Vorposten mitnehmen wollte.

„Sprich doch einmal mit dem alten Jean!“ meinte ein [717] Camerad. „Der wird Dir wohl eine neue Flasche besorgen können, wenn es auch nur eine blecherne französische ist.“

„Oder auch seine Nichte!“ tröstete spöttisch ein Anderer. „Die giebt Dir doch sicher eine Flasche, wenn sie eine hat.“

„Wer den Schaden hat, braucht, für den Spott nicht zu sorgen,“ dachte ich und grübelte im Stillen über die Möglichkeit nach, zu einer neuen „Schluckpulle“ – wie die technische Bezeichnung lautet – zu kommen.

Bald darauf kam die Ablösung; die neuen Posten zogen auf, die alten wurden abgelöst, und wir trollten uns fröhlichen Herzens, aber so vorsichtig wie möglich nach Hause. „Nach Hause“, das heißt nach dem hinter der Vorpostenkette liegenden Flecken Argenteuil, wo wir zum Entsetzen aller noch vorhandenen Einwohner Cantonnements bezogen hatten. Das Entsetzen bezog sich eigentlich nur auf den Umstand, daß wir auf die französischen Granaten bedeutende Anziehungskraft ausübten und so auch die guten Einwohner gefährdeten; sonst war es ihnen durchaus nicht unlieb, daß wir da waren. Die Leute, die etwas zu verlieren hatten – an ihrer Spitze der Pfarrer – hatten ihre Schätze aufgepackt und waren vor den verfluchten Preußen oder, wie sie sich ausdrückten, den maudits Prussiens ausgerückt. Was sie nicht fortschleppen konnten, brachten sie in die Keller zu ihren Weinfässern, mauerten die Eingänge zu und dachten, nun wäre Alles gut, die dummen Preußen würden nichts finden.

Dem war nicht so; wir fanden eine große Menge; aber schon vor uns hatten die zurückgebliebenen Leute, welche nichts zu verlieren hatten, viel mehr gefunden. Sie nahmen von den leeren Häusern Besitz, eigneten sich an, was sie fanden, und eröffneten mittelst der vermauerten Weinschätze einen einträglichen Handel mit den Preußen, denen gegenüber sie nun wieder auf die verfluchten Reichen schimpften, die an allem Unglücke schuld seien. „Ah! quel malheur pour nous, pour vous, pour tout le monde!“ – das war der Stoßseufzer, der alle Reden schloß und alle Herzen tröstete durch das Bewußtsein, daß die ganze Welt mit Frankreich zu leiden hätte. Im Uebrigen ließ es sie ziemlich kalt, wenn wir in den Häusern, die wir bewohnten, so viel wie möglich Hausgeräth aus allen unbewohnten Häusern zusammenschleppten, wenn wir alle Kellerwände zerklopften, um Wein zu finden, wenn wir die Dachsparren herauszogen oder die Treppen zu den obersten Stockwerken abtrugen, weil wir kein Brennholz hatten. Nur sehr Wenige trieben ihren Patriotismus so weit, daß sie nichts mit uns zu thun haben wollten; die Mehrzahl war vergnügt, mit uns Geschäfte machen zu können, und das genügte uns auch.

Unter dieser Mehrzahl war auch ein Belforter, der ziemlich geläufig Deutsch sprach und bei den Soldaten sich bald sehr beliebt gemacht hatte; er tauschte ihnen für Reis und Erbswurst Kartoffeln und Wein ein und schenkte ihnen zuweilen Kleinigkeiten, die er sich nachher theuer bezahlen ließ; kurz, der alte Jean wurde allgemein „Landsmann“ genannt und als solcher behandelt. Er war Allerweltscommissar, aber eigentlich Kirchendiener und bewohnte ein kleines Haus in der Nähe der Kirche als Amtswohnung. Einige Zeit, nachdem wir seine Bekanntschaft gemacht hatten, eröffnete er – da er als Kirchendiener augenblicklich nichts zu thun hatte – eine Weinstube und zapfte nun lustig aus drei verschiedenen Kellern, die er mit der schützenden Inschrift „Jean sein Keller“ versehen hatte.

Zog Jean’s billiger Wein und seine Stellung als „Landsmann“ die Soldaten in seine Kneipe, so that es noch mehr seine Nichte Désirée, eine blonde Schönheit von ganz deutschem Typus. Sie machte die Honneurs als Wirthin und bezauberte Alle gleichmäßig durch ihr freundliches und anstandsvolles Benehmen, wie durch ihre Schönheit und ihre allerliebste deutsch-französische Mundart.

Selbstverständlich war in dieser freuden- und frauenarmen Zeit ein jedes Exemplar des weiblichen Geschlechts Gegenstand allseitiger zartester Bewerbungen; ja sogar unserer siebenundvierzigjährigen, vertrockneten Marketendermatrone soll es nicht an Bewunderern gefehlt haben. Natürlich war also ein hübsches, junges Mädchen, wie Désirée, das Licht, um das alle militärischen Schmetterlinge herumflatterten und ich mitten unter ihnen. Ich that, wie alle Anderen, mein Möglichstes, um ihren Augen zu gefallen, und der Zufall begünstigte mich mehr als die Anderen. Ich hatte nämlich einmal Gelegenheit, ihr einen kleinen Dienst zu erweisen, indem ich ein paar betrunkene Franzosen, die sehr unartig wurden, verjagte; seitdem zeigte Désirée mir eine gewisse Zutraulichkeit, die mich zum Gegenstand des Neides für meine Cameraden machte. Sie erzählte mir von ihren Schicksalen, klagte über ihre Lage, in der sie so viel Unfreundlichkeit von ihrem Onkel ertragen mußte, weil sie mittellos und von seiner Gnade abhängig war, und fragte mich dann wohl naiv, ob sie es bei den Prussiens besser haben würde, wenn sie mit uns nach Berlin käme. Sie wollte ganz gern eine Deutsche werden; denn ihre gute verstorbene Mutter hatte nur deutsch gesprochen und so schöne deutsche Lieder und Märchen gewußt. Erst allmählich hatte ihre Mutter sich daran gewöhnt, auch französisch zu sprechen; ihre Désirée hatte aber auch deutsch lernen müssen. Nun waren Vater und Mutter todt. Vermögen hatten sie nicht hinterlassen, und der Onkel Jean hatte die kleine Nichte nach Argenteuil geholt, damit sie ihm die Wirthschaft führe. Er war eigentlich immer mürrisch und unfreundlich gewesen, war geizig und warf dem armen Mädchen jeden Bissen vor, den er ihr gab; ganz schlimm war es aber mit ihm geworden, als der deutsch-französische Krieg ausgebrochen war und die Gloire der Franzosen völlig über den Haufen geworfen hatte. Wenn Désirée nun einmal deutsch mit ihm sprach oder ein deutsches Liedchen summte, schalt er sie „Prussienne“ und beschuldigte sie, daß sie die Feinde lieber sähe als ihre Landsleute.

