Elf Blutzeugen deutscher Freiheit
Es war eine wilde stürmische Septembernacht des Jahres 1809, als ich, von Düsseldorf heimkehrend, vor Wesel, meiner Vaterstadt, anlangte. Vergebens forderte ich am Thore Einlaß; statt des brummenden Invaliden mit dem verwetterten und doch gutmüthigen Gesichte, der mich sonst gegen Verabreichung eines kleinen Trinkgeldes nach kurzem Parlamentiren einließ, stießen mich dieses Mal bärtige finstere Männer zurück, die in französischer Sprache in das Sturmwetter hinausfluchten. Meiner Versicherung, daß ich Weseler Kind sei und im Vaterhause erwartet werde, setzte man kurze Antworten und Drohungen entgegen, und so blieb mir schließlich, um dem strömenden Regen zu entgehen, nichts übrig, als vor der Stadt Schutz zu suchen. Nach vieler Mühe gelang es mir, etwa eine Viertelstunde von der Stadt in der Richtung der Porte de Secours in einer elenden, nur von armen Fuhrleuten und Sandkärrnern besuchten Schenke ein Unterkommen zu finden. Zorn und Trauer über das schmachvolle Elend des Vaterlandes hielten mich wach. Aber auch die Neugierde regte mich auf. Weit und breit zitterte Alles vor der napoleonischen Macht, nirgends war ein Feind in der Nähe und doch war die Stadt verschlossen, als wenn ein Ueberfall bevorstände. Welch Unheil brütete in ihren
[5]Mauern? was konnte die Unterdrücker veranlassen, in so auffallender Weise mitten im Frieden Maßregeln zu ergreifen, die auf Unsicherheit und Furcht hindeuteten?
Lange Stunden saß ich so in Gedanken versunken an einem kleinen Fenster der Schenke und bemerkte nicht, daß die Wucht des Sturmes sich gebrochen und der Regen nicht mehr an’s Fenster prasselte. Plötzlich traf ein matter Schein meine Augen. Aus der geöffneten Porte de Secours drang eine kleine Schaar Männer, von dem Glanze flackernder Lichter gespenstig beleuchtet. An dem gleichmäßigen Takte ihrer Schritte erkannte ich, daß die Näherkommenden Soldaten waren. Voll Neugierde, was der geheimnißvolle Auszug in so früher Stunde wohl bedeuten möge, verließ ich die Schenke und ging den ziemlich rasch Marschirenden entgegen. Ich konnte bald Alles erkennen. Ein invalider Sergeant-Major commandirte sechs Mann, die aber nicht mit kriegerischen Waffen, sondern mit friedlichen Spaten und Schaufeln versehen waren. Meine neugierige Frage würdigte der alte Führer der kleinen Schaar keiner Antwort; schweigend setzten sie ihren Weg weiter. Ich folgte scheu in einiger Entfernung. Bald bogen sie von der Landstraße ab. Durch den anhaltenden Regen waren die Wasser [6] des Rheines und der Lippe so geschwollen, daß sie, die gewohnten Ufer verlassend, sich über die Wiesensfläche ergossen und nur eine höher gelegene Stelle und einen schmalen Streifen Landes, der zu ihr hinführte, frei ließen. Dorthin marschirte die Truppe. Auf der Höhe angekommen gebot der Führer Halt, mit dumpfer Stimme, als fürchte er sein Geheimniß zu verrathen. Die Soldaten ergriffen schweigend ihre Hacken und Schaufeln und wühlten in der weichen Erde. – Das Räthsel der verschlossenen Thore, das mich einige Stunden zuvor mit ahnendem Grauen erfüllt, war gelöst; die Antwort, die mir der alte Sergant verweigert, gab mir die Arbeit der Soldaten. Sie gruben drei Gräber – Gräber jedenfalls für Opfer des napoleonischen Despotismus. Ein banger Schauder machte mich beben. Unwillkürlich mußten mir die Heldenmüthigen elf jungen Officiere von Schill’s Corps einfallen, die, zu Stralsund nach verzweifeltem Kampfe gefangen, in Wesel des Urtheils harrten. Noch zweifelte ich, noch wagte ich nicht zu glauben, daß die Ueberhebung des fremden Tyrannen so weit ginge, deutsche Jünglinge, die, auf deutschem Boden für des Vaterlandes Befreiung die Massen führend, in ehrlichem Kampfe unterlegen waren, mit kaltem Blute zu morden. Bald sollte auch dieser Zweifel mir benommen werden.
