Englands großes nationales Spielhaus
Der Engländer ist stolz darauf, daß sein von Natur und Geschichte so vielfach bevorzugtes Inselreich auch darin vielen anderen Nationen voransteht, daß es keine „Spielhöllen“ besitzt. Wohl hat er damit Recht, denn die englischen Gesetze verbieten das Hazardspiel. Dagegen aber übt der abenteuerliche Sinn des Wettens und Wagens, an dem die Flamme der Spielleidenschaft sich nährt, bei keinem Volke eine mächtigere Herrschaft aus, und weil er da ist, muß er auf irgend einer Weise befriedigt werden. Man findet deshalb in England freilich keine öffentlichen Spielbanken nach continentalem Muster, keine Roulette und keine Lotterien, – aber der Engländer hat die Arena des Spiels von dem grünen Tische auf den grünen Rasen verbannt und statt auf das Rollen von Kugeln wettet er auf das Rennen von Pferden. Das Pferd, das schönste, edelste Thier der Schöpfung! So hoch seine elastische Gestalt erhaben ist über jene leblosen Medien der festländischen Spielwuth, so weit der helle offene Rasengrund die Stickluft des Roulettezimmers übertrifft, so hoch steht ihm das englische „Hazardspiel“ (wenn man es einmal so nennen will) über dem Hazardspiel der Continentalen. Außerdem, so meint der Brite weiter, ist in England auch nicht der vulgäre Geldgewinnst die Hauptsache.
[718] Dem englischen Wetter und Wager der Rennbahn schwebt vielmehr als Ziel die Erhaltung und Vervollkommnung jener unvergleichlichen Race von Rennpferden vor, deren dieses Eiland sich rühmt, die Erhaltung und Ausbildung des nationalen Sports, dem dieses Inselvolk einen so großen Theil seines Einflusses verdankt.
Die Ausbildung der englischen Pferderace und der englischen Wettrennen ist nicht so alt, wie man häufig denkt. Erst im siebenzehnten Jahrhundert unter Jakob dem Ersten, der ein eifriger Patron der Rennbahn war, begann das kunstgemäße Trainiren von Jockeys und Rennpferden, und Wettrennen zu Pferde kamen nicht blos bei dem Adel, sondern auch unter der höheren Gentry in Mode. Sein ritterlicher Sohn Carl der Erste zeigte sich ebenfalls als leidenschaftlichen Pferdefreund; er gründete die noch heute blühenden Rennen von New-Market. Auch Carl der Zweite, ein eifriger Liebhaber jeder Art von Sport, förderte das edle Nationalvergnügen in aller Weise, indeß erst unter Georg dem Dritten stieg das in seiner Gesammtheit in dem Worte „the Turf“ (Rasen) zusammengefaßte Spiel zu dem Ansehen einer wahrhaft volksthümlichen Institution empor. Rennbahnen, Zuchtgestüte, Kampfpreise, regelmäßig wiederholte Wettrennen mehrten sich von Jahre zu Jahre. In New-Market entstand, als höchste gesetzgebende Behörde des Turf, der Jockeyclub; das Trainiren von Jockeys und Rennpferden, das Wetten und Wagen auf die Chancen der Rennbahn bildete sich zu einer in’s kleinste Detail entwickelten Wissenschaft aus. Ganze zahlreiche Menschenclassen fingen an, auf und von dem Turf zu leben. Intriguen und Speculationen, eine eigene Kunstsprache und Literatur, eine Gesellschaft in der Gesellschaft, ein Staat im Staate schossen aus dem grünen Rasengrunde üppig, charakteristisch, seltsam hervor und in den wechselnden Ereignissen dieser Welt, von den kleinen provinciellen Wettrennen bis zu dem höchsten Festtage des Turf, dem Derbytag in den Rennen zu Epsom, gingen fabelhafte Summen in dem Hazardspiel des Wettens gewonnen und verloren.