„Was können aber die armen Soldaten dafür, daß jetzt Krieg ist? Soll ich sie deswegen hassen? Sie thun mir nichts Böses; ich will es ihnen auch nicht thun,“ meinte Désirée.

Ich tröstete sie, indem ich ihr eine bessere Zukunft in Deutschland ausmalte; genug, wir schwatzten gar vertraulich miteinander, und ich hatte mich schließlich so an das Mädchen und ihr naives Geplauder gewöhnt, daß ich jeden freien Augenblick benutzte, um sie zu sehen.

Jean beobachtete mich wohl mißtrauisch, sagte aber nichts weiter in meiner Gegenwart. Im Geheimen schien er jedoch seiner Nichte Lectionen zu geben; denn sie war, so lange er anwesend, scheu und zurückhaltend gegen mich und athmete erst frei auf, wenn er nicht mehr zugegen war und wir unbeobachtet plaudern konnten. Mochten Désirée’s Worte oder das ganze Wesen Jean’s der Grund sein, ich fühlte gegen den Alten einen geheimen Argwohn. Trotz seines Entgegenkommens mußte ich ihn immer unwillkürlich beobachten, als ob ich ihn einmal auf einer verrätherischen Handlung ertappen würde.

Am Tage nach dem Verlust meiner Feldflasche ging ich, da wir keinen Dienst hatten, zu Jean’s Budike, um einen Frühschoppen zu trinken und mich zugleich zu erkundigen, ob er vielleicht eine alte französische Feldflasche für mich habe. Ich traf Désirée allein an. Sie brachte mir Wein, setzte sich zu mir, und ich erzählte ihr nun mein Erlebniß von gestern. Die Gefahr, in der ich geschwebt hatte, ließ sie erbleichen; ich fühlte mich geschmeichelt und gerührt durch ihre Theilnahme, und wir waren im besten Zuge, einander Geständnisse zu machen. Da fuhr Désirée plötzlich erschreckt auf. Jean und der Vicar traten in die Thür, ohne uns zu bemerken; ich hörte blos noch die Worte: „Auf Wiedersehen heute Abend!“ Dann machte der Vicar Kehrt, und Jean trat ein. Er schien unsere Verwirrung wohl zu bemerken, gab es aber nicht zu erkennen, sondern begrüßte mich in seiner gewöhnlichen übertrieben herzlichen Weise als „Landsmann“, erzählte mir sofort, daß der „Paffen“, damit meinte er den Vicar, auf die in seinem Hause wohnenden Soldaten sehr böse wäre, weil sie ihm den Wein austränken, und fragte, ob ich etwa auch einen Weinkeller gefunden hätte, da ich doch schon seit zwei Tagen nicht bei ihm gewesen wäre.

„Das eben nicht; aber wir waren auf Vorposten.“

„So? habt Ihr dort auch Wein? Wo steht Ihr denn jetzt? Ich werde hinkommen, um Wein zu bringen,“ meinte er lachend; „dann wird man mich wohl passiren lassen.“

Mochten diese Worte noch so unschuldig sein, sie weckten doch das in mir schlummernde Mißtrauen, und da ich überhaupt ärgerlich war über sein störendes Erscheinen, so entgegnete ich kurz:

„Nun, ich würde Euch sicher nicht durchlassen. – Ich wollte Euch nur fragen, ob Ihr mir vielleicht eine Feldflasche verkaufen könnt? Das ist der Zweck meines Hierseins.“

[718] „Naturellement! Ihr seid mein Freund! Nicht wahr? Ich habe gerade noch eine, die mir schon viele deutsche Landsleute abkaufen wollten; ich hätte sie nicht fortgegeben für den doppelten Preis; aber –“

Damit eilte er hinaus, um die Flasche zu holen. – Désirée hatte inzwischen still in einer Ecke gesessen und zugehört; als ihr Onkel mich seinen Freund nannte, zuckte sie verächtlich mit den Schultern. Nun schien sie mit irgend einem Entschluß zu kämpfen; sie sah mich an, als ob sie etwas sagen wollte, schwieg aber, so daß ich endlich fragte, was sie auf dem Herzen hätte.

„Nichts“ – stammelte sie – „aber es verdrießt mich –“ Sie hörte ihren Onkel wiederkommen. „Gebt auf die Kirche Acht!“ flüsterte sie leise, aber entschlossen.

„Auf die Kirche?“ wiederholte ich erstaunt.

„Was ist mit der Kirche? Was hast Du gesagt, Désirée?“ fragte Jean, der in diesem Augenblick wieder eintrat. Er sah sie dabei forschend an.

„Ich fragte nur Herrn Frédéric, ob er morgen in die Kirche gehen werde,“ entgegnete Désirée schnell gefaßt. Damit eilte sie hinaus und ließ mich erstaunt sitzen. Auf die Kirche sollte ich Acht geben? Warum durfte der Onkel nichts davon wissen?