Der Tag begann zu grauen, sodaß man wohl von weitem die düstere Arbeit aus der erhöhten Stelle sehen konnte. Landleute aus der Umgegend, Städter, die sich verspätet und gleich nur die Nacht vor den Thoren hatten zubringen müssen, kamen herbei und mehrten die traurige Gruppe. Durch ihre mitleidsvollen Ausrufungen, durch ihre leisen, zwischen den Zähnen verhallenden Flüche, erhielt ich Gewißheit.
Die Arbeit war vollbracht, der Tag brach an. Die kleine Truppe verließ den Platz und zog sich schweigend, wie sie gekommen, durch die nun geöffneten Thore in die Stadt. Wie lange hatte ich mich gefreut, die heimischen Mauern wieder zu sehen!
Wie schön hatte ich mir die Ueberraschung meiner Lieben ausgemalt! Und nun zog ich ein in meine Vaterstadt in düsterer unheilvoller Gesellschaft, mit Thränen in den Augen, nicht Thränen der Freude, sondern des Kummers und der Wehmuth! Die erste Frage, als ich mich den zärtlichen Umarmungen meiner Lieben entwunden, galt dem Schicksale der gefangenen Officiere. Wie viel Trauriges sollte ich erfahren!
Schill’s Ende ist bekannt. Er hatte sich eben getäuscht. Noch war der Haß nicht zum Zorne, nicht zur That gereift, noch loderte nicht die Flamme der Begeisterung, die vier Jahre später die ganze deutsche Jugend freudig zu den Waffen greifen ließ. Nach kurzem, von vielen Heldenthaten geschmücktem Zuge fiel er und mit ihm Hunderte seiner Genossen im Kampfe der Verzweiflung in den Straßen der Ostseestadt Stralsund. Wohl ihnen! sie hatten nicht die Qual schimpflicher Gefangenschaft, nicht den Hohn französischer Kriegsgerichte zu erdulden. Anders und härter erging es jenen, die auf Schill’s Zuge oder bei dem Falle Stralsunds in die Hände des Feindes gefallen waren. Der feindliche General Gratien ließ die Gefangenen – 11 Officiere, 557 Unterofficiere und Gemeine und 12 Frauen – in eine Kirche einsperren, versicherte dabei aber, daß ihnen kein Leid geschehen solle. Am 10. Juni zog Gratien ab, und sämmtliche Gefangene wurden nun nach Braunschweig gebracht. Hier zeigte sich das Mitgefühl der Einwohner zu den tapferen Landsleuten in hohem Grade; manchem der Unglücklichen wurde zur Flucht verholfen, bis der Gouverneur drohte, bei weiteren Befreiungsversuchen die Stadt plündern zu lassen. Anfangs Juli wurden auf Befehl Napoleons die Frauen und Krüppel entlassen und über 500 Mann ohne Verhör, noch Urtheil nach Brest und Cherbourg geschleppt, um dort, an die Galeerenkette geschmiedet, Sclavenarbeit zu verrichten. Ueber vierzehn Unterofficiere und gemeine Soldaten wurde aber schon zu Braunschweig Kriegsgericht gehalten. Auf Napoleons ausdrücklichen Befehl mußten Deutsche über die deutschen Tapferen, meist Preußen aus dem Magdeburgischen und Halleschen, zu Gerichte sitzen und sie zum Tode verurtheilen, „weil sie als westphälische Unterthanen die Waffen gegen ihr Vaterland (!) getragen hatten.“ Auf drei Tage, 18., 20. und 22. Juli, vertheilte der Befehl Napoleons die Hinrichtung, damit die blutige Sache um so mehr Eindruck mache auf das unter das französische Joch nur mit Zähneknirschen sich beugende Volk. Auf einem wüsten sandigen Platze vor dem östlichen Thore der Stadt fielen sie unter den meuchlerischen Kugeln der französischen Schergen.
