Einer Frühverstorbenen
Als das vornehmste Gesetz der Tanzkunst, als ihre höchste Aufgabe und ihr letztes Ziel hat man von je her, so weit es sich um ästhetische Standpunkte handelt, das schöne Ebenmaß in der Bewegung eines schönen Körpers und zwar in dem Sinne gefordert, daß die ganze Gestalt zur ausdrucksvollen Darstellung eines Gefühls, eines Gedankens werde. Der Vollendung dieser höchsten Aufgabe dürfte in der Gegenwart kaum eine Künstlerin von Terpsichore’s Gnaden so nahe gekommen sein, wie die am 7. Juni dieses Jahres zu Berlin verstorbene Adele Grantzow; denn nicht vorzugsweise die Virtuosität des Fußes war es, die das bewundernde Staunen der Menge hervorrief, wenn Adele auf den Brettern erschien, es war vielmehr die bezaubernde Gesammtheit ihrer körperlichen und geistigen Vorzüge, welche sie auf die höchste Staffel ihrer Kunst hob.
Wenn wir auf die im Verlauf der letzten fünfzig Jahre in der Balletwelt erschienenen Größen zurückblicken, auf eine Fanny Elsler, eine Grisi, eine Cerito, eine Rosati, eine Marie Taglioni etc. – ihnen allen stellen wir Adele Grantzow ebenbürtig an die Seite. Ihre ganz ausnahmsweise und specielle Begabung trat uns in ihrer stummen und doch so überzeugenden Sprache der Mimik, in der ungezwungenen Schönheit ihres Geberdenspiels mit unwiderstehlichem Zauber entgegen. Sie begnügte sich nie damit ein Gefühl nur anzudeuten; sie besaß – wir möchten behaupten – selbst unbewußt, das Geheimniß, die Bedeutung der Situation immer vollständig wahr und doch graziös zu gestalten.
Die Darstellung ihrer „Gisela“ in dem gespenstischen Poem: „Die Willys“ – um nur ein Beispiel anzuführen – mit der sie ein Meister- und Musterbild tragisch-überwältigend zur Geltung brachte, gehört wohl zu dem Erhabensten, was die ernste Tanzkunst jemals hervorgebracht hat. In dieser Rolle ist unsere Künstlerin von keiner ihrer zahlreichen Rivalinnen, weder in der Mimik, aus der uns Gisela’s ganzes Seelenleben entgegenblickte, noch in den geisterhaft durcheinander wogenden und wirbelnden Tänzen der Willys erreicht worden In den künstlerischen Leistungen Adelens schwand das, was man „körperliche Mechanik“ nennt, vor dem Geiste, der die schönen Formen gewissermaßen elektrisch glänzend durchzittern. Die wechselnde Plastik unserer Künstlerin erinnerte in jeder Bewegung und Stellung an classische Vorbilder der Sculptur und an die reizenden Gestalten pompejanischer schwebender Wandgemälde. [790] Diese ganz besondere Begabung war es, die Adele Grantzow den Rang einer vollendeten Künstlerin sicherte, die nicht nur in der Gestaltung tragischer Momente, sondern auch in der Lösung zart weiblicher Aufgaben unnachahmlich erschien und selbst in den von Drollerie angehauchten Pantomimen – wir erinnern nur an das Ballet „Die Weibercur“ – einen kaum geahnten Effect hervorbrachte.
Im Privatleben war Adele durch eine Einfachheit und Bescheidenheit ausgezeichnet, wie man sie an Künstlerinnen ihres Ranges selten findet. Auch inmitten ihrer Triumphe blieb sie das einfache Mädchen. Und doch wie reich war sie auch nach anderen Seiten hin ausgestattet! Neben ihren hervorragenden Gaben für die Tanzkunst besaß sie noch eine Reihe anderer liebenswürdiger Talente. Sie sprach mehrere Sprachen. Eine reizende Mezzosopranstimme befähigte sie zum anmuthigen Vortrage von Liedern, die sie sich selbst begleitete, ohne jemals Unterricht im Clavierspiel genossen zu haben. Auch selbstschaffend hat sie sich in der Musik bewährt, wie eine Reihe Heine’scher Lieder, die sie componirte, beweist; schauspielerische Scenen trug sie mit Geschick vor, und neben dem anstrengenden Berufe, der sie jeden Tag stundenlang in Anspruch nahm, fand sie noch Zeit, sich im Zeichnen auszubilden und weibliche Arbeiten mit Geschmack und Grazie auszuführen; namentlich im Zeichnen von Blumen war sie sehr gewandt. In der Natur liebte sie dieselben über alles, und täglich mußten einige frische Kinder der Fluren auf ihrem Arbeitstische stehen; um sie vor raschem Welken zu behüten, pflegte Adele sie mit der ganzen Hingabe ihres liebenswürdigen Wesens. Viele, welche die Künstlerin kennen gelernt, behaupten, daß ein Hauch von Poesie sie stets umgeben habe. Lärmende Vergnügungen liebte sie nicht; sie war eine nachdenkende, nach innen gekehrte Natur.