In jener Sturm- und Drangzeit des Turf trat auch die seitdem unter dem Namen des Tattersall bekannte Anstalt in’s Leben. Bei dem immer wachsenden Interesse an den Begebenheiten der Rennbahn und der überhand nehmenden Praxis des Wettens hatte man schon längst den Mangel eines Locals empfunden, welches den Habitués der Rennbahn ebenso als Mittel- und Sammelpunkt dienen sollte wie Bank und Börse den Kaufleuten der City. Ein Pferdezüchter des Herzogs von Kingston, Richard Tattersall, ein Mann von niedriger Herkunft, der, wie viele seines Gleichen, im Stalle und im Wettrennen ein Vermögen erworben, hatte den glücklichen Einfall, diesem Mangel abzuhelfen. Er errichtete im Jahre 1777 ein Local an der südwestlichen Ecke des Hydepark in London, welches Versammlungszimmer für die Freunde des Turf, einen Hofraum zur Ausstellung und zum Verkauf und Stallungen zur Herberge von Pferden umschloß, und fand, durch seine auf der Rennbahn gewonnenen Verbindungen unterstützt, mit seinem Unternehmen rasch den lebhaftesten Anklang. Nichts konnte bequemer sein, als das im fashionabeln Mittelpunkt der Hauptstadt gelegene Etablissement, wo man sicher sein durfte, zu gewissen Zeiten die hervorragendsten Koryphäen des Turf anzutreffen, die neuesten Nachrichten über Pferde und Wettrennen zu erfahren, und außerdem die beste Gelegenheit fand, das Geschäft der Rennbahn, Kauf und Verkauf von Pferden und, was noch wichtiger, die Besprechung und Liquidirung der Wetten zu besorgen. Richard Tattersall besaß die zur Leitung einer solchen Anstalt nöthige Energie und Erfahrung und legte den Schlußstein seines Gebäudes, indem er eine Turf-Zeitung gründete, in deren Spalten besoldete und freiwillige Mitarbeiter sämmtliche Ereignisse der Rennbahn discutirten. Als er zu Anfang unseres Jahrhunderts starb, war sein Erfolg auf’s Glänzendste festgestellt und „Tattersall’s“ die Londoner Sportsmen- und Pferdebörse, oder wie man, wegen der Lage des Locals an der Ecke des Hydepark, auch einfach sagte: the Corner (d. i. die Ecke) war eine ebenso unentbehrliche nationale Einrichtung geworden wie der Turf selbst. Richard Tattersall war außerdem glücklich genug, einen Sohn zu haben, der die Talente des Vaters geerbt hatte und, unter Pferden und Stallungen, unter Wetten und Auctionen, in dem Verkehr mit königlichen Prinzen, Herzögen, Grafen, Lords, Landedelleuten, Jockeys und Pferdezüchtern, kurz professionellen Sportsmen von jeder erdenklichen Herkunft und Schattirung, groß geworden, ohne Mühe in des Vaters Fußstapfen trat und sein Geschäft zu allgemeiner Zufriedenheit fortsetzte. Die Localitäten wurden, je nach dem Bedürfniß der Zeit, gelegentlich verschönt und erweitert, die Regulationen revidirt, bis der Tattersall das Aussehen erlangte, dessen manche unserer Leser, die während der internationalen Ausstellungen von 1851 und 1862 oder zu anderen Zeiten London besucht haben, sich gewiß noch erinnern.
Die specielle Vorsehung, welche über den Geschicken des Turf waltet, beschenkte auch den jüngern Tattersall mit einem des Anherrn würdigen Sprößling, und dieser Enkel des alten Richard ist es, der, von einem ebenfalls seiner würdigen Bruder unterstützt, gegenwärtig dem Tattersall vorsteht. Aber der alte Tattersall, an der alten „Ecke“ existirt nicht mehr. Wer heutzutage nach London kommt, wird seine Stätte vergebens suchen. Schon vor einer Reihe von Jahren hatte man gefunden, daß das Local den wachsenden Anforderungen der Zeit, der immer zunehmenden Menge der wettenden und wagenden Brüderschaft des Turf nicht mehr genüge; so begann man weiter nach Südwesten, an dem Punkte, wo die dem Hydepark entlang laufende große Fahrstraße sich gabelförmig in zwei nach Kensington und Brompton führende Straßen scheidet, den Bau des neuen Tattersall und zu Anfang der Turfsaison des verflossenen Jahres war das Werk vollendet. Es ist der Erwähnung werth, daß der Jockeyclub dies bedeutsame Ereigniß durch ein in dem großen Saale zu Ehren der Herren Tattersall veranstaltetes Festessen feierte und damit den neuen Tattersall einweihte. Zur Erhöhung der Feierlichkeit hatte man mit wahrhaft erstaunlichem Fleiße sämmtliche seit der ersten Gründung des Tattersall’s von den Siegern der Rennbahn gewonnenen Preise: silberne und goldene Becher, Vasen und Tafelaufsätze, aus allen Theilen Englands zusammengebracht.