Die elf zu Stralsund gefangenen Officiere aber wurden von Braunschweig zuerst nach Cassel, von da nach Frankreich geschleppt und dort kurze Zeit in mehreren Gefängnissen der Mosel und Somme festgehalten; von hier aus sollten sie nach Wesel gebracht, um, wie man ihnen vorspiegelte, den preußischen Behörden überliefert zu werden. Die französischen Soldaten, welche sie auf ihrer traurigen Reise von Festung zu Festung begleiteten, von deren edler muthiger Haltung gerührt und wohl sich schämend, Schergen an Kämpfern der Freiheit machen zu müssen, bewachten sie nur schlecht und boten ihnen häufig Gelegenheit zur Flucht. Die Unglücklichen verschmähten dies, denn nie, glaubten sie, werde der Feind so ehrlos sein, Männer als Verbrecher zu behandeln, die für ihr Vaterland gestritten. In Montmedy theilten sie eine Weile mit zwei andern Officieren des Schill’schen Corps, die schon vor der Katastrophe zu Stralsund, bei dem Treffen zu Dodenkorf in Feindes Hände gefallen waren, das Gefängniß. Einer von diesen erfuhr von einem Knaben, daß man die eilf anderen Officiere nicht an die Behörden ihres Vaterlandes abliefern, sondern von einem französischen Kriegsgerichte aburtheilen und erschießen lassen werde; er theilte ihnen dies mit und beschwor sie, jede Gelegenheit zur Flucht zu benutzen. Vergebens; die Verblendeten achteten nicht auf seine Warnung, sie hielten das ihnen drohende Geschick für unglaublich, ja einer derselben, Leopold Jahn, Gemahl einer Reichsgräfin von Papenheim, ließ sich in der festen Zuversicht, daß seine hohen Verwandten, die großen Einfluß am bairischen Hofe besaßen, für ihn und seine Cameraden sich verwenden würden, und sie so auf gesetzliche Weise ihre Kerker verlassen konnten, von seinen Cameraden das Ehrenwort geben, nicht zu entweichen. Kurz nach ihrem Wiedereintritt in deutsches Gebiet wurden sie in Geldern in ein schlechtes baufälliges Gefängniß gebracht, der Aufseher desselben, von den patriotisch gesinnten Einwohnern gewonnen, verlor in ihrem Kerker absichtlich die Gefängnißschlüssel, doch als er des Morgens später als gewöhnlich wiederkam, empfing er verwundert und erschrocken zugleich aus den Händen seiner Gefangenen die verlorenen Schlüssel.