„So, so!“ fuhr Jean fort. „Was geht das das Mädchen an? Diese Frauenzimmer! Und sie thun so fromm. Aber fragte sie wirklich danach?“

„Ihr habt es ja gehört!“ entgegnete ich kurz. „Was wollt Ihr für Eure Flasche haben?“

Wir wurden Handels einig, und nachdem ich noch eine Weile gewartet hatte, ob Désirée vielleicht wiederkäme, ging ich nach Hause, indem ich mir über ihre räthselhaften Worte den Kopf zerbrach. Wollte sie mich aufmerksam machen auf eine Gefahr, die mir drohte? Aber wie sollte die durch die Kirche entstehen? Vielleicht waren dort Minen angelegt oder Waffen versteckt. Etwas uns Allen Gefährliches mußte dort jedenfalls vorhanden sein; denn auf mich allein konnte sich die Gefahr nicht beziehen. Und daß sie dem alten Jean ihre Worte verheimlichte, war noch ein Moment mehr für meine Annahme; er war eher fähig, uns einen Streich zu spielen, als uns vor einer Gefahr zu warnen.

Diese Gedanken ließen mir keine Ruhe; ich mußte mir Nachmittags die Kirche ansehen. Sie stand mitten im Flecken auf einem freien Platz, auf den die meisten Straßen ausliefen. Der entflohene Pfarrer von Argenteuil wurde als der fromme Gottesmann gerühmt, dem man die Vollendung der neuen Kirche verdankte. Sie schloß nach höchst glaubwürdigen Attesten und Documenten eine sehr wunderthätige Reliquie in sich, nämlich den unnähtigen Rock Jesu Christi, und zwar sollte dieser Rock zum Unterschied von dem Rock zu Trier wirklich echt sein. Ich überlasse die Entscheidung über diese bekannte Streitfrage den Sachverständigen. So viel aber steht fest, daß der Rock in unserer Anwesenheit keine Wunder that, sich also offenbar vor den Prussiens gerettet hatte. Mit ihm war auch Alles aus der Kirche verschwunden, was irgendwie von Werth war; ein einziges großes Wandgemälde war da geblieben, auf welchem Karl der Große das Kästchen mit dem Rock, das er von Rom geholt hatte, den Nonnen des Klosters zu Argenteuil übergab. Sonst war die Kirche kahl und leer, und ich konnte auch nicht das geringste Bemerkenswerthe finden.

Ich kletterte auf den Thurm, dessen Thür zufällig offen stand. Die Treppen waren mit Schutt und Steinen bedeckt, da eine Granate mitten durch den Thurm gefahren war. Die Löcher, die sie gemacht hatte, dienten mir als Gucklöcher. Unter mir lag das ganze kriegerische Panorama; drüben sah ich die Franzosen, die höchst ungenirt zwischen ihren Schützengräben und den dahinter liegenden freistehenden Häusern, welche als Wachlocale für die Soutiens dienten, hin und her liefen. Sie wußten ja, daß wir auf so unsichere Zielpunkte nicht schießen durften. Auf dieser Seite, halb versteckt durch die am Ufer der Seine sich hinziehenden Baumpflanzungen, waren unsere Stellungen. Nur hin und wieder war ein Posten so leichtsinnig, den Kopf über die Böschung zu heben, um den Rothhosen Gelegenheit zu bieten, sich um ein paar Patronen zu erleichtern. Sonst setzte sich Keiner unnützer Gefahr aus; man beschäftigte sich nützlicher, indem man die Gräben und Brustwehren ausbesserte, die durch das schlechte Wetter leicht schadhaft wurden.

Zwischen beiden Parteien rollte majestätisch die Seine dahin, die gerade hier bei Argenteuil ganz besonders breit und reißend ist. In ihrer Mitte ragten noch die halb zertrümmerten Pfeiler empor; große Stücke des Brückenbogens, den die Franzosen an mehreren Stellen gesprengt hatten, verursachten heftige Strudel und bildeten gefährliche Klippen für Jeden, der es wagte, die Stelle zu passiren. An der Eisenbahnbrücke, die unterhalb Argenteuil’s in kühnen Bogen den Strom überspannt hatte, war nur der mittelste Pfeiler weggesprengt; die eisernen Bogen, die durch die Schienen zusammengehaltenen Schwellen waren in der Mitte in die Seine hinabgesunken, während die Enden des Schienenweges hoch oben noch auf dem verschont gebliebenen Pfeilern auflagen. Das Ganze gewährte einen romantisch grauenhaften Anblick, in den ich so versunken war, daß ich fast den Zweck vergaß, zu dem ich auf den Thurm gestiegen.

Ich wurde aus meinen Träumen durch das Sausen einer Granate aufgeschreckt, die in gerader Richtung unter mir in die Böschung unserer Schützengräben fuhr. Die Franzosen hatten offenbar bemerkt, daß dort gearbeitet wurde. „Da ist gut zielen,“ dachte ich, „wenn man einen Thurm vor der Nase hat, nach dem man Entfernung und Richtung bemessen kann! Es wäre auch besser, wenn noch ein paar Granaten vom Mont Valerien kämen und den ganzen Thurm mitnähmen!“

Ich kletterte wieder hinunter, da mir einfiel, daß ich den Chor noch nicht besucht hatte. Die Orgel schien vortrefflich gebaut zu sein, und ich beschloß, einmal Jean zu bitten, mir die Bälge zu treten. Während ich noch die verschiedenen Register musterte, ließen sich Schritte auf der Treppe zum Chor hören und die lange hagere Gestalt des Vicars tauchte in Jean’s Begleitung auf. Als der Vicar mich an der Orgel bemerkte, wurde sein gelbes, giftiges Gesicht grün vor Aerger und Schreck; er griff in sein Gewand, als ob er nach einem Dolch faßte, um mich nieder zu stoßen, so daß ich unwillkürlich nach meinem Seitengewehr fühlte.

„Was suchen Sie hier?“ preßte er endlich, sich mühsam fassend, hervor.

„Gar nichts,“ erwiderte ich erstaunt, aber doch mißtrauisch.

„Eh bien –“ meinte er, sich schnell umsehend, und starrte mich erwartungsvoll an. Ich wußte nicht, was ich weiter sagen sollte, grüßte und ging langsam hinunter. – Als ich die Kirche verließ, begann die Orgel zu ertönen.

