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Englische Philologie (1914)

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Textdaten
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Autor: Alois Brandl
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Titel: Philologie / Englische Philologie
Untertitel:
aus: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Dritter Band, Zehntes Buch, S. 64–68
Herausgeber: Siegfried Körte, Friedrich Wilhelm von Loebell, Georg von Rheinbaben, Hans von Schwerin-Löwitz, Adolph Wagner
Auflage:
Entstehungsdatum: 1913
Erscheinungsdatum: 1914
Verlag: Reimar Hobbing
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Erscheinungsort: Berlin
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[1208]
V. Englische Philologie
Von Geh. Reg.-Rat Dr. Alois Brandl, Professor an der Universität Berlin


Das Studium des Englischen an den Universitäten hat in den letzten Jahrzehnten eine gewaltige Wandlung durchgemacht, wie kaum ein anderes Fach. Durch die modernen Verkehrs- und Wirtschaftsverhältnisse ist unser Volk mit dem britischen, zum Teil auch mit dem der Vereinigten Staaten in eine so enge und wetteifernde Berührung gekommen, daß die Folgen selbst in den philologischen Hörsälen fühlbar wurden.

Bis zu den achtziger Jahren war die Anglistik wesentlich eine mittelalterliche Sprach- und Literaturwissenschaft. Mit einer gewissen Vornehmheit hielt man sich an die frühesten Jahrhunderte, studierte in der reichen angelsächsischen Überlieferung die Reste des Germanentums, ging in den mittelenglischen Denkmälern den Idealen des Rittertums nach und verfolgte in Chaucer und dessen Schule die Anfänge der Renaissance. Man schrieb Textkritik wie von altklassischen Autoren, gab Handschriften kritisch heraus und hoffte allmählich durch genaue Sprachuntersuchungen die Geburtsstätte jedes Denkmals ergründen zu können. Vorlesungen über Shakespeare galten bei den Strengen bereits als Übergang zu schöngeistiger Tätigkeit; vollends stieg ein ordentlicher Professor nicht bis ins neunzehnte Jahrhundert herab, sondern überließ dies späte Gebiet samt der ganzen lebenden Sprache und Kultur dem Lektor. Es war Sitte, in der Doktorsprüfung nicht über 1500 herabzugehen – im Staatsexamen mußte man allerdings dem Schulbedürfnis Rechnung tragen und sich auch mit neuerer Aussprache, Syntax und Dichterkunde etwas befassen. Die Tradition der Germanistik, ja der klassischen Philologie gab den Ton an.

Heutzutage mag man über solch enge Taktik lächeln; aber die Konzentriertheit des Vorgehens pflegte doch akademische Früchte zu zeitigen, die wir jetzt verhältnismäßig viel seltener und schwächer hervorbringen. Große Werke wurden damals begonnen und energisch gefördert, die seitdem stecken geblieben sind. Mätzner schrieb das beste mittelenglische Wörterbuch und kam bis G; ten Brink schilderte die altenglische Literatur und kam bis herab zur Reformation; junge Anglisten aus Deutschland saßen mit Bienenfleiß auf den englischen Bibliotheken, besorgten den gründlichsten Teil der Ausgabentechnik und schreckten nicht vor der Aufgabe zurück, das ganze Wert Chaucers mit seinen siebzig Tausenden von Versen aus der Unmenge der Handschriften herauszuschälen. Das Fach war eben zum Rang einer Vollwissenschaft erhoben und mit akademischen Lehrstühlen ausgestattet worden. Frische Kräfte saßen auf dem Katheder, neubegründete Fachzeitschriften schürten die Forschung, und der Gelehrteneifer ließ es vergessen, daß mancher namhafte Anglist nur ein mühsames Englisch zu sprechen vermochte. Das war die stolze Zeit, wo Furnivall sich von Zupitza leiten ließ, und Sweet vereinsamt vom inevitable German schrieb, und jeder amerikanische Anglist sein Wissen an deutschen Hochschulen holte.