„In der Citadelle von Wesel wird man keine Schlüssel mehr verlieren,“ bemerkte er und erhielt hierauf die männliche Antwort: .. „Das festeste Schloß ist unser gegebenes Wort.“
Mitte August kamen die Gefangenen nach Wesel, wo sie sofort auf der Citadelle in engste Haft genommen wurden. Der Gouverneur von Wesel, Divisionsgeneral Dallemagne, setzte sofort die militärische Specialcommission zusammen, welche die Untersuchung führen und das Urtheil fällen sollte. Mit Mühe gelang es ihm, einen Präsidenten für das Blutgericht zu finden. Zuerst bestimmte er hierzu den Befehlshaber der Portugiesen, die sich in Wesel befanden, dann den Bataillonschef Jarin, Beide aber meldeten sich krank. Die Specialcommission versammelte sich zum ersten Male Anfangs September im Saale der Citadelle, die Gefangenen wurden diesmal nur um Namen, Geburtsort und Dienstzeit gefragt. Ein Herr von Brinken, der dabei als Dolmetscher fungirte, sah bei dieser Gelegenheit das Decret Napoleons wegen Verurtheilung der elf Officire, welches der Greffier der Commission wohl absichtlich in der Stube des Gefangenwärters hatte liegen lassen, es lautete: „Die elf Officiere des Schill’schen Corps, welche mit den Waffen in der Hand gefangen wurden, sollen zu Wesel vor ein Kriegsgericht gestellt, als Räuber behandelt und gerichtet werden.“ So war also deren Tod schon beschlossen, bevor noch die trügerische Form, in der sich die Gewalt mit dem Scheine der Gerechtigkeit umhüllen wollte, ausgespielt war. Der Capitain-Rapporteur Carin vom 21. Regiment leichter Infanterie führte die weitere Untersuchung. Von dem Muthe und der Jugend der Gefangenen gerührt, legte er ihnen im ersten Verhöre nur Fragen vor, die ihre militärische Stellung betrafen, und machte einen für sie günstigen Bericht, auf den hin kein Todesurtheil gefällt werden konnte. Der Präsident des Gerichtshofes aber, getreu dem Befehl, daß die Gefangenen für schuldig befunden werden müßten, wies diesen Bericht zurück und trug dem Capitain-Rapporteur auf, die Untersuchung wieder zu beginnen und den Officieren die Frage vorzulegen, „wo Schill das Geld hergenommen habe, um während des Zuges seine Truppen zu bezahlen.“
Die Officiere konnten nicht leugnen, daß sie beim Durchzuge durch fremde Gebiete im Königreiche Westphalen und im Mecklenburgischen auf Schill’s Befehl öffentliche Cassen weggenommen hatten. Das war genügend, um sie zu verurtheilen, darum wurde auch auf dieses Geständniß hin sogleich die Voruntersuchung geschlossen.
Sobald die Gefangenen erfuhren, daß man sie als Räuber [7] anklage, suchten sie sich einen Rechtsbeistand. Herr Noul Perwez aus Lüttich, der sich in Wesel als Defenseur-Officier befand, übernahm auf die edelmüthigste Weise dieses gefährliche Amt; noch ehe er es aber üben konnte, kam schon aus Paris der Befehl des Polizeiministers, daß er Wesel zu verlassen habe, um in Lüttich unter Polizeiaufsicht gestellt zu werden. Mit vieler Mühe wurde es ihm gestattet, so lange in Wesel zu bleiben, bis das Kriegsgericht sein Urtheil gefällt habe.
Am 16. September, dem Tage meiner so traurigen Heimkehr in’s Vaterhaus, sollte das Kriegsgericht zusammentreten, um die noch blühenden Jünglinge bald als verstümmelte Leichen dem Grabe zu übergeben. Die Kunde von jener nächtlichen Arbeit und von dem abzuhaltenden Kriegsgerichte war in die Stadt und die Umgegend gedrungen. Landleute von dem linken Ufer der Lippe hatten sich über den ausgetretenen Fluß in einem Nachen übersetzen lassen und waren an der wasserfreien Anhöhe, wo die Gräber sich befanden, gelandet. Aus Fürstenberg und der Stadt strömten die Leute zur Mordstelle, so daß zuletzt der General Lamoine aus Furcht, die Theilnahme und Entrüstung über das ungerechte Verfahren möchte die Volksmenge zu einem Angriffe auf die Mörder bewegen, um 9 Uhr Morgens, als das Kriegsgericht begann, alle Stadtthore auf’s Neue schließen, die Wachen verstärken und Versammlungen der Einwohner auf den Straßen verbieten ließ. Die grausige nächtliche Scene hatte mir schon das Urtheil verkündet, bevor es noch gefällt war, dennoch wollte ich dem Kriegsgerichte beiwohnen, um in dem muthigen Betragen der Jünglinge mir ein erhebendes Beispiel zu nehmen. Trotz Empfehlung erhielt ich aber keine Erlaubniß. – Um 9 Uhr des Morgens trat das Kriegsgericht auf der Citadelle zusammen, von Grenadieren begleitet wurden die elf Gefangenen ungefesselt vorgeführt, es waren:
Leopold Jahn, 31 Jahre alt, aus Massow in Preußisch-Pommern, früher Lieutenant in einem Husaren-Bataillone; er hatte seine Gattin mit einem Säugling an der Brust verlassen, um für das Vaterland zu kämpfen und zu sterben.