Das Benehmen des Pfaffen war mir doch räthselhaft. Wie konnte ihn das so sehr alteriren, daß ein Preuße die Orgel besucht hatte, da doch jeden Sonntag Militärgottesdienst in der Kirche abgehalten wurde? Er mußte etwas zu fürchten haben, die Entdeckung irgend einer verdächtigen Sache; wahrscheinlich hatte er mich bei meiner unerwarteten Anwesenheit auf der Orgel für einen Spion gehalten; deshalb war er so heftig erregt gewesen. Es mußte etwas Verdächtiges in der Kirche sein – das bezeugte Désirée’s Warnung, das bestätigte das Benehmen des Vicars. Aber wo fand man einen Anhaltspunkt zur Aufdeckung des Geheimnisses? Ich mußte Désirée noch einmal befragen; vielleicht sagte sie mir Genaueres.

In den folgenden Tagen hatten wir so angestrengten Vorpostendienst, daß ich meine Absicht nicht ausführen konnte.

Inzwischen waren die Weihnachtsfeiertage herangekommen. Die Officiere aller Waffengattungen, die um Argenteuil herumlagen, wollten das Fest durch ein gemeinschaftliches Souper feiern. Zu diesem Zweck war der Speisesaal einer kleinen reizenden Villa ausersehen, welche am Ufer der Seine, völlig zwischen Bäumen versteckt, bisher von Granaten verschont geblieben war. Ueberhaupt wurde dieser Strich fast gar nicht beschossen, weil die Franzosen wußten, daß die vereinzelt liegenden Villen nicht mit Soldaten zu belegen waren, und sie daher ihre Munition sparen zu können glaubten.

Das Souper hatte begonnen; auf der ganzen Vorpostenlinie ließ sich kein Schuß hören, und Jeder war froh bei dem Gedanken, daß man heute einmal ruhig und unbesorgt sich der Geselligkeit und der Erinnerung an die Heimath überlassen könne.

Da plötzlich sauste eine Granate durch die Baumgipfel des Parks über das Haus hinweg.

„Haben denn die Franzosen nicht einmal am Feiertag Ruhe?“

[720] „Es ist nur eine kleine Weihnachtsgabe; sie werden wohl nicht zu viel schenken!“

Eine zweite schlug auf dem Kiesweg vor der Saalthür nieder. Ein Pferd, durch das Krachen scheu gemacht, hatte sich losgerissen. Der Officierbursche suchte es zu beruhigen, indem er es hin- und herführte. Eine Granate riß ihm den Kopf weg, fuhr in das Kellergeschoß und crepirte mit furchtbarem Getöse.

Nun begann in Folge des Niederbrechens der Baumäste und des Crepirens der Granaten, die zahlreich wie Hagelkörner geflogen kanten, ein so heftiges Krachen und Sausen, daß es doch an der Zeit schien, das Haus zu verlassen, obwohl bis jetzt wunderbarer Weise noch keine Granate so recht das Haus getroffen hatte; offenbar aber hegten die Franzosen die löbliche Absicht, Alles in diesem Geschützkreise in Grund und Boden zu schießen.

Wir waren Alle aus unseren Quartieren und von unseren bescheidenen Weihnachtsfreuden aufgescheucht worden, und als nun die Officiere und hinter ihnen die Burschen mit dem kopflosen Körper des Getödteten ankamen, und wir von ihnen das Nähere hörten, konnten wir nicht zweifelhaft sein, daß die Franzosen sowohl von dem Ort wie der Zeit des Soupers Kenntniß gehabt und womöglich alle Officiere mit einem Schlage zu vernichten beabsichtigt hatten.

„Ein schönes Feiertagsessen!“ meinte Einer. „Das wird Allen eine angenehme Erinnerung für die Weihnachtsfeiertage des nächsten Jahres sein. Ich will doch im nächsten Jahre, wenn wir wieder zu Hause sind, um dieselbe Zeit einen gehörigen Schluck auf mein Wohl trinken. Wie spät ist es? Ich habe meine Uhr im Quartier vergessen.“

„Sieh’ doch nach der Thurmuhr! Es ist freilich schon etwas finster, aber ein Soldatenauge ist scharf und dringt durch Nacht und Nebel,“ meinte ein Anderer im Scherz.

Obwohl wir Alle wußten, daß die Uhr nicht mehr ging, seitdem die Granate durch den Thurm gefahren war, sahen wir doch unwillkürlich nach oben – aber was war das?

Ein Licht an einem der Schalllöcher! Es mußte weithin zu bemerken und konnte nichts Anderes sein, als ein Zeichen für die Franzosen. Deswegen hatten sie auch im Dunkeln so gut zielen können. Wer hatte das Licht dort aufgesteckt? Die Kirche wurde um sechs Uhr geschlossen, und später konnte nur ein Kirchenbeamter, der einen Schlüssel hatte, hinein. Also der Vicar oder Jean oder Beide waren die Schuldigen. Vielleicht konnten wir sie noch überraschen. Alles stürmte der Kirche zu, der Hauptmann, den wir unterwegs trafen und auf das Licht aufmerksam machten, voran, um die Verräther zu entdecken.

Das Portal war verschlossen; die Kirche wurde umstellt; aufgeregt und geräuschvoll umwogten die Herbeigeeilten das Gebäude, indem man voller Spannung den Nachrichten entgegensah, welche die in die Häuser des Vicars und Jean’s entsandten Patrouillen bringen würden. Da verschwand das Licht.

„Sie sind noch drinnen!“ jubelten Alle. „Paßt nur auf die Thüren gut auf!“

„Still!“ gebot der Hauptmann.

[729] Die dem Portale Zunächststehenden lauschten; sie vernahmen deutlich eilige Schritte in der Kirche, dann ein Geräusch, als ob ein schwerer Gegenstand fortgerückt würde – und nun war Alles still; fast gleichzeitig hörte das Schießen der Franzosen auf.