Geboren wurde Adele Grantzow in Braunschweig, wo ihr Vater als Balletmeister engagirt war. Von diesem wurde sie in der Tanzkunst unterrichtet und erregte in wenigen Jahren durch außerordentliches Talent und ungewöhnliche Grazie allgemeines Aufsehen. Was sie schon als Kind charakterisirte, das war jener eiserne Fleiß, dem sie auch während ihrer ruhmreichen Künstlerlaufbahn stets treu geblieben ist. Von früh an war es ihr Bestreben in ihren Darstellungen, ihrem Talente gemäß, den Hauptaccent auf die Mimik zu legen, die Technik der Tanzkunst aber erst in zweiter Linie zu üben. Während ihres ersten Engagements in Hannover, wo sie unter der speciellen Leitung ihres Vaters stand, nahm sie Urlaub und ging nach Paris, um sich dort aus eigenen Mitteln – den Ergebnissen ihrer Ersparungen – in ihrer Kunst weiterzubilden. Sie wurde hier die Schülerin der Frau Dominique, einer der berühmtesten Lehrerinnen der Tanzkunst, welche ihr Talent so glücklich förderte, daß die Lehrerin sehr bald der Schülerin erklären mußte, sie könne nichts mehr von ihr lernen. In Paris machte Adele die Bekanntschaft des Balletmeisters St. Lion, der eine Prima-Ballerina für Moskau suchte und diese in ihr gefunden zu haben glaubte; sie folgte ihm in die zweite Hauptstadt Rußlands.
Originell ist, was Karl Sontag in seinen Bühnenerlebnissen über den Abgang unserer Künstlerin von Hannover und die übergroße Bescheidenheit ihres Vaters in Bezug auf seine Lehrmethode erzählt. Der Vater war durchaus dafür, daß Adele, welche damals sechszehnhundert Thaler Gehalt hatte, mit einer bescheidenen Zulage von vielleicht zweihundert Thalern vorlieb nähme, in Hannover bliebe und sich nicht in den Kampf mit berühmten Künstlerinnen einließe, in dem sie unterliegen müsse. Dem Zureden naher Freunde und der Energie Adelens gelang es, sich loszureißen aus ihr sonst lieb gewordenen Verhältnissen und nach Moskau zu gehen. Sie sprang mit einem Satze von sechszehnhundert auf sechszehntausend Thaler und machte Furore. Als dem Vater später Vorwürfe gemacht wurden, daß er seine Tochter so lange von so glänzender Stellung zurückgehalten, sagte der alte gutmüthige Berliner in seiner gemüthlichen Bescheidenheit: „Ja, ick wußte woll, wat meine Dochter konnte, aber ich wußte nich, ob die Andern nich noch mehr kennten.“
In Moskau feierte die junge Künstlerin wahrhaft großartige Triumphe, welche sie auch nach Paris begleiteten, wo sie nach Ablauf des Moskauer Engagements ihre künstlerische Laufbahn mit einem Erfolg fortsetzte, welcher die berühmte Marie Taglioni zu ihrer begeisterten Verehrerin machte. „Sie, mein liebes Kind,“ sagte diese einmal, indem sie die junge Künstlerin umarmte und küßte, „sind meine würdige Nachfolgerin, bedeutend genug, um mich vollständig zu ersetzen.“
Noch vor Beendigung der Saison nahm Adele ein Engagement in St. Petersburg an; ihre dortigen Erfolge überstiegen noch diejenigen von Moskau und Paris. Von nun an war sie während der Wintermonate in Rußland, im Sommer in Paris engagirt, allein nach dem deutsch französischen Kriege durfte sie als Deutsche es nicht mehr wagen, die Pariser Bühne zu betreten. Unter den Lorbeeren aber, welche sie nach dem Jahre 1871 erntete, sind die von Berlin und Wien die glänzendsten. In letztgenannter Stadt verabschiedete sie sich für immer von der Bühne. Ihrer Jugend und Anmuth schienen noch viele Jahre des Glückes und des Ruhmes vorbehalten zu sein, zumal sie in dieser Zeit die Braut eines geliebten Mannes, des Majors Alexander von R., geworden. Aber das Schicksal hat es anders gefügt: in der deutschen Kaiserstadt, inmitten ihrer Lorbeeren, wurde sie das Opfer einer Fußoperation und hinzugetretener Blutvergiftung.