[1209] Vieles hat sich seitdem geändert. Das geflügelte Wort, wonach die Zukunft unseres Volkes auf dem Wasser liegt, ist wahr geworden, am frühesten und deutlichsten dort, wo sich unser Mittelgebirge dem Meere zuneigt. Man fand sich so nahe bei Britannien und den Vereinigten Staaten, daß es notwendig wurde, die Sprache dieser Länder nicht mehr bloß buchmäßig, sondern auch zu mündlichem und brieflichem Verkehr zu erlernen. Jeder Gebildete, namentlich aber jeder Kaufmann, Techniker und Nationalökonom in Preußen wollte sich aufs Englische verstehen und mit englischen Verhältnissen rechnen. Das alte Gymnasium verschloß sich dem Drange der Zeit, anstatt ihn zu veredeln; es hielt sich – außer in einigen maritimen Gauen – den Geist Shakespeares und Carlyles vom Leibe; von den humanités modernes genügten ihm die heimische und die französische: um so mehr wurden Realgymnasien und Oberrealschulen beliebt, besucht und begründet. Man rief nach Lehrkräften des Englischen, und jetzt zogen Massen von Studierenden in die bisher ziemlich stillen anglistischen Hörsäle und Seminare. Eine Woge von Realistik erhob sich in den industriellen Städten. Nachdrücklich forderte man vom einzigen Professor, der an jeder Universität zur Stelle war, daß er nicht bloß für seine Wissenschaft lehre, sondern zugleich für die Schule, für den Nutzen aller, für das nationale Interesse. Zögernd und in halber Weise gab das klassische Gymnasium nach, richtete da und dort, wo der Direktor nicht zu sehr dagegen war, englische Freikurse ein, und erlaubte später an manchen Orten sogar, daß das Englische in den obersten Klassen obligatorisch wurde, wenn auch nur auf Kosten des Französischen. Aber das Opfer, an sich praktisch, kam zu spät – eines Tages stand der lateinlose Abiturient von der Oberrealschule gleichberechtigt innerhalb der philologischen Pforten. In Scharen setzte er sich an das Studium von Jahrhunderten, deren höhere Bildung und schulmäßige Schriften, weil in Latein niedergelegt, ihm verschlossen blieben; er unternahm es, Autoren wie Spenser, Milton, Byron zu ergründen, die sogar mehr Griechisch konnten als Goethe oder Schiller; möglichst ausschließlich aber wandte er sich naturgemäß jenem Studiengebiete zu, in dem allein er sich zu Hause fühlen konnte: dem modernsten. Diese Verhältnisse zusammen verschoben die Basis der Anglistik.

Was taten die Professoren?

Unsere Universitäten genießen nicht die Unabhängigkeit, wie sie etwa Oxford besitzt, das sich selber aus altem Stiftungsvermögen erhält. Sie bekommen vom Staat die Mittel, die Räume, die Hilfskräfte, bis zu einem gewissen Grade sogar die Art des Schülermaterials, insofern sich dies nach den Vorschriften für die Vorbereitsschule und die Abgangsprüfungen gestaltet. Sie sind daher gezwungen – oft ist es ein Glück –, sich viel mehr als z. B. Oxford nach den Bedürfnissen des Staats, nach dem momentanen Gebote des Gemeinwohls zu richten, und sollen dabei doch ihrer rein wissenschaftlichen Pflicht unentwegt treu bleiben. Die anglistischen Professoren nahmen also, der eine mehr, der andere weniger, den Gegenwartsbetrieb in ihr Programm auf und hielten dabei nach Möglichkeit die bisherigen Arbeitslinien fest; sie gaben die mittelalterliche Methode nicht preis, ergänzten sie aber mit der neueren; sie zogen eine neue Front auf, ohne die alte schwächen zu wollen. Man muß es versucht haben, was es heißt, eine lebende Sprache sich selber säuberlich anzueignen, und erst, sie anderen beizubringen, um die [1210] Größe der neuen Aufgabe zu ermessen. Mit der Sprache von heute kam notwendig die Literatur und Landeskunde von gestern herein. Neue Unterrichtsweisen mußten erfunden werden: Phonetik, Sprechkurse, Auslandsbesuche. Da es sich um Vermittlung eines praktischen Könnens handelte, rückte das Üben viel mehr als bisher in den Vordergrund. Aus einer theoretischen Wissenschaft wurde das Fach halb zu einer angewandten.