Die Patrouillen kamen zurück; die beiden Gesuchten waren nicht zu Hause gefunden, jedoch hatte die Haushälterin des Vicars den Portalschlüssel überliefert. Wie ein wüthender Strom ergoß sich die Menge in die Kirche, um die Verräther zu ergreifen; alle Ausgänge blieben besetzt und eine systematische Treibjagd begann. Wir durchstöberten den Thurm, den Chor, die Sacristei; wir warfen alle Kirchenstühle um, suchten unter dem Altare nach – nichts zu finden! Wir stiegen hinab in die Gewölbe – keine Spur von Menschen! Und doch waren sie dagewesen! Es mußte ein geheimer Ausgang da sein, durch den sie entkommen konnten; wir suchten und klopften an allen Wänden, in allen Ecken; aber umsonst. Wir waren geprellt. Aergerlich standen wir endlich vom Suchen ab; die Thurmthür wurde vernagelt, vor den Ausgängen Posten aufgestellt und die weitere Untersuchung für den nächsten Tag aufgehoben.

Die Menge begann sich eben zu verlaufen, als in höchster Eile und, wie es schien, höchst erstaunt der Vicar und Jean auf dem Platze erschienen, um sich zu erkundigen, was denn vorgefallen wäre. Aber weder des Vicar’s langer Rock, noch Jean’s Stellung als „Landsmann“ verhinderten die Soldaten, Beide sofort zu ergreifen und nach der Commandantur zu begleiten. Unterwegs hielt Jean so feurige Reden über seine Unschuld und über den Undank seiner „Landsleute“, und der Vicar machte ein so gottergebenes, engelreines Gesicht, daß Manchem Zweifel aufstiegen, ob diese Beiden wohl die Attentäter sein könnten. Jedoch tröstete man sich mit dem Gedanken: „Na, es wird ja schon herauskommen!“ und lieferte sie an den Commandanten ab.

Das Verhör, das am nächsten Tage mit den Beiden abgehalten wurde, ergab gar nichts. Der Vicar wies darauf hin, daß man den Schlüssel zum Portal in seiner Abwesenheit gefunden hatte; einen andern Eingang wollte er nicht kennen, ebensowenig konnte er vermuthen, wer in der Kirche gewesen und das Licht auf den Thurm gebracht hatte. Er war mit Jean zusammen ein wenig ausgegangen, um sich mit ihm über dienstliche Angelegenheiten zu besprechen, und hatte erst, als Alles vorbei war, von dem Vorfalle vernommen.

Dieselben Aussagen machte Jean, der noch nebenbei auf seine bekannte Vorliebe für seine „preußischen Landsleute“ hinwies.

Was sollte man machen? Eine Haussuchung oder vielmehr eine Kelleruntersuchung bei den Verdächtigen ergab auch keine weiteren Momente, also mußte man sie laufen lassen. Möglich war es, daß andere Franzosen durch einen geheimen Zugang in die Kirche gelangt waren, wenn auch unwahrscheinlich, daß Vicar und Kirchendiener nichts davon wissen sollten. Da aber nichts herauszubekommen war, mußte man sich darauf beschränken, durch größte Wachsamkeit sich gegen einen ähnlichen Art der Verrätherei zu schützen. Und daß unter uns Spione waren, stand fest; wie konnten sonst die Franzosen genau die Stunde des Soupers und den Ort, wo es stattfinden sollte, wissen? Das Lichtsignal war nur des besseren Zielens wegen aufgesteckt. Das Licht ließ sich nicht wieder sehen; die Franzosen blieben aber andauernd gut unterrichtet von unseren Stellungen, unserer Stärke, unserem neuen Geschützstand; das ließ sich aus allen Operationen ersehen, die sie uns gegenüber ausführten, und die Gefangenen, die wir hin und wieder machten, bestätigten es. Vergebens wurden die Posten verdoppelt und die Wachsamkeit verschärft, so daß keine Maus, geschweige denn ein Boot, unbemerkt zu den Feinden hinüber konnte; die Dinge blieben beim Alten. Ein Regiment wurde abgelöst; von dem neuen ablösenden Regiment kam zunächst nur ein Bataillon nach Argenteuil; die beiden anderen konnten erst nach einigen Tagen eintreffen. Sofort versuchten die Franzosen, über die Seine zu kommen und uns in unseren Stellungen zu überrumpeln; sie wurden glücklicherweise zurückgejagt; daß sie aber auf unsere augenblickliche Schwäche speculirten, erfuhren wir von den Gefangenen. Unsere Officiere und wir mit ihnen waren wüthend; aber Niemand wußte zu helfen.

Ich dachte wohl an Jean, und Désirée’s Worte dienten noch mehr dazu, meinem Argwohn eine bestimmte Richtung zu geben; aber sowie ich gescheut hatte, ihren Namen in die Untersuchung gegen Jean und den Vicar zu ziehen, so mochte ich auch jetzt nicht davon sprechen, daß vielleicht die Nichte behülflich sein könnte, den Onkel zu entlarven. Ich benutzte aber natürlich die erste Gelegenheit, wo ich mit Désirée ungestört sprechen konnte, um ihr zu danken für den Hinweis, den sie mir in guter Absicht gegeben, obwohl ich ihn nicht sofort verstanden hatte.

„Ach,“ entgegnete sie niedergeschlagen, „es war eigentlich recht schlecht von mir, daß ich Ihnen das gesagt habe. Verrathen Sie es nur keinem Andern, ich bitte Sie; man würde mich sonst tödten.“

„Wer denn? Von wem haben Sie denn Derartiges zu fürchten? Aber beruhigen Sie sich! Ich habe es Niemand gesagt und werde es auch Niemand sagen, daß Sie von der Verrätherei und der Kirche gewußt haben. Jetzt ist ja auch Alles vorbei, und es kann Niemand mehr auf den Thurm hinauf.“

[730] „Um Gotteswillen still!“ flüsterte sie ängstlich, sich umsehend. „Wenn es Jemand hörte, daß wir über diese Dinge sprechen, wäre ich verloren.“

„Aber ich begreife nicht – wie kann für Sie Gefahr daraus entstehen, daß Sie mich einmal warnen wollten? Es hat ja Niemand etwas gemerkt.“

„Ach, er hat es ja bemerkt. Er hat mir gedroht, mich zu tödten, wenn ich jemals –“

„Aber wer denn? Wer ist das?“

„Ach Gott, ich habe schon wieder zu viel gesagt. Aber Sie werden mich nicht verrathen, nicht wahr? Es wäre mein Tod, ich weiß es gewiß.“

Ich beruhigte das angstvolle Mädchen, so gut ich konnte; ich hatte genug gehört, um zu wissen, um wen es sich handelte.