„Adele ertrug,“ so schreibt uns ihre Schwester und treue Pflegerin, „mit großer Geduld ihre schmerzvolle Krankheit. Oft rief sie aus: ‚Nach einem Leben voll solcher schweren Arbeit und Mühe ein so großes unverdientes Leid!‘ Thränen waren dem armen Wesen die einzige Erleichterung, und nach allen möglichen Anstrengungen meinerseits, diese zu stillen, sagte sie oft: ‚Laß mich nur, liebe Schwester! Weine ich doch über mein zu früh zerstörtes Dasein.‘ Blumen, welche ihr von der Hand lieber Freunde und Bekannten gespendet wurden, bat sie mich immer so zu stellen, daß sie dieselben sehen könne, und oft drückte sie die Rosen an sich, indem sie rief: ‚Hilf mir doch, du lieber Gott, damit ich die Blumen noch einmal blühen sehe!‘“
Die Leiche der liebenswürdigen, von der ganzen europäischen Kunstwelt betrauerten Künstlerin wurde von Berlin nach Blankenburg am Harz, dem Sitze ihrer Familie, gebracht.
„Das Zimmer, in welchem Adelens Sarg hier bis zur Beerdigung aufgestellt war,“ so berichtet die Schwester der Verstorbenen weiter, „und in welchem auch die Todtenfeier gehalten wurde, habe ich nur dem Andenken meiner lieben Todten geweihet. Hier habe ich auch die auf ihrer Künstlerlaufbahn errungenen Lorbeeren, die Blumen, Schleifen und Kränze, die in Gold und Silber gestickten Schärpen, sowie den goldenen Lorbeerkranz niedergelegt, welcher ihr vom Petersburger Publicum in Gegenwart des ganzen Theaterpersonals, auf offener Scene, mit einer Ansprache überreicht wurde. Mitten unter all diesen Errungenschaften eines reichen Künstlerlebens befindet sich auch ein einfaches Papier mit trockenen Blumen. Als meine Schwester in Wien zuletzt auftrat und an diesem Abende nicht allein vom Wiener Publicum, sondern auch von ihrer Kunst Abschied nahm, gönnte sie sich nach einem so aufregenden Tage nicht eher Ruhe, bis sie von all den vielen Bouquets und Kränzen einige Blumen gepflückt, diese sorgfältig verwahrt und mit den Worten überschrieben hatte:
In diesem Zimmer befindet sich auch die Uhr, welche stets an der Schwester Bette stand und von ihr allabendlich, auch während ihrer Krankheit, aufgezogen wurde. Als dieselbe beim Transporte nach dem Hospital stehen geblieben war, wollte ich sie wieder in Gang bringen, als Adele mir zurief: ‚Nein, gieb sie mir! Sieh, in den ersten Tagen meines schweren Leidens habe ich beim Aufziehen immer gedacht, sie sollte mir die Stunde meines Todes anzeigen; jetzt wird sie mir die Zeit meiner Genesung verkünden.‘
Das arme Geschöpf ahnte nicht, daß wenige Stunden darauf der Tod sie aus meinen Armen reißen würde, um sie in die seinigen aufzunehmen. Nachdem die Uhr abgelaufen, zeigt sie jetzt die Sterbestunde meiner Schwester an.
Adelens Grabstätte, der Ruheplatz nach so manch hartem Kampfe, besteht aus einer schön gebauten Capelle, welche durch die blauen Fenster ein magisches Licht erhält. Der Altar ist mit schwarzem Sammet bedeckt, auf welchem ein Crucifix, Lilienbouquets und die Palmen sich befinden, welche auf ihrem Sarge gelegen. Zur Seite des Altars und gestützt auf eine Sandsteinconsole, erhebt sich eine große weiße Marmortafel, welche [791] in goldener Schrift den Namen der Verewigten trägt. Vor diesem Gedenksteine ruht auf einem blauen Atlaskissen eine aus künstlichen Orangenblüthen gefertigte Todtenkrone; der übrige Raum der Capelle ist vollständig ausgefüllt von all den Kränzen und Blumen, welche zur Beerdigung hier eintrafen, und die künstlichen Rosen tragen viel dazu bei, dem Ganzen ein ewig frisches Ansehen zu geben. Vor der Capelle breitet sich ein weiter Raum aus, welcher aber durch seine Einfassung mit dieser verbunden und für die Hinterbliebenen bestimmt ist. Hier werde auch ich ausruhen von allem Leid.“
Mit diesen rührenden Worten der Schwester schließen wir unsere anspruchslose Skizze ab, welche nichts sein sollte als ein bescheidener Kranz auf das Grab einer ebenso bedeutenden als liebenswürdigen Künstlerin.