Eisberge
[351] Eisberge. (Mit Illustration S. 349.) Seitdem durch die Touristerei unseres Jahrhunderts das Hochgebirge für die große Masse der Reiselustigen so zu sagen erschlossen wurde, sind Firnfelder und Gletscher auch dem Bewohner des Tieflandes geläufige Begriffe geworden. Jedermann hat von ihnen etwas gehört und gelesen, hat auch Abbildungen derselben gesehen und zollt diesen großartigen Bildern der Natur die konventionelle Bewunderung. Wenige jedoch sind dem Forscher in jene hohen Regionen gefolgt und haben eine Ahnung von der großen Wirkung der Gletscher, welche unaufhörlich das Antlitz der Erde verändern; Wenige wissen es, daß auf den stummen Höhen der Alpen noch heute der Kampf fortdauert, der vor Jahrtausenden begonnen hat und kaum nach Jahrtausenden enden wird.
Der ewige Schnee und die Eisflächen, welche die Spitzen der Berge bedecken, bilden keineswegs eine schützende Hülle der kahlen Bergriesen; im langsamen, aber stetigen Strome fließt das Gletschereis zu Thal, zerbröckelt die Felsen und ebnet die Höhenzüge. Die norddeutsche Tiefebene ist reich mit Spuren dieses Kampfes besäet, die erratischen Blöcke und die an tiefen Seen aufgehäuften Steinhügel bezeichnen noch heute die Grenzen längst verschwundener Gletscher.
Nirgends tritt jedoch dieses Phänomen so großartig zu Tage, wie in den polaren Gegenden, wo der Winterkönig mit der eiszackigen Krone seinen Thron aufgeschlagen. Während der Eisstrom der berühmten Mer de Glace oberhalb von Chamounix in den Alpen höchstens 2000 Meter breit und 9800 Meter lang ist, erstreckt sich der Humboldt-Gletscher im westlichen Grönland über ein Gebiet von 110 Kilometer Länge und endet am Meeresufer mit einer steilen 100 Meter hohen Eiswand. Aber selbst auf diesen todten Eisflächen, aus denen nur hier und dort einzelne nackte Felsenspitzen hervorragen, herrscht keine Ruhe, auch hier sucht der Eisstrom das Thal oder die See zu erreichen und gelangt oft an sein Ziel unter stürmischen Katastrophen, die man die Lawinen der Polargegenden nennen könnte. Beim Eintritt der wärmeren Jahreszeit brechen die gewaltigen Eiszungen, welche die Gletscher in das Meer entsenden, mit gewaltigem Krachen ab, die Gletscher „kalben“, wie man zu sagen pflegt, und die losgelösten Eisstücke werden zu schwimmenden Inseln, die von der kalten Strömung nach südlicheren Strichen getragen werden.
Hier schmilzt das Eis unter dem Einfluß der Sonne und nimmt jene phantastischen Formen an, die wildzerklüfteten Felsen ähnlich sehen und nach denen die schwimmenden Blöcke „Eisberge“ genannt wurden. Grönland ist die vornehmste Geburtsstätte derselben, und von seinen Küsten ziehen von Ende März bis Anfang Juli die Eisberge in großen Scharen gegen den Süden, längs der nordamerikanischen Küste bis zum 40. Grad nördlicher Breite.
Dem Schiffer, der ihnen auf dem Ocean begegnet, bieten sie keinen willkommenen Anblick, mögen sie noch so märchenhaft dahingleiten auf den Fluthen des Meeres und noch so feenhaft glitzern in den Strahlen der untergehenden Sonne, denn wie die symplegadischen Felsen der Alten, welche die Einfahrt zum Schwarzen Meere bewachten, drohen sie den Menschen mit Verderben. Rettungslos ist das Schiff verloren, das zwischen eine Gruppe von Eisbergen gerieth oder den oft Kilometer langen Wall nicht umsegeln kann. Von den Eisbergen zermalmt oder in den Grund gebohrt, das ist das Los vieler Seefahrer, die auf dem Atlantischen Ocean verschollen sind. Um diesen Gefahren zu begegnen, haben neuerdings die seefahrenden Nationen die Einrichtung getroffen, daß alle Beobachtungen, die während der transatlantischen Fahrten über die Zahl und Bewegungslinie der Eisberge von den Schiffskapitänen angestellt wurden, von New-York nach Europa und von den europäischen Haupthäfen nach New-York telegraphisch berichtet werden. Die absegelnden Kapitäne können auf Grund dieser Nachrichten ihren Kurs ändern und der Gefahr wenigstens zum Theil aus dem Wege gehen.
Die Eisberge führen, wie jedes Gletschereis, auch Felsstücke mit sich, die, nachdem das Eis geschmolzen, auf den Meeresgrund sinken. Aus den Tiefen der tropischen See haben die Forscher vor Kurzem solche [352] Steine gehoben, die, wie wir dies früher mitgetheilt haben (vergl. Nr. 14 Jahrgang 1884), von den Gletschern Europas während der Eiszeit in jene südlichen Regionen getragen wurden.
Auch unfreiwillige lebende Passagiere hat man von Zeit zu Zeit auf den Eisbergen gesehen, Eisbären, denen die langsame Fahrt in den polaren Gewässern anfangs ein besonderes Vergnügen bereiten mag, bis sie freilich zu spät bemerken, daß der Zug nach Süden für sie nicht paßt und die Reise zu gebildeteren Menschen ihnen Verderben bringt.
Das südliche Polarmeer ist an Eisbergen viel reicher, als das nördliche, wie überhaupt die südliche Halbkugel in ihren höheren Breitegraden eine besonders starke Gletscherformation aufweist. In Südamerika steigen ja bekanntlich die Gletscher der Anden bis an den Meeresspiegel hinab, und ihre von dichten Waldungen umrahmten Ufer bieten einen eigenartigen Kontrast zwischen dem Reich des Lebens und dem des Todes. Leben doch dort Kolibri und Papageien in ausgesprochenen Gletscherlandschaften. – i.