Man betritt den neuen Tattersall durch ein säulengetragenes Thor, welches der oben erwähnten Abzweigung der großen Fahrstraße gerade gegenüber liegt und eine Einfahrt für Wagen und zwei Seiteneingänge für Fußgänger umfaßt. Zu beiden Seiten des zunächst hinter dem Thore gelegenen Vorhofes befinden sich die den Mitgliedern des Tattersall und den durch sie eingeführten Fremden ausschließlich geöffneten Räumlichkeiten: Lese- und Restaurationszimmer und das berühmte Subscription-Room. An diesem letzteren vorbei den Vorhof durchschreitend, gelangt man in die Auctionshalle, ein sehr geräumiges luftiges Local, zu dem der Eintritt dem großen Publicum ohne Ausnahme frei steht. Diese Auctionshalle wird durch ein Glasdach von oben her erleuchtet und hat bei einer Länge von etwa achtzig eine Breite von vierzig und eine Höhe von fünfunddreißig Fuß. Rechts vom Eingang der Halle führt eine Thür in einen mit Stallungen besetzten inneren Hof; eine andere Reihe von Ställen hat ihre Thüren in der linken Längenwand der Auctionshalle. Darüber erhebt sich eine offene Galerie, auf der eine Auswahl von Wagen nach den beliebtesten sportmännischen Mustern zum Verkauf ausgestellt ist.
Den Mittelpunkt der Halle nimmt ein kleiner kreisförmiger, säulengetragener, von einer Kuppel überwölbter und von der Büste Georg’s des Vierten gekrönter Pavillon ein. Es ist dies der einzige architektonische Schmuck des Tattersall, und während die königliche Büste das Andenken eines der eifrigsten Patrone des Turf und des mächtigsten Gönners der Familie Tattersall verherrlicht, bietet das Innere des Tempelchens Raum zur Feier des genius loci, der in Gestalt des schlauen Reinhardt Fuchs mit wohlgefällig glänzenden Augen von seinem Postamente die ihm geweihte Halle überschaut. Die ursprüngliche Absicht war ohne Frage, den Gedanken an die Fuchsjagd, jenes non plus ultra englischer Jagdfreuden, mit dem Tattersall in Verbindung zu bringen, aber die feine Selbstironie der Aufstellung des Fuchses in dem Centrum eines Locals wie des Tattersall ist unübertrefflich. Das Auctionsbureau steht in der hintersten Ecke der rechten Längenwand, und hier kann man in den Vormittagsstunden während der Saison den großen Tattersall selbst erblicken, wie er in höchsteigener Person Pferde zum Verkauf ausbietet und dem Meistbietenden diese edeln Gestalten des Thierreichs mit seinem eleganten kleinen Hämmerchen zuschlägt. Das Publicum, welches sich zu den Auctionen einfindet, hat das gemeinsam, daß es fast durchschnittlich stark nach dem Stalle riecht; übrigens ist es aus fast allen Ständen gemischt, ganz wie das die Wettringe der Rennbahn frequentirende Volk, und bietet wie dieses, von dem Lord zum Stalljungen herunter, [719] dem Beobachter interessante Materialien zu physiognomischen Studien dar. Die Pferde werden, eins nach dem andern, von den Grooms aus den Ställen herbeigeführt und mit besonders kritischem Auge gemustert, indem sie der Wand entlang dem Auctionsbureau zulaufen.
Interessanter jedoch ist ein Blick in das innere Heiligthum des Tattersall, in den Subscription-Room, der, wie bereits bemerkt, seine Thür der großen Masse des Publicums verschließt. In Hinsicht auf die Privilegien des Subscription-Room ist nämlich der Tattersall ein Club, über dessen Mitgliedschaft das Ballot entscheidet, während die Höhe des Jahresbeitrags von fünfzig Pfund Sterling eine vorläufige Garantie gegen das Eindringen des Pöbels der Rennbahn darbietet. Ein mir bekanntes Mitglied kam meinem Wunsche, diese inneren Räume zu sehen, freundlichst entgegen. Es war während der dem diesjährigen Derby (dem Haupttage der Epsomrennen) folgenden Tage, einer derjenigen Epochen der Saison, wo der Tattersall gewissermaßen den Höhepunkt seiner Existenz erreicht. Bekanntlich giebt es wenige Vorkommnisse des Lebens, auf welche in England nicht gewettet wird. Man wettet auf Abstimmungen im Parlament, auf Bootfahrten, auf Hahnenkämpfe, auf die Ankunft der ersten Theeschiffe von China, auf die Orthographie zweifelhafter Worte, kurz auf alle möglichen Chancen aller denkbaren irdischen Dinge, die dem müßig speculirenden Sinn in die Quere kommen. Das allgemeinste Object dieser nationalen Wettlust ist aber unzweifelhaft der Derby, und nie stellt das charakteristische Wesen des Tattersall sich dem Besucher in frappanteren Zügen dar, als während der jenem ersten aller Wettrennen folgenden Tage.