„Aber es ist gleichgültig, wie es mir geht,“ sprach sie plötzlich mit einem Gemisch von Angst und entschlossener Zärtlichkeit. „Ich habe es nun einmal gesagt, und wenn wieder solche Gefechte kommen, wie neulich, dann sterbe ich vor Angst. Ich kann es kaum aushalten, wenn ich das Treiben ansehe. Sie wissen es nun einmal; vergessen Sie es nicht, auf die Kirche zu achten – ich wiederhole es.“

Erstaunt hörte ich sie an; also auch jetzt noch liefen die Fäden der Verrätherei in der Kirche zusammen? Doch ich drang vorläufig auf keine weitere Erklärung, sondern brach ab, um von andern Dingen zu sprechen, die einen beruhigenden Eindruck auf das Mädchen machten.

Es war dunkel geworden. Désirée hatte Licht angezündet und bediente die zahlreichen Gäste, die sich einzufinden begannen.

Jean kam nach Hause und warf einen argwöhnischen Blick auf mich und auf Désirée; dann setzte er sich an einen andern Tisch zu einigen Soldaten. Offenbar wollte er mir aus dem Wege gehen. Das hinderte mich jedoch nicht, ihn aufmerksam zu beobachten.

Es war nicht schwer zu bemerken, wie er aus den arglosen Leuten gesprächsweise alle militärischen Neuigkeiten herausholte, ohne daß sie eine Ahnung davon hatten, daß sie ausgeforscht würden. Zuweilen machte er dabei ein so verschmitztes Gesicht, daß ich ihm gern meine Flasche an den Kopf geworfen hätte. Ein Franzose, dem Anschein nach ein Landmann, trat herein, wechselte mit Jean einen Blick des Einverständnisses und wurde von diesem in das Hinterstübchen hineingebeten. Ein bedeutungsvoller Blick, den Désirée forschend auf mich warf, erweckte sofort den Gedanken in mir: Das ist auch ein Spion!

Nach einer Weile kam der Mann wieder heraus; ich stand auf, bezahlte meine Zeche und ging ihm langsam und scheinbar absichtslos nach. Er verschwand in dem Hause des Vicars. Natürlich! Jean und der Vicar waren unzertrennlich, also wußten sie wohl Beide von all’ den Geheimnissen, die uns beunruhigten; wahrscheinlich waren sie die Leiter des ganzen Getriebes, und die Kirche bildete vielleicht den geheimen Versammlungsort, wo die Instructionen ausgetheilt wurden. Wenn man nur den versteckten Zugang gekannt hätte! Ich mußte dahinter kommen, koste es was es wolle; mein Verdacht war durch Désirée’s Benehmen heute fast zur Gewißheit geworden.

Als ich in mein Quartier kam, erzählte einer der Cameraden, der auf Wache gewesen war, daß er heute Nacht, als er vor einem der Seiteneingänge der Kirche Posten stand, drinnen Flüstern und leise Schritte gehört hätte und ein Geräusch, als ob eine Treppe knarre. Auf seine Meldung hatte der wachthabende Unterofficier ein paar Mann in die Kirche hineingeschickt; es war aber nichts zu finden gewesen.

Am nächsten Tage meldete ich mich beim Feldwebel und ersuchte ihn, mir wegen Privatangelegenheiten beim Hauptmann Gehör zu verschaffen. Nachmittags wurde ich zum Hauptmann gerufen.

„Nun, was wünschen Sie?“

„Ich bitte den Herrn Hauptmann um die Erlaubniß, mich heute Nacht in der Kirche aufhalten zu dürfen.“

„Wozu denn das?“

„Weil ich glaube, daß es mir so gelingen wird, herauszubekommen, wer neulich das Licht auf dem Thurme aufgesteckt hat und wer noch jetzt die Franzosen mit Nachrichten über uns versorgt.“

Ich trug alle meine Verdachtsgründe vor, gestützt aus die Wahrnehmungen, die ich und die der Posten in voriger Nacht gemacht hatte, und auf die Warnung Désirée’s, die ich nicht verschwieg.

„Wenn ich vor Dunkelwerden mich in der Kirche verstecke,“ so schloß ich, „dann werde ich doch wenigstens sehen, auf welchem Wege die geheimnißvollen Besucher hineinkommen, und darauf hin macht man vielleicht noch andere Entdeckungen.“

Der Hauptmann, nachdem er ein Weilchen überlegt hatte, bestellte mich um sechs Uhr auf die place de l’église, dort sollte ich ihn erwarten.

Der Abend kam, und ich machte mich auf den Weg, gegen die Kälte durch den Mantel, gegen etwaige Gefahren durch einen sechsläufigen Revolver gesichert. Der Hauptmann erwartete mich bereits und theilte mir mit, daß das Portal während dieser Nacht nicht verschlossen sein werde, und daß der Doppelposten vor demselben, sowie eine die Kirche umgehende Patrouille den Befehl hätte, sobald sich ein Geräusch in der Kirche hören ließ, in dieselbe einzudringen, um mir nöthigenfalls Hülfe leisten zu können. Im Uebrigen wünschte er mir viel Glück und Erfolg und übergab mich dann dem Unterofficier, der mich durch die Posten hindurch in die Kirche geleiten sollte.

Das Portal schloß sich leise hinter mir, und ich stand nun allein in dem dunkeln Raum, der mir geheimnißvoll und öde entgegengähnte. Ich leide nicht an Gespensterfurcht; aber doch beschlich mich ein eigenthümliches fremdartiges Gefühl, als ich mich langsam und vorsichtig in der Finsterniß fortbewegte.

Kirchen und Kirchhöfe sind nun einmal Orte, die „den Rest von kindlichem Gefühle“ in jedem Menschen wieder erwecken; ist es doch sogar dem Dr. Faust so gegangen; warum mir nicht?