Daniel Schmidt aus Berlin, 29 Jahre alt, Volontair-Officier im Schill’schen Corps.
Ferdinand Galle aus Berlin, 29 Jahre alt, Lieutenant.
Adolph Keller aus Straßburg in Ostpreußen, Lieutenant.
Friedrich von Trachenberg, 25 Jahre alt, aus Rathenow in der Mark Brandenburg.
Constantin von Gabain, 25 Jahre alt, aus Geldern, Junker.
Carl Wedell aus Braunsfort in Pommern, 23 Jahre alt, Lieutenant.
Friedrich Felgentreu aus Berlin, 22 Jahre alt, von Schill zum Officier seines Artillerie-Frei-Corps ernannt.
Albert Wedell aus Braunsfort in Pommern, 20 Jahr alt, früher Lieutenant bei den Truppen des Herzogs von Köthen.
Ernst Friedrich von Flemming, 19 Jahre alt, aus Rheinsberg in der Mark Brandenburg, war außer Dienst, als er in Stralsund dem Schill’schen Corps sich anschloß.
Carl von Keffenbrink aus Krien in Pommern, 18 Jahre alt.
Noch denselben Tag erfuhr man, daß diese elf Jünglinge, auserkoren als Blutzeugen für die Wahrheit und Gerechtigkeit der vaterländischen Sache zu sterben, sich vor dem Kriegsgericht würdig dieser hohen Ehre gezeigt hatten. Keine Entschuldigung, keine Bitte, keine Klage war über ihre Lippen gekommen; statt sich zu vertheidigen, hatten sie auf das geknechtete Vaterland hingewiesen, dessen Schmach zu rächen ihre Pflicht gewesen sei. „Wir sind schuldig für des theuern Vaterlandes Freiheit und Recht gekämpft zu haben und bereit dafür zu sterben,“ hatten sie wie aus einem Munde am Ende ihres Verhöres gerufen. Einer von ihnen, hingerissen von aufwallendem Edelmuthe, hatte sich als Opfer für seine Freunde angeboten, aber die Uebrigen hatten dies Opfer zurückgewiesen, denn sie alle geizten nach dieser Ehre. – Auch der Vertheidiger Perwez hatte mit vielem Feuer gesprochen und mit logischer Schärfe nachgewiesen, daß Schill nicht ohne Vorwissen der preußischen Regierung gehandelt habe und von dieser erst später seinem Schicksale überlassen und desavouirt worden sei; habe aber Schill auf höheren Befehl gehandelt, so sei weder er ein Räuber, noch seine Cameraden strafbar, aber selbst wenn er ohne höhere Befehle gehandelt, so seien die Angeklagten nicht strafbar, weil sie, dies nicht wissend, durch den militärischen Gehorsam gezwungen gewesen seien, Schill zu folgen. Geschickt hatte der Vertheidiger mehrere Artikel des Gesetzes zum Vortheile seiner Clienten angewendet und sich so freimüthig geäußert, daß der Präsident ihm mehrmals zu schweigen gebot.
Mit stolz erhobenem Haupte und hellleuchtenden Augen sah man bald nach 10 Uhr die Gefangenen wieder den Gerichtssaal verlassen. Ohne Murren boten sie ihre Hände den Fesseln und ließen sich in’s Gefängniß zurückführen. Das Kriegsgericht blieb noch eine kleine Weile beisammen, bald aber verließen auch seine Mitglieder den Ort, wo sie ihre Ehre mit einem so ungerechten Urtheile befleckt hatten. Fast in demselben Augenblicke wurde das Urtheil in deutscher und französischer Sprache an allen Straßenecken angeschlagen.