Die Zugänge, der Vorhof, die Auctionshalle erinnern an die Erscheinung der Londoner Börse, wenn sie am vollsten ist, wenn eine commercielle Krise sie mit dem aufgeregten Gewühl, dem wirren Durcheinander kaufmännischer Speculanten füllt. Unter guter Führerschaft kann man an solchen Tagen in dem Tattersall von sämmtlichen Charaktergestalten des Turfthums eine ebenso vollständige Anschauung gewinnen, wie am Peters- und Paulstage in Rom von der Hierarchie des katholischen Kirchenthums. Denn daß die gesammte Turfgenossenschaft nach dem Tattersall strömt, um das große Ereigniß zu besprechen und die dadurch erledigten Wetten zu liquidiren, ist ebenso ausgemacht, als daß der Donner dem Blitze folgt. Das Rennen der Pferde, das Rollen des Glücksrades in dem großen Hazardspiel ist vorüber, und nach der Ordnung des Spiels müssen Gewinne und Verluste spätestens am zweiten Tage nach dem Rennen geregelt werden. So wimmelt denn der Tattersall von den mit diesem traurig-süßen Geschäft befaßten professionellen Buchmachern (book-makers) aller Grade: – Zugänge und Vorhöfe von der Masse der Outsiders, d. h. Nichtmitglieder, der Subscription-Room von den Insiders, d. h. den privilegirten Mitgliedern.
Turfkenner berechnen die an Derbytagen gewonnenen und verlorenen Summen auf Millionen von Pfunden. Es kann daher nicht Wunder nehmen, wenn Züge und Geberden der den Tattersall durchwogenden Menge an solchen Tagen das Pandämonium aller eine „Spielhölle“ bewegenden Leidenschaften im größten Maßstabe darstellen. Mancher ist vollständig ruinirt, mancher hat Verluste erlitten, die ihm den Bankerott vor Augen führen, Andere haben sich durch ein fein ausgeklügeltes Balancirsystem von Wetten freilich vor Verlusten gesichert, sind aber ungewiß, inwiefern sie auf Liquidirung ihrer Gewinne rechnen können; auf den Gesichtern noch Anderer flackert der Sonnenschein „guten Glückes“ und die Tasche voller Banknoten, mit sattem Lächeln kehren sie dem chaotischen Wirrwarr des Tattersall den Rücken.
Unter den „Buchmachern“ herrscht eine Art von Freimaurerei, ein Ehrengesetz, wonach die Schulden des Turf allen andern Schulden vorangehen, und wenn man den Aussagen der Turfmänner und den Berichten der Zeitungen Glauben schenken darf, werden die Wetten im Ganzen mit erstaunlicher Regelmäßigkeit erledigt. Doch zwischen den von größeren und kleineren Geldsummen klingenden Lauten der Unterhaltung hört man auch Töne des Scandals: wie die Zahlungsfähigkeit dieses Mannes bezweifelt wird, wie Jener sich irgendwo verborgen hält, um bessere Zeiten abzuwarten, wie ein Dritter vor seinen Gläubigern über den Canal entflohen ist. Das letztere Ereigniß ist übrigens der Gipfel der mit dem Tattersall verbundenen aufregenden Vorgänge; wenigstens habe ich nie von einem Selbstmord unglücklicher „Buchmacher“ gehört. Innerhalb des Subscription-Room wiederholen sich so ziemlich dieselben Scenen wie draußen, nur daß für größere Bequemlichkeit gesorgt und der gewöhnliche Haufe der Buchmacher verbannt ist. Die Wände des geräumigen Saales sind geziert mit Bildern sportsmännischer Celebritäten und berühmter Rennpferde. In der Mitte steht eine achteckige Masse von Bureau, wo Wetten in die Bücher eingetragen und, unter Vergleichung der Bücher, erledigt werden. Hier sieht man die jeunesse und auch die vieillesse dorée der englischen Aristokratie. Alles wimmelt von Herzögen, Marquis, Grafen, Lords, von dem beinahe noch bartlosen jungen Erben, der sich unter der Anweisung erfahrener Freunde und schlauer Agenten beeilt, einen großen Theil seines kolossalen Vermögens in dem fashionabeln Spiel der Rennbahn zu verschleudern, bis zu dem abgelebten Roué, welcher mit Bedauern auf die schönen Zeiten Georg’s des Vierten zurückblickt.