Die Arbeit wurde hiemit verdoppelt, aber nicht die akademische Arbeitszeit der Lernenden, nicht die Arbeitstraft der Lehrenden. Indem die Studierenden auf der modernen Seite fortschritten, mußte eine verbesserte Pädagogik ein Zurückbleiben auf der mittelalterlichen Seite möglichst vermeiden – noch dazu bei verminderter Lateinkunde der Zuhörerschaft. Indem sich eine Unzahl Vorprüfungen, Zwischenprüfungen, Endprüfungen, Seminararbeiten und Dissertationen einstellte, sollten die Dozenten doch in der wissenschaftlichen Produktion nicht erschlaffen. Es war eine Krisis, und sie ging nicht ab ohne Unzuträglichkeiten.

Indes zeigte sich wieder die Wahrheit des Sprichworts, daß Not Tugend schafft. Im Ringen mit den realistischen Schwierigkeiten ergaben sich bisher unausgenützte Mittel und Wege, um die historische Seite des Faches zu fördern; aus den Verlegenheiten der Anglistik vor zehn und zwanzig Jahren erwuchsen ihr bessere Aussichten für die Zukunft.

Die Phonetik in erster Linie erstarkte an der Schwierigkeit der englischen Laute, Wortakzente und Satzmelodie: Ohrbildung und Zungenübung wurden dabei gefördert. Die Hoffnungen, daß dies zu einer Blüte der experimentellen Phonetik führen würde, haben sich allerdings bisher nicht erfüllt. Vergebens zog Professor Scripture mit seinen Lautkurven, Grammophonplatten und Vergrößerungsapparaten von einer deutschen Universität zur anderen, um hingebungsvolle Mitforscher zu gewinnen. Die Dozenten waren bereits überlastet, die Studierenden dachten meist an das Staatsexamen, beiden fehlte gewöhnlich die erforderliche Vertrautheit mit Akustik und Rechenkunst. Aber das Studium der modernen Dialekte zog den Vorteil: in den entlegensten englischen Grafschaften tauchten jetzt junge deutsche Anglisten auf mit Notizbuch und Aufnahmsmaschine für die bäuerlichen Idiome. An den meisten Orten ist die Mundart in raschem Aussterben begriffen; sie ist unnützlich, daher dem Engländer nicht sonderlich erforschungswert; und doch kann sie uns als Palimpsest dienen, um die Sprachgeschichte in verflossenen Jahrhunderten und selbst die angelsächsische Einwanderungsweise aufzuhellen. Auch direkt kam die Phonetik unseren Linguisten zu Hilfe und lehrte sie gewohnheitsmäßig sondern zwischen Schreibung und Sprechweise, Literatur- und Umgangsrede, hauptstädtischem und provinziellem Schriftgebrauch. In aller Linguistik wird es immer mehr offenkundig, daß man das Wesen der Sprache zunächst da beobachten muß, wo sie noch erklingt: im lebendigen Gebrauch, und dann erst in den alten Aufzeichnungen, über deren Zustandekommen uns selten eine Quelle unterrichtet. Dem Anglisten hat dies der Zwang zur Phonetik besonders eingeprägt. Die Früchte davon treten reichlich zutage in den altenglischen Lautforschungen von Sievers-Leipzig und Bülbring-Bonn, Morsbach-Göttingen und Luick-Wien. Die Namen deuten zugleich an, daß hierbei zwischen [1211] preußischen, sächsischen und ausland-deutschen Bestrebungen nicht zu sondern ist; soweit deutsches Kulturland reicht, ist unser Wissenschaftsbetrieb einheitlich und wird es nach lokalen Schwankungen immer wieder.

Eine zweite Schwierigkeit, die sich dem Englischlernenden entgegenstemmt, ist die Syntax. Zahlreiche Lehrbücher bemühen sich, ihre Geheimnisse in Regeln oft sehr verwickelter Natur zu fassen. Man braucht als Beispiel nur deren Vorschriften über Präteritum und Perfekt mit dem Gebrauch dieser Zeiten bei einem so anerkannt vorzüglichen Prosaisten wie R. L. Stevenson[1] zusammenzuhalten, um die Unzulänglichkeit der bisherigen Regeln klar zu ersehen. Es hat sich daher in den Anglistenkreisen vor kurzem der laute Ruf nach mehr Syntax erhoben: das muß zu tieferem Interesse für die Stilkunst neuer und alter Autoren führen; mancherlei Versuche dieser Art sind schon zu verzeichnen. Der Stil aber ist wieder der beste Weg weiter zum Verständnis der dichterischen Persönlichkeit, also zu den edelsten Geheimnissen aller Philologie.