Die elf Jünglinge wurden zum Tode durch Erschießen verurtheilt, zufolge dem 1. Artikel des Gesetzes vom 29. Nivose des Jahres VI, welcher lautet: „Diebstahl mit offener Gewalt oder durch Gewaltthätigkeit auf öffentlichen Wegen und Straßen begangen, Diebstahl in bewohnten Häusern mit Einbruch von außen oder Einsteigen mit Leitern, soll mit dem Tode bestraft werden.“ – Das Urtheil sollte binnen vierundzwanzig Stunden vollzogen werden.
Gegen ½12 Uhr kam ich zur Wache und hörte, wie man den elf Officieren das Todesurtheil verkündete. Anfangs schienen sie betroffen, die Lust zum Leben hatte ihnen bis jetzt die Hoffnung auf ein günstigeres Urtheil vorgespiegelt, bald aber ermannten sie sich wieder und zeigten sich bis zum letzten Momente ihres Lebens als heldenmüthige Männer. Sie erhielten nur noch die Erlaubniß, den Ihrigen das letzte Lebewohl zu schreiben, aber sie mußten sich beeilen, denn nur noch kurze Zeit gönnte man ihnen zu leben.
Lauter Trommelwirbel erschallte um 1 Uhr Mittags durch die Straßen der tiefbetrübten Stadt; aus der Citadelle ritt eine Abtheilung mit gespannten Carabinern, dann folgte eine Compagnie Grenadiere, diesen zunächst die zur Execution befehligten Kanoniere. Alle beobachteten tiefes, banges Schweigen. Ueber die Wange manches bärtigen Kriegers rollten Thränen der Entrüstung über den schmachvollen Dienst, zu dem man sie zwang, denn selbst die fremden Krieger, die schon vieles Leid gesehen und bei manchem Unrecht mitgeholfen, fühlten die Schwere dieses Unrechts und die tückische kleinliche Sache, die hier begangen wurde. Mit aufrechtem Haupte und einem Blicke, den Freude verklärte, als könnten sie in der fernen Zukunft schon den Tag erspähen, wo ihr Tod gerächt und das Vaterland befreit würde, gingen die elf Schlachtopfer, zu zweien und dreien mit dünnen Stricken an den Armen aneinander gebunden, in der Mitte der Kanoniere. Als man die beiden Brüder Wedell, die mit rührender Zärtlichkeit die letzten Schmerzenstage ihres jungen Lebens sich zu erheitern gesucht hatten, im Hofe der Citadelle aneinander binden wollte, sagte der eine „Ach! sind wir nicht schon durch die Bande des Blutes eng genug verknüpft, daß man uns noch auf eine so schändliche Art zusammenbinden muß?“ Aber auch sie mußten gefesselt den Weg zu ihrem Grabe gehen. – Eine Compagnie Voltigeurs schloß den grausigen Zug, der langsam aus dem Hauptthore der Citadelle über die Esplanade nach dem Berliner Thore sich bewegte. Kein Bewohner der Stadt durfte ihm vor das Thor folgen, so daß auch ich trotz einer Empfehlung zurück bleiben mußte. Auf den Tod betrübt ging ich nach Hause – eine bange Viertelstunde verstrich – da hörte ich das ferne Donnerrollen der Gewehre; das Drama hatte sein blutiges Ende gefunden. – Eine andere Feder mag es schildern.
