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Er hat spekuliert

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Textdaten
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Autor: Dr. Otto Ballerstedt
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Titel: Er hat spekuliert
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 2, S. 46–48
Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1892
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[46]
Er hat spekuliert!

Mitten in das prickelnde Geräusch einer Tanzpause, in das Tönegewirr von flüsternden Stimmen, rauschenden Schleppen, schwirrenden Fächern, klirrenden Gläsern, dröhnt aus dem Erdgeschoß des Hauses herauf in den festlichen Saal ein dumpfer Knall. Die schwatzenden Gruppen, die wandelnden Paare verstummen, bleiben stehen; die Dame des Hauses mit dem Brillantdiadem im Haar stockt erblassend für einen Augenblick in der lebhaften Unterhaltung, die sie mit den vornehmsten ihrer Gäste führt, dann, sich gewaltsam beherrschend, versucht sie das befremdete Aufhorchen abzulenken und unbefangen das Gespräch weiterzuführen. Aber nicht nur ihre nächste Umgebung hat ihr Erbleichen gesehen, das Zittern bemerkt, welches sie befiel; vergeblich läßt der Sohn des Hauses die Musiker die nächste Tanztour anstimmen; von der weitgeöffneten Saalthür her dringt ein Flüstern anderer Art als das fröhliche, jäh unterbrochene, fliegt von Gruppe zu Gruppe, ein Flüstern voll Entsetzen, voll Mitleid, voll Scham; die Gesellschaft löst sich auf, entflieht mit verlegener Scheu der Stätte, welche eben noch schimmernde Festlust durchrauschte und durch die nun ein Schauer des Grauens geht, ein Hauch des Todes, dem die Dame des Hauses in Ohnmacht erliegt. – Wo ist ihr Gatte? – Auf der Treppe wächst das Flüstern zur lauten Klage, zum Zornesausbruch, zum Fluche … Unten im Komptoir hat er sich erschossen, der Bankerotteur! … Er hat spekuliert!

In der kleinen Provinzstadt geht mit niedergeschlagenen Augen, den Hut tief in die Stirn gedrückt und den Schatten der Häuser trotz des spärlichen Laternenlichts ängstlich suchend, ein [47] Einsamer durch die Straßen. Da stutzt sein Schritt. Vor einem stattlichen Eckhaus am Markt steht er still. Sein Blick schweift über die breiten Fensterläden, die gerichtlich geschlossen sind, hinauf nach dem Firmenschild und liest bebend dort seinen Namen, den Ehrennamen seines Vaters. Da ringt sich ein gewaltsames Schluchzen vom Herzen empor, ein heißer Thränenstrom quillt ihm aus den Augen, er lehnt verzweifelt Haupt und Arm gegen das Haus, sein Haus, wie es noch kürzlich hieß, gegen die Thür zu seinem Geschäft, das trotz seines blühenden Ganges ihm nicht hatte genügen wollen und das nun den Gläubigern verfallen ist ... Er hat spekuliert!

„Er hat spekuliert!“ – „Spekuliert mit fremdem Geld!“ – „Unser Geld verspekuliert!“ – In wilder Erregung umsteht in einer der Hauptstraßen Berlins eine Menge Volks den Eingang zum Komptoir eines Bankinstituts, dessen Besitzer noch vor kurzem zu den reichsten Vertretern der Finanzwelt zählte und zu dessen Kassen sich jetzt die Gläubiger drängen, um die anvertrauten Kapitalien zurückzuverlangen. Die laute Klage wird zum Verlangen nach Sühne, nach Schutz! –

Die Zeiten sind vorbei, wo nur die kleinen Diebe das strafende Schicksal ereilte. Große politische Parteien haben in Anträgen die Forderungen des ergrimmten Volksgewissens formuliert, wie sie der Eindruck einer ganzen Reihe von schmählichen Bankbrüchen, die in schneller Folge in Berlin sowohl als in anderen deutschen Städten in jüngster Zeit vorgekommen sind, heraufbeschworen. Die Gefahren einer gemeingefährlichen Spekulation sollen mit den Mitteln des Gesetzes bekämpft werden. Aber nicht nur das frevle Thun, die Genußsucht und Verschwendung der betrügerischen Geldverwalter mahnen zu ernster Prüfung der bestehenden Verhältnisse auf dem Gebiete des Geldmarkts – das Schicksal der Tausende, die durch jene ihr Vermögen verloren haben, wendet die Klage auch gegen alle die, welche aus Sucht nach leichtem schnellen Gewinn ihr Geld an Schwindelfirmen zur wilden Spekulation in unsicheren Werthpapieren überließen. Hier kann nicht Staatshilfe, sondern nur die Läuterung der allgemeiueu Moral Hilfe schaffen, und diese Läuterung kann nur durch Aufklärung über die Grenzen von Recht und Unrecht auf dem Gebiete der Geldanlage, nur durch Selbsthilfe und Vorsicht aller verständigen und anständigen Leute erzielt werden. Hierdurch allein kann auch das ins Schwanken gerathene Vertrauen in die glücklicherweise doch noch ihrer Mehrzahl nach tüchtigen Bankinstitute und in die für den Nationalwohlstand unentbehrlichen Berufszwecke derselben wieder befestigt werden.

