Eisenbahnreisen der Kinder
[451] Eisenbahnreisen der Kinder. Es ist eine wohlbekannte Thatsache, daß das Rechtsbewußtsein des Volkes, wo es gilt, auf Kosten der Gemeinschaft einen Vortheil zu erringen, mitunter auf recht schwachen Füßen steht. Gar Mancher hält sich für ehrlich und rechtschaffen, weil er es gegen den Einzelnen ist, macht sich aber kein Gewissen daraus, gelegentlich einmal den Staat zu hintergehen, z. B. durch Einschmuggelung zollpflichtiger Gegenstände, durch falsche Angaben bei der Steuereinschätzung oder durch ähnliche Handlungen.
So verhält es sich auch bei den Reisen mit Kindern. Bekanntlich zahlen auf den deutschen Bahnen Kinder unter 4 Jahren, wenn ein besonderer Platz für sie nicht beansprucht wird, kein Fahrgeld und Kinder von 4 bis 10 Jahren nur die Hälfte des gewöhnlichen Fahrgelds.
Um diese Vortheile zu erreichen, werden Kinder, welche das vierte oder zehnte Lebensjahr überschritten haben, von ihren Begleitern zuweilen für jünger ausgegeben, was bisher auch meist straflos geschehen konnte. Neuerdings haben aber verschiedene Eisenbahnen, unter Anderem die preußischen Staatsbahnen, ihr Fahrpersonal angewiesen, in allen solchen Fällen, wo Erwachsene das Alter der von ihnen mitgeführten Kinder zum Zwecke der Fahrgeldersparniß wissentlich falsch angeben, nicht allein den doppelten Fahrpreis, mindestens 6 Mark einzuziehen, sondern auch den Namen der Betreffenden festzustellen, damit nach Befinden die Einleitung des Strafverfahrens wegen Betrugs veranlaßt werden kann.
Diese schärfere Auffassung, welche auch wir unsern Lesern zur Warnung mittheilen, wird zweifellos zu einer Verringerung der Mißbräuche führen. Daß die Eisenbahnen in ihrem vollen Recht sind, wenn sie die Erfüllung der Reglementsbestimmungen mit allen Mitteln durchzusetzen suchen, läßt sich nicht bestreiten; dagegen möchten wir bei dieser Gelegenheit der Frage näher treten, ob die gegenwärtigen für die Beförderung von Kindern auf den deutschen Bahnen geltenden Bestimmungen gerecht sind. Mit Rücksicht darauf, daß in den Nachbarländern die Altersgrenzen noch enger gezogen sind – es werden z. B. in Italien und Frankreich nur Kinder bis zu 3 Jahren unentgeltlich und Kinder von 3 bis 7 Jahren zur Hälfte des Fahrpreises befördert – können die deutschen Bestimmungen immerhin als vortheilhaft betrachtet werden. Trägt man aber dem Umstande Rechnung, daß das Reisen im Laufe der Jahre zu einem wirklichen Volksbedürfnisse geworden und daß namentlich in der Ferienzeit eine Reise für schulpflichtige Kinder von nicht zu unterschätzendem Werthe ist, so wird man sich recht wohl eine noch größere Erleichterung wünschen können.
Wie oft mögen Familien genöthigt sein, wegen der heranwachsenden Jugend ihre Reisen einzuschränken oder ganz aufzugeben, und wie oft mögen Kinder, welche die Altersgrenze überschritten haben, zu Hause bleiben müssen, während jüngere Geschwister mitgenommen werden! Ganz abgesehen von der Unzufriedenheit, die hierdurch hervorgerufen werden kann, und von der mangelhaften Aussicht, unter welcher solche Kinder oft zurückgelassen werden, fällt ins Gewicht, daß der Nutzen, welchen das Reisen bringt, gerade erst in dem Alter beginnt, mit welchem die Erschwerung durch die Fahrgelderhöhung eintritt.
Ein Kind unter 10 Jahren wird selten bleibende Eindrücke von einer Reise empfangen; älteren Kindern dagegen dient eine solche als wirksamstes Bildungsmittel. Aber auch als Erholung ist eine Reise unserer von Schulsorgen gedrückten reiferen Jugend zu gönnen. Der hohe Werth der Erholungsreisen für die Entwickelung der Kinder ist unter Anderem in den sogenannten Ferienkolonien zum Ausdruck gekommen: eine Einrichtung, welche von den höchsten maßgebenden Stellen wirksam dadurch unterstützt wird, daß das Fahrgeld erheblich herabgesetzt wurde, in Preußen z. B. um zwei Drittel des gewöhnlichen Fahrgeldes für Kinder.
Es bestehen an mehreren Orten Vereine, welche sich die Aufgabe gestellt haben, für die allgemeine Ermäßigung der Eisenbahnfahrpreise Stimmung zu machen; wir schließen uns diesen Bestrebungen an, indem wir vorläufig einer Hinausschiebung der Altersgrenze für Kinder bis zum vollendeten vierzehnten Lebensjahre das Wort reden. Niemand wird behaupten, daß Kinder von 10 Jahren aufhören Kinder zu sein, oder daß ein Kind von 12 bis 14 Jahren wesentlich mehr Platz beansprucht als ein solches von 8 bis 10 Jahren. Im Verhältniß zu Erwachsenen sind Kinder von 10 bis 14 Jahren keine vollwichtigen Personen und können sehr wohl noch zum halben Fahrpreis zugelassen werden, weil bei der vorgeschlagenen Begrenzung (4 bis 14 Jahre) das Durchschnittsalter 9 Jahre beträgt und weil mit Bezug auf Gewicht und Platz zwei Kinder von 9 Jahren nicht für mehr zu rechnen sind als eine erwachsene Person. Uebrigens bezeichnet auch nach unseren bürgerlichen Einrichtungen das vierzehnte Jahr einen Lebensabschnitt, mit dessen Erreichung die Kinder selbst aufhören wollen, als solche angesehen zu werden.