Ein Theil der Bewohner der Stadt war vor Schließung der Thore hinausgegangen, von ferne schon vernahmen sie den todverkündenden Trommelschlag mit banger Erwartung und tiefbetrübter Seele, da so viele hochherzige Söhne des Vaterlandes auf einmal von französischen Kugeln dahin gestreckt werden sollten. Unter diesen trauernden Bürgern befand sich auch Herr J., ein Freund Gabain’s, auf den er an der Stelle, wo jetzt der Wegweiser vor dem Berliner Thore steht, mit dem schmerzlichen Gefühle eines solchen Wiedersehens auf dem heimathlichen Boden wartete! Der Führer des Zuges bemerkte den Wartenden und fragte ihn, ob der Weg zum Richtplatze rechts führe; jener erwiderte aber, daß die Wiese und die Straße nach der Lippe zu überschwemmt seien, der Zug müsse daher links den Weg nach dem Fürstenberg einschlagen; dies geschah auch. Bald kamen die elf Gefangenen auf den Wartenden zu. In edler Haltung, erhaben über ihr unverdientes Unglück und voll der Ahnung, daß einst das Vaterland wieder frei und ihr Herzblut nicht umsonst verspritzt sein werde, schritten sie ohne Todesfurcht einher inmitten der Kanoniere, und nöthigten dem Feinde selbst Achtung und Bedauern ab. Das Anerbieten, nach dem Richtplatze zu fahren, hatten sie abgewiesen, da sie zum letzten Gange [8] noch Kraft genug hätten. Dessenungeachtet ließen die Franzosen einige auf der Straße aufgegriffene Bauernkarren dem Zuge nachfahren. Herr J. eilte nun sogleich auf seinen Schulfreund Gabain zu, ohne daß die Franzosen es hinderten, und sprach mit ihm weitergehend von der vergangnen schönen Jugendzeit und der todesschwangeren Gegenwart. Flemming oder Felgentreu, der im Zuge vor ihnen herging, fragte Gabain, wer der Begleiter sei. Da er hörte, es sei ein Weseler Bürger und ehemaliger Schulcamerad, so sagte er zu Herrn J: „Kommen Sie mit uns und sehen Sie, wie preußische Officiere sterben!“ So ging Herr J. mit dem Zuge, bis dieser auf den Richtplatz gelangte, wo sich um die drei großen Gräber die Truppen in einem Halbkreise aufgestellt und viele Zuschauer versammelt hatten. Die Gefangenen stellten sich in eine Reihe nebeneinander, ohne in den letzten Minuten des Lebens im Geringsten ihre bisher gezeigte würdevolle Haltung zu verlieren, selbst die Jüngsten unter ihnen zeigten eine Todesverachtung, wie sie selbst bei alten ergrauten Kriegern selten ist.
Eine tiefe Stille herrschte rings im harrenden Kreise; alle standen in gespannter Erwartung, denn nur wenige Minuten noch, und elf in ihrer Jugendkraft blühende Jünglinge lagen zerschmettert auf der kühlen Erde, die den Lebenden zu ihrem Empfang drei dunkle Grabesbetten schon zeigte. Die zur Execution bestimmten 66 Kanoniere traten den Elf gegenüber. Sechs Kugeln waren für jeden bestimmt. Eine Abtheilung stand in Reserve. Die Trommeln schwiegen. Als der Adjutant vom Platze den Verurtheilten noch einmal das Urtheil vorlesen wollte, verweigerten sie diese unnütze Entschuldigung des gewaltsamen Mordes anzuhören. Doch baten sie mit offenen Augen die Todeswunde empfangen und selbst das Zeichen dazu geben zu dürfen. Diese letzte Bitte wurde ihnen gewährt. Noch einmal umarmten sie sich mit den freien Armen und vor allen das Brüderpaar Wedell, allen Zuschauern ein schmerzlicher Anblick. Noch einmal schauten sie voll Wehmuth nach Osten, nach dem theuern Heimathlande und sandten den Geliebten den letzten Gruß, entblößten dann Hals und Brust und riefen den gegenüberstehenden Kanonieren zu, das deutsche Herz nicht zu fehlen. „N’ayez pas peur, les canoniers français tirent bien!“ erwiderte einer der Schützen; darauf riefen die Heldenjünglinge, in deren hochwallender Brust die Liebe für König und Vaterland zum letzten Male aufloderte, alle zugleich: „Es lebe unser König, Preußen hoch!