Spekulation wird es immer geben; jedes geschäftliche Unternehmen beruht auf Vorausberechnung von Faktoren, deren letzte Wirkung sich nur muthmaßen läßt. Die verwerfliche Spekulation an der Börse, das sogenannte Zeit- oder Differenzgeschäft, besteht im Kaufen und Verkaufen von Werthpapieren auf bestimmte kurze Zeittermine, wobei auf die muthmaßlich in diesem Zeitraum eintretenden Kursänderungen und die daraus sich ergebende Differenz zwischen Kaufs- und Verkaufspreis spekuliert wird. Die Anziehungskraft dieses verderblichen Glücksspiels hat in den letzten Jahrzehnten mehr und mehr zugenommen und Kreise ergriffen, welche sonst dem Geschäftsleben gänzlich fern stehen. Der spekulationslustige Privatmann, der nicht selbst an die Börse gehen kann, überläßt einfach dem Bankier seines Vertrauens größere Geldbeträge, sogenannte Depots. Sehen wir einmal zu, was es mit diesen Depots für eine Bewandtniß hat!

Im gewöhnlichen Leben und übrigens auch nach alten Rechtsbegriffen versteht man unter einem „Depositum“ ein hinterlegtes Gut, bei dem der Hinterlegende volles Eigenthum und Verfügungsrecht behält, während der Depositar, derjenige, bei welchem das Gut hinterlegt worden ist, dasselbe in keiner Weise veräußern darf. In unserem modernen Bank- und Börsenwesen hat sich aber dieser klare Begriff zu Gunsten der Spekulation verschoben, und zwar nicht allein durch die Schuld der Banken, sondern auch durch die des Publikums selbst. Für Hinterlegung von 1000 Mark in Papieren wird von Banken der zehnfache Kredit gewährt, um Differenzspekulationen zu machen. Fällt nun der Kurs der nominell gekauften, meist gar nicht wirklich bezogenen 10000 Mark Werthe irgend welcher Art um etwa ein Zehntel, so fordert der das Geschäft vermittelnde Bankier den Kunden auf, sein Depot zu verstärken, und wenn letzterer dazu nicht imstande ist, wird er einfach „exekutiert^, d. h. der Bankier verkauft die nominell für den Kunden angeschafften Papiere wieder und hält sich für den Verlust an das „Depot“ des letzteren, welches damit verschwindet oder auf ein Minimum herabgesetzt wird. Ja, gewisse Bankhäuser kündigen in großen Reklame-Prospekten an, daß sie Papiere bis zu 95 Prozent ihres Werthes beleihen, und das Haus Grosvenor und Company in London sucht die Kunden gar durch Anpreisung seines „Ein-Prozent-Systems“ zu locken, d. h. durch die Versicherung, daß man bei ihm ungünstigen Falls immer nur ein Prozent der Spekulationssumme verlieren könne, während auf der andern Seite unbeschränkte Gewinnaussichten ständen. Vor so gefährlichen Leihgeschäften zum Zweck der Spekulation kann gar nicht genug gewarnt werden. Diese und ähnliche Arten von Spekulations-Depots haben wesentlich mit dazu beigetragen, die ganze Rechtsgrundlage für das Depotgeschäft zu verrücken. Manche Bankiers machen es unmittelbar zur Bedingung, nicht die deponierten Stücke selbst, sondern nur ebensoviel von derselben Art zurückliefern zu müssen, andere verfügen stillschweigend über die hinterlegten Werthe, noch weitere behalten sich sogar ausdrücklich das Recht dazu vor.

