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Einfahrt (Tucholsky)

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Textdaten
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Autor: Kurt Tucholsky
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Titel: Einfahrt
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aus: Lerne lachen ohne zu weinen, S. 40-42
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1932 (EA 1931)
Verlag: Ernst Rowohlt
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Erscheinungsort: Berlin
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Originalherkunft:
Quelle: ULB Düsseldorf und Scans auf commons
Kurzbeschreibung:
Erstdruck in: Vossische Zeitung, 6. Januar 1929
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[40]
Einfahrt

Erst tauchen auf dem grüngrauen Land ein paar Baracken auf, dann Häuschen, dann Häuser, da steht die erste Fabrik. Ein Holzlager. Grau ist die Natur – immer sieht die Grenze zwischen der Stadt und dem flachen Land aus wie ein Müll- und Schuttplatz. Da ist eine Vorortbahn, viele Schornsteine; die erste Elektrische. Noch rollt der Zug glatt und mit unverminderter Geschwindigkeit; Straßenzüge begleiten uns, noch mit Bäumen besetzt, dann bleiben die Bäume zurück; Reklametafeln, Wagen, Menschen, nun fährt der Zug langsamer und langsamer, nun rollt er im Schritt. Da – das sind die hohen Steinmauern der Einfahrt.

Schwarzgespült vom Rauch sind sie, ruhig und trübe; hier schlagen die Wellen der Fremde an das heimische Gestade … Heimisch? Für wen? Wir sind Fremde. Wir kommen in die fremde Stadt.

Die ahnt nichts von denen, die hier ankommen. Heute kommen an: achtundvierzig Leute, die nur ihr Geld ausgeben wollen – (zum Hotelportier: „Sagen Sie mal, wo kann man denn hier mal –?“); zweiunddreißig Reisende in Tuch, Eisenwaren und Glasstöpseln; ein Kranker, der einen Arzt konsultieren will; achtundsechzig Menschen, die in ihre Stadt zurückkommen, die zählen nicht; und Fremde, Fremde, Fremde: herangewanderte, arme Teufel, die ein Glück versuchen wollen, das sie noch nie gehabt haben – der berühmte junge Mann, der „mit nichts hier angekommen ist, und heute ist er …“ Fremde, Fremde.

[41] Unberührt von ihnen liegt die Stadt. Haus an Haus schleicht vorbei – wir sehen in die Kehrseiten der Häuser, wo schmutzige Wäsche hängt und rußige Kinder schreien, wo Achsen auf den Höfen ächzen und Küchen klappern – die Stadt zeigt uns Fremden ein fremdes Gesicht. Innen sieht sie ganz anders aus.

Es gibt an einer bestimmten Stelle Schreibmaschinen billiger; morgens um halb elf müssen alle Leute, die zur feinen Gesellschaft gehören wollen, in einer bekannten Allee ihr Auto einen Augenblick halten lassen; Mittag ißt man gut bei …, ja, das wissen wir nicht; Schuhe kauft man vorteilhaft … in welcher Straße? – im …-Theater ist eine herrliche Premiere mit einem wundervollen Krach zwischen dem Direktor und der Geliebten des Geldgebers. Ihre eigne Sprache hat die Stadt: statt „Geld“ sagt man hier … ja, das wissen wir nicht; um den Witz in der Zeitung zu verstehen, die sich der ganze Zug eine Station vorher gekauft hat, muß man wissen, daß es sich um Frau H. handelte, die mit einer Mörderin zusammen eingesperrt sowie homosexuell ist; auf dem Witzbild erkundigt sie sich nach ihrer Zellengenossin: „Ist sie blond –?“ fragt sie den Schließer – das verstehn wir alles nicht. Wir wissen gar nichts. Für uns ist das eine fremde Stadt.

Und wir werden ihr einen Teil unsres Lebens geben; wir werden uns einleben, die Stadt wird sich in uns einleben, und nach zwei Jahren gehören wir einander, ein bißchen. Wir sagen nicht mehr „gnädige Frau“ zur Stadt – wir sagen dann einfach „Sie“. Wir wissen schon, wo man vorteilhaft Regenschirme kaufen kann, und das mit der schicken Allee, und wo man gut und billig zu Mittag ißt, das alles können wir den neuen Fremden, die nach uns kommen, schon ganz leichthin sagen, als seien wir damit aufgewachsen, und als sei das gar nichts. Aber: du … du sagen wir noch nicht zur Stadt.

Das sagen nur die, die hier groß geworden sind. Die, die [42] ihre ersten Worte in ihren Gassen, in ihren Kinderliedern und auf ihrem Rasen gestammelt haben; die ein bestimmtes Viertel der Stadt auf ewig mit einer bestimmten Vorstellung verbinden, denn dort haben sie zum erstenmal geküßt; die in den vorweihnachtlichen Tagen im Omnibus in die Hände gepatscht und sich die Nase an den Scherben platt gedrückt haben. „Guck mal, Papa! Mama! Sieh mal, da —!“ und denen dort im Omnibus die Welt erklärt worden ist … die sagen du zur Stadt.

Die kümmert sich nicht um die Fremden, die täglich heranbrausen. Sie führt ihr Leben … wer will, darfs mitleben. Sie formt die Fremden langsam um, und wenn die Fremden Geduld haben, dann sind sie es nach zwanzig Jahren nicht mehr. Nicht mehr so ganz. Nur tief, im fremden Herzen, sind sie es noch: da frieren sie, die Fremden.

Da hält der Zug. Und alle steigen aus; sie suchen, die Wurzellosen, eine Heimat in der Heimat der Stadt, die schon eine Heimat ist: für die andern. In wieviel Städte werden wir noch einfahren –?