Ich scheute mich fast, den Fuß niederzusetzen; die schweren eisenbeschlagenen Stiefel gaben auf den Steinplatten einen so seltsamen Laut, der in dem hohen Gewölbe so verrätherisch wiederhallte, daß ich mich in einen Stuhl niederließ, um erst zu überlegen, wo ich mich am besten placiren könnte. Mir fiel die Orgel ein; von dort aus konnte ich Alles hören und beobachten, was in der Kirche geschah, und war dabei nicht in Gefahr, zu früh entdeckt zu werden. Ich schlich also die kleine Treppe hinauf, die mit einem besondern Aufgange zum Platze auf das Chor führte, und setzte mich oben so nieder, daß ich den ganzen Kirchenraum überblicken konnte. Vorläufig war allerdings nichts zu sehen; es war aber anzunehmen, daß die Erwarteten mit einer Blendlaterne erscheinen oder wenigstens durch Geräusch sich bei ihrer geheimnißvollen Thätigkeit vernehmbar machen würden.

So saß ich nun da und wartete. Nichts regte sich in dem dunkeln Abgrunde vor mir; ich hörte nur, wie draußen die Posten vor den Thüren langsam hin- und hergingen; zuweilen brummte in der Ferne der Mont Valérien, oder der schwache Knall eines Gewehrschusses ließ sich von der Seine her vernehmen. Es wurde windig, und ein paar Glasscherben fielen aus den zerschossenen Kirchenfenstern auf die Steine nieder, daß die ganze Kirche davon wiederhallte.

Sollte ich vergebens warten? Fast sah es so aus; denn schon vier Stunden hatte ich dagesessen, und nichts hatte die geheimnißvolle Stille gestört als das Geräusch des Windes, der durch die Fensterlücken stoßweise in’s Gewölbe hineinheulte. Aber gleichviel – ich mußte ausharren.

Da plötzlich fuhr ich auf; ein leises Geräusch, wie wenn ein Schrank fortgerückt würde, hatte sich rechts von mir unten im Kirchenschiffe hören lassen. Ich starrte gespannt in die Finsterniß hinein; das Geräusch dauerte fort; es mußte in der Nähe des Bildes sein, das als das einzige in der Kirche mir aufgefallen war. Jetzt wurde es still. Ein Lichtschimmer erschien und beleuchtete schwach den untern Theil des Rahmens. Zwei dunkle Gestalten huschten an dem Bilde vorbei und stiegen langsam, wie aus dem Bilde heraus, in die Kirche nieder.

Ich erinnerte mich jetzt, vor dem Bilde eine Trittleiter gesehen zu haben, die benutzt zu werden schien, um Kerzen auf die unter und neben demselben angebrachten Leuchter zu stecken. Hinter dem Bilde mußte also ein Gang ausmünden, durch den –

Doch ich erschrak; die Beiden kamen eilig auf die Treppe zum Chor zu. Wenn sie mich entdeckten! Instinctiv fühlte ich, daß ich mich verbergen mußte, da das Geheimniß noch nicht [731] ganz aufgedeckt war. Fast hätten mich meine Stiefel verrathen, als ich so schnell wie möglich im Hintergrunde des Chors mich hinter einem vorspringenden Pfeiler zu verbergen suchte. Athemlos lauschte ich nun den leisen Schritten, mit denen die beiden nächtlichen Kirchenbesucher die Treppe emporstiegen. Sie traten auf das Chor – es war der Vicar und Jean.

„Seid Ihr sicher, daß Désirée uns nicht eines schönen Tages verräth?“ fragte der Vicar, indem er sich auf den Sessel niederließ, auf dem ich gesessen hatte. „Den Mädchen ist nie zu trauen. Sie verlieben sich, und dann schwatzen sie Alles aus. Désirée ist so wie so keine Französin in ihrer Gesinnung.“

„Das ist richtig,“ erwiderte Jean, indem er seine Laterne an der Orgel niedersetzte. „Ich hatte sie schon im Verdacht, geplaudert zu haben, und habe ihr darauf hin meine Meinung gesagt. Sie weiß, was ihr bevorsteht, wenn sie durch ihre Thorheit uns in’s Verderben stürzt. Sie kennt mich. Allerdings thut sie mit diesem Preußenhunde, dem Frédéric, sehr vertraut; aber ich denke, sie wird sich in Acht nehmen, durch Verrath ihren Untergang heraufzubeschwören.“

„Ist dieser Frédérice derselbe, den wir hier oben einmal trafen?“

„Ja wohl! Er ist verdammt mißtrauisch gegen mich – das habe ich längst gemerkt; aber er ist zu dumm, zu dumm. Mich fängt er nicht.“

„Sehr schmeichelhaft!“ dachte ich in meiner Ecke.

„Nun, nun,“ meinte der Vicar, „gebt nur auf das Mädchen, auf Euch, auf Alles Acht! Diese Preußen haben feinere Nasen, als es zuweilen scheint.“

Inzwischen hatte Jean sich daran gemacht, mit einem Schraubenzieher ein paar Schrauben zu lockern, die einen Theil der Orgelclaviatur festzuhalten schienen.

„Was habt Ihr Neues erfahren?“

„Bertin war bei mir.“

„Das weiß ich. Er war auch bei mir und hat mir seine Notizen gegeben. Was sonst?“

„Ein Bataillon von dem Regiment, das neulich gekommen ist, bleibt hier; die beiden anderen gehen nach Montmorency.“

„Was weiter?“

„Es werden neue Emplacements für zwei Batterien bei der Villa Granier und in dem Parke des Herrn Bonnaire gebaut.“

„Das ist etwas werth,“ meinte der Vicar, indem er über Jean’s Schulter sah. „Habt Ihr schon den Strom eingestellt?“

„Einen Augenblick noch!“ sagte Jean und griff in die Oeffnung hinein, die durch das Herausnehmen mehrerer Tasten entstanden war.