Indeß giebt es genug Wege für den soliden, nicht spekulierenden Kapitalisten, sein Vermögen als Depot beim Bankier sicherzustellen. Außer der Reichsbank giebt es eine ausreichende Zahl großer Bankhäuser, welche alle Gewähr für die unberührte Aufbewahrung von Vermögenswerten bieten. Ja, die technischen Einrichtungen sind neuerdings vielfach so vervollkommnet worden, daß die Banken allein ohne Mitwirkung des Eigenthümers das Depot gar nicht herausnehmen können. Auch ist das Zurückbehalten der Coupons, bezw. die Hinterlegung von Mänteln und von Coupons der Werthpapiere an verschiedenen Stellen ein sicheres Mittel des Schutzes. Andere Maßregeln, wie gemeinsame Hinterlegungsstellen für die kleinen Bankiers, sind neuerdings angeregt worden, und es wäre gut, wenn sich mit solchen Mitteln genügende Sicherheit beschaffen ließe, denn auch auf dem Bankgebiet ist die Centralisierung und Monopolisierung in wenigen Händen durchaus nicht wünschenswerth.

Aber nicht nur die Gelegenheit und der verführerische äußere Anreiz durch die übermäßigen, für Spekulationen angebotenen Erleichterungen haben im Zusammenwirken mit dem größeren Hang nach Wohlleben und schnellem Verdienst ohne Arbeit den Anstoß zu den bedenklichen Erscheinungen der neuesten Zeit gegeben, sondern in zweiter Linie hat dazu auch die Entwicklung der wirthschaftlichen und finanziellen Verhältnisse selbst mit beigetragen. Das Leben ist teurer geworden, aber der Zinsfuß ist gesunken, das Kapital brachte weniger Rente, und die in einer längeren Friedensperiode ohne starken Geldbedarf für große industrielle und Verkehrs-Unternehmungen natürliche Bewegung des sinkenden Zinsfußes ist einigermaßen künstlich übertrieben worden. Hat doch Preußen allein im Jahre 1889 für ungefähr eine Milliarde Mark zu 4 und 4½ Prozent verzinsliche Prioritätsobligationen verstaatlichter Eisenbahnen in 3½prozentige umgewandelt! Auch bei städtischen Anleihen seitens der Hypothekeninstitute u. a. ist im Herabdrücken des Zinses des Guten zu viel geschehen. Die Folge davon ist, daß der deutsche Markt schon seit etwa 2 Jahren mit niedrig verzinslichen Papieren übersättigt ist, und 3½prozentige oder 3prozentige Werthe ersten Ranges kaum mehr in größeren Beträgen unterzubringen sind.

Unterdessen hatte sich aber bereits eine Menge besonders kleinerer Kapitalisten, die sich mit einem Zins von 3½ Prozent nicht zufrieden geben wollten, den ihnen in überreichlicher Masse oft mit ganz ungerechtfertigten Lobpreisungen angebotenen ausländischen Werten und zum Theil zweifelhaften oder wenigstens gewagten industriellen Gründungen zugewendet. Und hier trifft auch unsere Hochfinanz der Vorwurf, daß sie, in der Sucht, überhaupt Geschäfte zu machen und Geld zu verdienen, ohne die nöthige Beschränkung und Vorsicht zu viel ausländische Papiere wie Argentinier, Portugiesen etc. dem deutschen Kapitalistenpublikum aufgehalst hat.

Auch in dieser Beziehung sind jedoch Maßregeln zur Selbsthilfe im Werke. In der letzten Zeit haben sich nach englischem und belgischem Vorbild bei uns „Schutzkomitees“ für die Inhaber auswärtiger nothleidender oder gefährdeter Werthe gebildet, für Argentinier, Türken etc., und eine Zusammenfassung und Verallgemeinerung dieser Bestrebungen, wie sie in London in dem „Council of foreign bondholders“ gipfelt, dürfte zu erreichen sein. Ueberhaupt muß der deutsche Kapitalist von vornherein selbst mehr auf seine Interessen sehen und sich darum kümmern, wie [48] sein Geld angelegt und verwendet wird. Nur durch die Gleichgültigkeit des Kapitalistenpublikums, das wohl beweglich klagt, wenn der Schaden da ist, aber vorher sich oft in unbegreiflicher Weise wenig um das Schicksal seines Geldes kümmert, haben so viele große Bankerotte stattfinden, so viele Millionen verloren werden können. Bei vielen Aktienunternehmungen wäre eine regere Nachprüfung durch die Aktionäre zu wünschen; allein trotz aller schlimmen Erfahrungen sieht man noch oft genug kritische Fälle, wo die Betheiligten nicht einmal sich die Mühe geben, in den Generalversammlungen zu erscheinen oder sich vertreten zu lassen. Und nur durch grenzenlose Vertrauensseligkeit war es auch möglich, daß Hunderte kluger und sich ihrer Verantwortung bewußter Leute bei einer Firma ihr Vermögen in Verwahrung ließen, deren Leiter ein stadtbekannter Spieler und Verschwender war und über deren bedenklichen Zustand schon längere Zeit vor der Katastrophe Gerüchte umliefen.