Die Menschen verständigen sich nicht bloß durch Worte; je mehr gemeinsame Kenntnisse, Sitten und Empfindungen der eine beim andern voraussetzen kann, desto besser vermögen sie sich gegenseitig zu erraten. Deshalb ist der Sprachunterricht untrennbar von möglichst vielseitigem Studium des Volkes und Landes: das bringt uns auf ein drittes Gebiet, wo die realistische Umwälzung schließlich doch zum Frommen der Wissenschaft ausschlägt. Der junge Anglist – gleich dem Romanisten – interessiert sich jetzt systematisch auch für die neueren Schriftsteller, bis herab zu denen der Gegenwart; er fährt über die Nordsee, um die britische Kultur mit eigenen Augen zu sehen; er geht, lieber als jemals vorher, ihren Gründen in der Geschichte nach. Ein Buch ist so entstanden, betitelt „Das moderne England“, das den Gesamtkreis der englischen Philologie, die historische Grammatik eingerechnet, vom Standpunkt der Realien aus zu erfassen sucht. Solche Umsicht bei der Erforschung fremden Volkstums in der Gegenwart kommt sicherlich auch dem Sinn für altes Dichtungs- und Dichterleben zugute. Was Religion und weltliches Denken in der Shakespearezeit, was Sage und Sangeskunst weiter zurück bis zur Beowulfperiode bedeutet haben, ist dabei für den Anglisten immer wissenswerter geworden. In einer Menge Einzelschriften wurde bereits untersucht, wie Volksballaden entstanden, wie die Phantasie früherer Erzähler dem Genius Shakespeares vorarbeitete, wie das Lied des germanischen Spielmanns oder das Märchen der Alltagsmenschen umgegossen wurde zum Großepos einer schulmäßig gebildeten Dichterschaft. Diese Probleme erfreuen sich gegenwärtig besonderer Beliebtheit; sie liegen auf der Grenzscheide von Stoff- und Denkgeschichte; der Mutterwitz und die Weisheit der Vorfahren wird uns dabei offenbar.

Soviel läßt sich, ohne weiter aufzuzählen, bereits absehen: das englische Studium an unseren Universitäten wird nach Überwindung der Krise wissenschaftlich gefestigter dastehen als vorher. Mag zeitweilig die Vollendung großangelegter Buchunternehmungen bedauerlich stocken – ein wohlunterrichteter Schüler hat manches vor einem Buch voraus: er ist eine lebendige Potenz, die sich aktiv durchsetzen kann, während ein Buch warten muß, bis man es aufnimmt; er kann sich selbst erklären, während ein Buch der Erklärung durch andere bedarf; er kann fortschreiten, das Buch veraltet. Überdies kann man bereits [1212] sehen, wie die nach heutiger Methode gebildeten Oberlehrer auf die nächste Anglistengeneration wirken; dem mittelalterlichen Forscher vor dreißig und mehr Jahren kam sein beschränktes Wissen vom heutigen Englisch und England doch öfters in die Quere, während jetzt das reichere Wissen solcher Art bereits den Anfängern voranhilft und sie den philologischen Hauptfragen näher kommen läßt. Selbst der Idealismus unserer Jugend hat durch das realistische Bad nicht gelitten; er ist nur weniger träumerisch und mehr abgehärtet geworden; willig und freudig leisten unsere Studierenden eine gewaltigere Arbeitslast, als vor Jahren ihnen zugemutet wurde, und mindestens ebenso frisch wie einstmals in den Kneipen singen sie jetzt ihre Lieder auf der Wanderung der Cooperative Holidays Association, auf dem Sportfeld und auf der Ruderbank.

Druckfehlerberichtigung

  1. Druckfehlerberichtigung im 3. Band: lies „Stevenson“ statt „Stephenson“