Der Vicar drückte auf den Knopf eines der Registerzüge, und das darauf folgende Ticken ließ mich nicht länger im Zweifel – es war ein Telegraphenapparat in der Orgel, dessen Leitung wahrscheinlich unter der Seine weg in’s französische Cantonnement ging. – Zu der Freude über die werthvolle Entdeckung gesellte sich nun die Besorgniß, die wichtigen Nachrichten dem Feinde mitgetheilt zu sehen, und ohne mich weiter zu besinnen, sprang ich mit einem lauten „Halte-là“, den Revolver in der Hand, vor. Einen Augenblick schienen Beide vor Schrecken erstarrt zu sein; dann machte der Vicar eine wilde Bewegung. Ich hob den Revolver und der Vicar sank wieder zurück.

„Gehen Sie mir voran die Treppe hinunter!“ sagte ich. „Aber machen Sie keinen Fluchtversuch; ich würde Sie niederschießen.“

In diesem Augenblicke erinnerte ich mich meiner Hülfsmannschaften draußen.

„Posten und Patrouille herbei!“ rief ich laut und griff nach der Laterne. Ein Fußtritt warf sie um, und die Beiden stürzten eilig die Treppe hinunter. Ich gab Feuer. Ein Aufschrei ließ mich erkennen, daß ich Jemand getroffen hatte; aber die Fliehenden eilten beide weiter.

Das Portal öffnete sich; bei dem Scheine der Laterne, welche die Patrouille mitbrachte, sah ich die Flüchtlinge schon vor dem Bilde. Noch einen Augenblick – und sie waren die Leiter emporgeflogen und hinter dem Bilde, das sich knarrend vorschob, verschwunden. Nur eine breite Blutspur hatten sie hinterlassen. Ich suchte eine Feder, schlug an den Rahmen, gegen das Bild – nichts rührte sich; die Fliehenden hatten Zeit, zu entkommen. Der geheime Gang mündete aber wahrscheinlich noch in Argenteuil aus, und ein gänzliches Entschlüpfen der Beiden war dann noch vielleicht zu verhindern, indem man sofort die Posten an den Ausgängen des Ortes benachrichtigte. Zugleich war eine Meldung an den Hauptmann abgeschickt worden, und wir warteten auf sein Eintreffen, bevor wir das Bild einschlugen. Er brachte ein paar Leute mit Brecheisen und Aexten mit. Der Rahmen des Bildes wurde abgesprengt. Die Feder wurde sichtbar – ein kräftiger Druck – und das Bild wich langsam zurück.

Einer nach dem Andern schlüpfte hinein. Wir befanden uns in einem langen, schmalen Raume, dessen Vorhandensein wir schon längst hätten ermitteln können, wenn wir daran gedacht hätten, die Größe der in dem Querschiff liegenden Capellen zu vergleichen. Von der Capelle rechter Hand vom Eingang war durch eine Wand ein kleiner Raum abgetrennt, in den man mit Hülfe einer Leiter gelangte, da die Oeffnung in der Höhe des Bildes und von diesem gedeckt war. Bei oberflächlicher Betrachtung verrieth nichts den geheimen Raum, da man die Wand mit dem Bilde einfach für die Seitenmauer des Querschiffes hielt. In diesem Versteck fielen uns neben den Gegenständen des Kirchenschmuckes zuerst ein Bündel Chassepots nebst Munition und Bajonneten in’s Auge. Wichtiger aber war die Entdeckung einer Treppe, die in die Tiefe, in der die Flüchtigen verschwunden waren, hinabführte. Vorsichtig stiegen wir hinunter und folgten dem niedrigen Gange, der offenbar schon aus alter Zeit stammte und den Dienern der alten Kirche ähnlich gedient hatte, wie jetzt denen der neuen.

Wie waren noch nicht hundert Schritt gegangen, als der Mann, der mit der Laterne voranging, über etwas stolperte; es war der Leichnam des Vicars. Meine Kugel hatte ihn tödtlich getroffen; er hatte nur noch die Kraft gehabt, sich in den Gang hineinzuschleppen, wo er, verlassen von seinem Gefährten, verfolgt von den verhaßten Siegern, in Verzweiflung über das Scheitern seiner Pläne wohl nicht mit christlichen Wünschen für seine Feinde die Seele ausgehaucht hatte. Still schritten wir über die Leiche hinweg; es galt, noch den überlebenden Verräther zu entdecken.

Wieder standen wir vor einer Treppe; über uns zeigte sich eine geschlossene Fallthür. Die Eisenstäbe und Faschinenmesser wurden eingesetzt; drei Mann, auf der oberen Stufe stehend, stemmten den Rücken gegen die Thür, und krachend flog sie auf. Wir befanden uns in dem Hinterstübchen von Jean’s Wohnung; an der Thür lag Désirée, leblos, von Blut überströmt. Sie hatte ihre Liebe büßen müssen. Den Anstrengungen des sofort herbeigerufenen Arztes gelang es, sie wieder zum Bewußtsein zurückzurufen. Der Arzt winkte den Anwesenden zu, und Alle, bis auf den Hauptmann und mich, verließen auf den Fußspitzen das Zimmer, mit mitleidigen Blicken auf das arme Opfer. Ich knieete an ihrem Lager und hielt ihre kalte Rechte in meinen Händen.

„Das wußte ich,“ sprach sie mit schwacher Stimme; „der Onkel hat es mir oft genug gesagt, daß er mich tödten würde, wenn ich sein Geheimniß verriethe. Nun sah er sich entdeckt und hat mir sein Versprechen gehalten. Hab’ ich ihn denn verrathen? Ach, ich war nur Ihnen so gut –“

Sie schwieg erschöpft; ihr Ende schien zu nahen. Ich bedeckte ihre Hand mit Küssen und stammelte zusammenhangslose, sinnlose Worte des Trostes und der Hoffnung.

„Ich sterbe gern,“ flüsterte sie leise, „denn nun weiß ich gewiß, daß Sie mich nicht vergessen werden.“

„Sie ist todt,“ sprach der Arzt, sich über ihr Gesicht beugend.

Wahrlich, ich werde sie nicht vergessen! – –

Am nächsten Morgen wurde Jean Rauger wegen Spionage standrechtlich verurtheilt und auf freiem Felde erschossen. Er war von einer Patrouille ergriffen worden, als er durch die Gärten in die Weinberge von Argenteuil zu entkommen suchte.
v. Sz.