“ In diesem Augenblicke warf Ernst von Flemming, der am Ende des linken Flügels stand, zum Todeszeichen seine Mütze in die Luft, da krachten die 66 Musketen, und Pulverdampf umhüllte wie ein graues Leichentuch die Gefallenen. Zehn lagen todt auf dem kalten Rasen; einer aber, Albert von Wedell, stand noch aufrecht, ihm war nur der Arm zerschmettert; mit fester Stimme rief er dem Commando zu, besser auf das preußische Herz zu zielen. Da trat eine neue Section schnell vor, und ihre Kugeln streckten auch ihn darnieder. So empfingen sie die letzte Wunde der Erde in ihre männliche Brust; kein Schmerz drängte sich zwischen ihr Sterben und die Unsterblichkeit. Ihr letzter Gedanke war das Vaterland. –
Fast vier Jahre noch nach dem Blutgerichte zu Wesel lag der Druck der napoleonischen Herrschaft auf Deutschland. Gott aber sprach im Jahre 1812 im hohen Norden das Urtheil über den Sohn des Südens, der, Wahrheit, Recht und Freiheit verachtend, durch Lüge, Hinterlist und Gewalt seinen blutigen Thron auf den Trümmern Europa’s errichtet; wenige Monden noch, und die Begeisterung, welche die elf Jünglinge in den Tod geführt, wehte wie ein belebender Odem durch Deutschland, ergriff die erstorbenen Glieder unseres Nationalkörpers und fügte sie aneinander. Eine Gluth durchzuckte alle Herzen und rettete das Vaterland. Am 3. Februar 1813 erschien der Aufruf des Königs von Preußen, der die Jünglinge zu den Waffen rief. Am 18. October 1813 schon ward die Schlacht bei Leipzig geschlagen, und Napoleon verließ in wilder Flucht Deutschland, um nie wieder seine Fluren zu betreten. Am 30. März 1814 zogen die Verbündeten in Paris ein, aber erst am 10. Mai 1814 öffnete Wesel seine Thore den Preußen. Ueber das Märtyrer-Grab war seither das Gras gewachsen, und nur der wiederkehrende Frühling schmückte es alljährlich mit seinen duftenden Kindern – den Blumen. Nun aber, in der Freiheit Morgenroth, erinnerte man sich der Gemordeten, die schon in dunkler Nacht den kommenden Tag der Freude und der Freiheit verkündet; die Einwohner Wesels bepflanzten jetzt die Gräber mit Pappeln und Akazien und umgaben sie mit einer grünen Umzäunung. Im Jahre 1815 wollte die Freimaurerloge zum goldenen Schwerte mit einem einfachen Denkmal den Platz zieren, allein es wurde nicht erlaubt. Es folgten die rauschenden Feste der Höfe und des Wiener Congresses, es constituirte sich der Bundestag, die Carlsbader Beschlüsse wurden gefaßt, Specialcommissionen und Blutsenate ernannt, – Alles, um den Geist wieder zu bannen, den man einst zur Rettung der Throne heraufbeschworen.
Die Bäume auf dem Grabe der Ermordeten aber wuchsen und gediehen von ihrem Marke, in ihren Blättern rauschte es, wie leise Klagen über die Undankbarkeit, die das Opfer jener elf Helden, deren Gebeine hier moderten, und die Hingebung des ganzen deutschen Volkes vergessen. Endlich nach sechsundzwanzig langen Jahren, fünf Jahre nachdem die Julirevolution Frankreich’s die Regierungen an ihre Sünden gemahnt, am 31. März 1835 wurde den Vergessenen ein Denkmal gesetzt, nicht aber von der Regierung des Fürsten, mit dessen Namen auf den Lippen sie gestorben waren, sondern aus Beiträgen des preußischen Heeres. – Das alte Lied – das alte Leid!
Bei der Erinnerung an das leuchtende Beispiel dieser Blutzeugen aber wollen wir uns geloben, ihnen nachzuahmen und dem Vaterlande, wenn es wieder Noth thun sollte, Alles zu opfern, selbst auf die Gefahr hin, wiederum von Undankbaren vergessen und – verleugnet zu werden. Alles für deutsche Ehre und deutsches Vaterland – aber auch nur für diese!