Erinnerungen an Friedrich Theodor Vischer
[856] Erinnerungen an Friedrich Theodor Vischer. Der vor nunmehr zwei Jahren verstorbene Stuttgarter Aesthetiker Vischer war eine in hohem Grade gesellige Natur. Er liebte es, sich auszusprechen, und theilte gern mit von seinem Inneren. Eine anregende Unterhaltung im vertrauten Kreise der Familie oder geistesverwandter Seelen war ihm seine liebste Erholung, und die Nachmittage, an denen er kein Kolleg zu lesen hatte, waren eigens dem Verkehr mit den Freunden gewidmet. Es war deshalb zu erwarten, daß nach seinem Hinscheiden die Zahl derer, die etwas über ihn zu erzählen wissen würden, eine große sein würde, und in der That ist bereits eine Reihe von Veröffentlichungen erschienen, die den großen Todten zum Mittelpunkte haben.
Vor uns liegt ein im G. J. Göschenschen Verlag erschienenes Büchlein „Vischererinnerungen“. Seine Verfasserin ist Ilse Frapan, die sich auch als Novellistin einen Namen gemacht hat und die in Vischers letzten Lebensjahren ganz zu seinem engsten Kreise gehörte. Mit offenherziger Gewissenhaftigkeit erzählt sie uns, wie sie dem verehrten, aber noch mehr gefürchteten Mann – galt ja doch der Verfasser von „Mode und Cynismus“ als ein ausgesprochener Weiberfeind – zuerst von Hamburg aus einige Verse zur Beurtheilung übersandte und darauf eine so freundlich ermunternde Antwort bekam; wie sie dann nach Stuttgart übersiedelte, um Vischer zunächst durch seine öffentlichen Vorlesungen persönlich kennen zu lernen, und wie sie endlich sogar einen Besuch bei dem Gefeierten selbst wagte. „Wir (d. h. die Erzählerin mit einer gleichgesinnten Freundin) wanderten die stille schöne Kepplerstraße entlang und suchten Nummer 34, 2 Treppen. Kein elegantes Haus, aber ein sauberes, gut bürgerliches. Nun standen wir vor der Glasthür im zweiten Stock, lasen links an der Wand das Schildchen mit der Aufschrift: ‚Vischer, Professor‘, und wagten nicht, die Glocke zu ziehen. Als es dann doch geschehen mußte, erschraken wir vor ihrem hellen Ton und wären fast noch davongelaufen. Aber eine ältere Dienerin erschien, legte ein bißchen die Hand ans Ohr, um das ihr fremd klingende Norddeutsch zu verstehen, und sagte: ‚Ja, der Herr Professor sind zu sprechen, gehen Sie nur hinein, da grad vor!‘ Ich klopfte zaghaft; es wurde kräftig ‚herein!‘ gerufen, und da stand er nun, der Bewunderte, Verehrte, mitten in seinem Schreibzimmer, im Schlafrock, und nahm, als er die fremden Gesichter erblickte, die Pfeife aus dem Munde, die ihn und seine Umgebung in große Wolken eingehüllt hatte. Wie herrlich er zu dem Zimmer und das Zimmer zu ihm paßte! Mir schien, als habe ich das alles schon einmal gesehen, in einem freundlichen Traum oder in einem alten Buche. Es war das Urbild eines deutschen Gelehrtenstübchens.“
Ilse Frapan schildert uns nun Vischer als Redner und Lehrer, bei sich daheim und in der Geselligkeit, bald ins Große, Allgemeine strebend und des Geisteshelden innerstes Wesen zu erfassen und zu erläutern suchend, bald in behaglicher Kleinmalerei sich verbreitend über des Mannes menschlich einfache Züge. Es soll dabei aber nicht verschwiegen werden, daß der Verfasserin manches mit unterläuft, was nicht nothwendig zu des Dichters Lebens- und Charakterbild gehört und besser ungesagt geblieben wäre.
Schier unerschöpflich ist die Fülle von gelegentlichen Bemerkungen und Aussprüchen aus Vischers Munde, von Anekdoten und Witzen, mit denen er seine fesselnde Unterhaltung freigebig würzte, und die alle zusammen das Bild des seltenen Mannes so deutlich faßbar, wie er leibte und lebte, vor uns erstehen lassen. Einer der köstlichsten Witze ist der folgende: Im Jahre 1844 wurde Vischer wegen freimüthiger Aeußerungen vom Katheder herab auf zwei Jahre seines Amtes als Professor an der Tübinger Hochschule enthoben; zu gleicher Zeit aber wurde ihm sein erster und einziger Sohn geboren. Beides zeigte er seinen Zuhörern im Kolleg mit den Worten an: „Meine Herren, ich habe heute eine unwillkommene Muße und eine willkommene Unmuße, einen großen Wischer und einen kleinen Vischer, erhalten.“
In seiner Jugend war er eine Zeitlang Vikar in einem erschrecklich öden württembergischen Pfarrdorfe. „Meine Wohnung,“ erzählte er, „war eine wahre ‚Lotterfalle‘, das heißt eine ganz schlechte verfallene kleine Stube mit Oktavfenstern und einem Kachelofen, der zwar eigentlich auch bei mir Wärme verbreiten sollte, sie aber meist der Studierstube des Pfarrers spendete, die nie benutzt wurde, denn der Pfarrer guckte nie ein Buch an.“
Die entsetzliche Langeweile in dem einsamen Dorfe und bei dem offenbar geistig nicht sehr anregenden Pfarrherrn preßte ihm einmal den schönen Vers aus:
„Am Fenster steh’ ich ohne Sorgen
Und werf ein Bröcklein Weck[1] hinaus,
Die Enten thun’s hinunterworgen –
Das ist für meinen Geist ein Schmaus!“ =
- ↑ Weißbrot.