Der kleine und mittlere Kapitalist, an den sich unsere Worte vornehmlich wenden, sollte überhaupt, und wenn er dabei auch seine Lebenshaltung etwas einschränken und sich manches versagen muß, sein Geld nur in den sichersten Werthen, in deutschen Staats- und Kommunalpapieren, in Pfandbriefen, Prioritäten u. dergl. anlegen. Schon die Industrieaktien bieten zu viel Gefahr, als daß ein vorsichtiger Hausvater wesentliche Theile seines Vermögens darauf setzen sollte. Bei den industriellen Aktiengesellschaften hängt zuviel von der guten Leitung und Aufsicht, aber auch von zufälligen Konjunkturen, Glücks- und Unglücksfällen ab. Nach großen Gewinnen können Perioden der Dividendenlosigkeit folgen, die Kurse auch der zur Zeit bestangesehenen industriellen Aktiengesellschaften sind bedeutenden Schwankungen unterworfen. Wer ruhig schlafen und für seine Familie ehrlich sorgen will, läßt sich nicht auf bedenkliche Wagnisse ein, die sich seiner Prüfung gänzlich entziehen. Das ist oft auch bei den größten Unternehmungen der Fall. So hat sich z. B. der Suez-Kanal außerordentlich gut rentiert und seine Aktionäre haben Hunderte von Millionen gewonnen; die zu 500 Franken ausgegebenen Aktien haben den fünffachen Werth und darüber erreicht. Dieser mächtige Erfolg ließ Herrn von Lesseps bei dem zweiten ähnlichen Werke, dem Panama-Kanal, das Geld in riesigen Massen zuströmen, und was ist das Ende? Der Verlust von einer Milliarde Franken für das französische Nationalvermögen, nachdem die Gesellschaft gänzlich verkracht ist und der Kanal selbst sich als kaum ausführbar erwiesen hat.

Am eindringlichsten ist aber vor dem eigentlichen „Spekulieren“, dem Ankauf von mehr Papieren, als mit dem wirklich vorhandenen Vermögen zu erwerben sind, vor Differenz- und Prämiengeschäften zu warnen. Wer einmal Blut geleckt, läßt nicht mehr davon; der Gewinn entfacht die Sucht nach Mehr und vermindert die Vorsicht, der Verlust reizt zu neuem Wagen, um das Verlorene einzubringen. Und dann kommt häufig das Ende mit Schrecken! Wer hat nicht in seinem Verwandten– oder Bekanntenkreise irgend einen traurigen Fall von verspekuliertem Vermögen, welches oft in jahrelanger saurer Arbeit verdient und erspart war, aufzuweisen, mit seinem Gefolge von Jammer, Elend und Gewissensbissen für die Betroffenen selbst!

Hoffen wir also, daß die Vorkommnisse der jüngsten Zeit vor allen Dingen unser Kapitalistenpublikum, den sorgsamen Hausvater, die meist von Geldsachen noch weniger verstehende Frau und Mutter vorsichtiger und der schweren Verantwortung bewußter gemacht haben; daß alle berufenen und betheiligten Kreise mehr als bisher dazu mitwirken, faule Elemente auszustoßen, den Schwindel aufzudecken; daß überhaupt eine strengere Moral auch in Geldsachen wieder platzgreift und daß bei dem Eingreifen der Gesetzgebung behufs Regelung des Depotwesens, Unterdrückung der Differenzgeschäfte, schärferer Bestrafung der Veruntreuungen und der betrügerischen oder leichtfertigen Konkurse etc. etwas Ersprießliches herauskomme. Dann werden die traurigen und schmachvollen Ereignisse, die am Schluß des letzten Jahres auf weitverzweigte ungesunde Zustände ein grelles Licht fallen ließen, doch unserer Zukunft zum Segen gereichen, dann wird man nicht mehr so oft angesichts einer zertrümmerten Existenz, eines aus zwar bescheidenen, aber doch gesicherten Verhältnissen ins Elend gerathenen Familienvaters die verhängnißvollen Worte hören: „Er hat spekuliert!“ Dr. Otto Ballerstedt.