Allein auch hier fehlt es nicht an Turfhelden, die sich vor Allem durch ihre Abwesenheit bemerkbar machen. Die Bezahlung ihrer letzten unglücklichen Wetten geht über ihre Kräfte, sämmtliche Versuche, Geld zu erheben, sind fehlgeschlagen. Vergebens erwartet der glückliche Gewinner ihr Erscheinen. Ohne Resultat vergeht der erste, der zweite Tag nach dem Rennen, so daß endlich am dritten Tage die Ausbleibenden die schreckliche Strafe ereilt, die Strafe der Verbannung aus dem Tattersall, indem ihr Name als der von Wortbrüchigen (defaulters) an der schwarzen Tafel des Subscription-Room angeschlagen wird. Aus dem Subscription-Room führen einige Stufen in den Garten hinab, einem von einer Rennbahn umgebenen Stück Rasengrund, wo die Mitglieder sich versammeln, um Pferde vor der Auction laufen zu sehen und (bei günstigem Wetter) in dem berühmten Wettringe des Tattersall (eben jenem Rasengrund) auf die Chancen der bevorstehenden Wettrennen zu speculiren.
Dies sind einige der Hauptumrisse und Charakterzüge der Londoner Sportsmen- und Pferdebörse. Die weite Verbreitung der von diesem Mittelpunkt nach hunderten binnenländischer Rennbahnen und Wettringe und in zahllose Privatkreise übergreifenden Wirkungen, ihren Einfluß auf die Vertheilung und Circulation gewaltiger Geldsummen, auf den socialen Verkehr der Volksclassen und die Bildung des Volksgeistes im Einzelnen zu verfolgen, verbieten die Grenzen des uns gesetzten Raumes. Eine kurze Hinweisung auf einige noch unerwähnte, professionell mit dem Tattersall in Verbindung stehende Figuren, aus deren Mitte ich die Gestalten des Journalisten, des Agenten und des Turfpropheten auswählen will, mögen zur Ergänzung genügen.
Der Journalist des Tattersall hat das Geschäft des Berichterstatters der Börse. Tägliche authentische Nachrichten über den Preiscourant der berühmtesten Rennpferde, über die angebotenen und angenommenen Wetten, über die Menge der Besucher, über den Ton und die Gegenstände der Unterhaltung, kurz über sämmtliche nennenswerthe Vorgänge des Tattersall werden von ihm erwartet. Das Interesse an diesen Dingen ist so allgemein, daß nicht blos in den Sporting-Journalen, sondern in allen politischen Tageblättern der „Tattersall“ eine stehende Rubrik bildet, deren Abwesenheit sofort von Tausenden von Lesern würde vermißt werden. Die beschäftigtste Zeit des Journalisten (wie auch der Agenten und Turfpropheten) sind natürlich die Frühlings- und Sommermonate, so lange das Wetter die Rennbahn offen hält; aber ganz ohne Stoff ist er selten, obgleich sein Gebiet ungleich weniger ergiebig ist, als das seiner umherreisenden journalistischen Fachgenossen, die unter den Pseudonymen „Hotspur“, „Nimrod“, „Argus“ u. a. über die Ereignisse aller Hauptrennbahnen Berichte liefern. Da diese letzteren gründliche Kenner von „Pferdefleisch“ sein müssen, verbinden sie mit dem Journalistenamt gelegentlich auch das der Agenten und Turfpropheten, ohne jedoch der eigenthümlichen Stellung jener beiden Classen wesentlich Eintrag zu thun. Eine besondere Classe von Turfmänner bilden die sogenannten Tipsters, d. h. Leute die auf ein Rennpferd tippen, prophetisch darauf hinweisen, als den Sieger in einem bestimmten Wettkampf der Rennbahn. Manche Tipsters bieten ihre Dienste durch Annoncen feil: einen Schilling für eine Prophezeiung (tip), zwei Guineen für alle Hauptereignisse eines Turfjahres. Andere haben reiche Gönner und feste Engagements, reisen, kundschaften, correspondiren und telegraphiren von Ort zu Ort und leben herrlich und in Freuden, bis auch sie die Nemesis des Hazardspiels auf eine oder die andere Weise erreicht.
[720] Ueber die Moralität des Turf und des Tattersall ließe sich ein langes Capitel schreiben. Doch wir haben dem Leser hinreichende Materialien geliefert, woraus er sich über diesen Punkt ein Urtheil bilden kann, und er mag selbst entscheiden, inwiefern die von dem echten Briten beanspruchte Superiorität des Tattersall vor einer „Spielhölle“ stichhaltig ist. Zum Schluß sei nur bemerkt, daß auch in England alle intelligenten Beobachter die Entartung des Instituts der Rennbahn in ein Institut der Schwindelei und des Hazardspiels beklagen und die Ausscheidung so vieler Mißbräuche von den anerkannten Vorzügen eines der merkwürdigsten Volksspiele befürworten.