Zum Inhalt springen

Eine unenthüllte Begebenheit

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Heinrich Smidt
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Eine unenthüllte Begebenheit
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 32–34, S. 425–428; 441–446; 453–456
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1856
Verlag: Verlag von Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[425]
Eine unenthüllte Begebenheit.
Erzählung von Heinrich Smidt.
(Aus einer gefundenen Mappe.)
I.

In großer Erregtheit trat Alexis bei mir ein. Ich hatte ihn erst in einigen Wochen erwartet, und sprach ihm meine Verwunderung aus.

„Wie würden Sie sich erst wundern, wenn Sie wüßten!“ entgegnete Alexis mit einiger Hast. „Uebrigens bin ich nur gekommen, um einige nöthige Vorkehrungen zu treffen, dann reise ich sofort wieder ab.“

Erstaunt sah ich ihn an. Das war der heitere, unbefangene Jüngling nicht mehr, der mich vor einigen Wochen verließ, um eine Reise durch einen Theil des deutschen Vaterlandes zu machen und Stoffe für seine künstlerische Thätigkeit zu finden. Er versprach mir, eine ganze Mappe voll der schönsten Skizzen mitzubringen. Um dem Gespräche eine andere Wendung zu geben, erinnerte ich ihn daran.

Mit einem trüben Lächeln zog er seine Schreibtafel hervor, und reichte mir aus derselben ein Pergamentblatt.

„Vorläufig müssen Sie sich mit dieser einen begnügen.“

Ich warf einen Blick auf die Zeichnung. Sie machte einen lebhaften Eindruck auf mich. Neben einem Lehnstuhl stand ein alter Mann mit gramerfülltem Antlitz. Aus den Zügen desselben sprach eine Freundlichkeit und Milde, die unwiderstehlich anzog. Ein junger Mann trat durch die Thür. Der Alte hatte sich erhoben, um ihn zu begrüßen. Der schmerzliche Zug in dem Gesicht sagte deutlich, daß der Eingetretene nicht derjenige sei, den man erwartete. Die Kleidung des alten Herrn, so wie die ganze Umgebung deuteten einen Geistlichen an.

„Und die Erklärung zu diesem Bilde?“ fragte ich neugierig.

„Die will ich Ihnen geben, so gut ich’s vermag,“ entgegnete Alexis. „Ich stehe selbst mitten in einem Labyrinth und kann den Ausgang nicht finden.“

Mit steigender Aufmerksamkeit hörte ich auf die Mittheilung des Freundes, der so begann:

„Ich hatte die Gebirgsstadt, von welcher aus ich zuletzt an Sie schrieb, mit fröhlichem Wandermuthe verlassen. Als der Abend hereinbrach, fand sich, daß ich den rechten Weg verloren. Ein schmaler Pfad führte mich fast senkrecht zu Thale. Auf gut Glück weiter schreitend, gewahrte ich durch den vorüber streichenden feuchten Nebel einzelne Häuser, zwischen den Felsen eingeklemmt, oder hart an ihrem Abhange errichtet, neugierig in das Thal schauend. Ueberall tiefe Stille; kein Mensch mehr draußen. Bald erblickte ich auch die Kirche des Dorfes mit ihrem kurzen, hölzernen Thurm und unweit davon ein Haus, wenig größer, als die umherliegenden. Ein Fenster desselben war matt erhellt. Ohne Zweifel die Pfarrwohnung. Ich ging näher, um mir ein Nachtquartier zu erbitten. Durch das Fenster blickend, gewahrte ich einen Mann, das schneeweiße Haupt tief auf die Brust herabgesenkt. Er wandte das Gesicht dem vollen Lichte zu und ich konnte jeden Zug deutlich erkennen. Ein tiefer Gram sprach aus denselben, aber der Ausdruck des Kummers und des Schmerzes war durch einen Hauch von Milde und Anmuth verklärt. Mich fesselte dies Bild, und es bedurfte erst einer ernsten Mahnung des jetzt schärfer herabströmenden Regens, um mich zu erinnern, daß ich noch keine Herberge hatte.

Leise klopfte ich an das Fenster. Der Pfarrer fuhr auf. Er blickte zerstreut um sich. Wie träumend ließ er die Hand über die Stirn gleiten. Auf mein wiederholtes Klopfen öffnete er das Fenster und fragte: „Wer ist draußen?“

„Alexis!“ antwortete ich, meinen Namen nennend.

„Alexis!“ schrie der geistliche Herr und begann zu zittern; ich wußte nicht, ob vor Schreck oder Freude. „Alexis!“ wiederholte er. „O, herein, herein!“ Und mit jugendlicher Schnelle eilte er hinaus, um die Thür zu öffnen. Er ergriff meine Hand und zog mich hinter sich her bis in die Mitte des Stübchens; dann sah er mich scharf an und meine Hand fahren lassend, sagte er mit dem Tone getäuschter Hoffnung: „Sie haben mich betrogen, Sie sind nicht Alexis.“

Eine tiefe Trauer bemächtigte sich seiner. Bewegt von seinem Schmerz und von der Seltsamkeit der Aufnahme entgegnete ich: „Ich bin wirklich Alexis, wenn auch nicht derjenige, den Sie zu erwarten scheinen.“

„Verzeihen Sie,“ sagte er nach einer Pause. „Wie konnte ich auch glauben – der arme Mensch – er hätte meine Frage nicht beantworten können. Er ist stumm.“

Diese mit wahrhaftem Kummer gesprochenen Worte rührten mich und ich blickte mit aufrichtiger Theilnahme auf den alten Herrn, der sich nun wieder gefaßt hatte und mit der größten Liebenswürdigkeit sagte:

„Ich begreife Alles. Sie sind ein Fußreisender, haben sich in dieser unwegsamen Gegend verirrt und suchen eine Herberge zur Nacht. Sie sind mir herzlich willkommen; ich freue mich, Ihnen diesen kleinen Dienst leisten zu können.“

[426] Mit freundlicher Gefälligkeit war er für mich besorgt, und in einer Viertelstunde war ich völlig heimisch. Der Tisch ward an den warmen Ofen gerückt, und nachdem ich meine Abendmahlzeit verzehrt hatte, brachte mein Wirth eine Flasche Wein. Er füllte die Gläser, und mit mir anstoßend, sagte er: „Da ich Sie auf eine so seltsame Weise empfangen habe, bin ich auch verpflichtet, Ihnen den Schlüssel zu diesem Empfange zu geben. Sie könnten sonst Seltsames von mir denken. Sie haben bemerkt, wie sehr mich der Name Alexis bewegte. Ein liebenswürdiger Knabe hieß so, den einst ein Zufall – nein, nicht Zufall, sondern die gütige Vorsicht mir zuführte, und dem ich alle Liebe und Zuneigung schenkte, deren dies Herz fähig ist. Der Knabe war mehrere Jahre bei mir; ich sah ihn sich allmälig entwickeln, ich weckte seinen Geist und freute mich, die Saat, welche ich streute, so schöne Früchte tragen zu sehen. Dies Glück dauerte bis zu der Stunde, wo ich ihn auf eine eben so räthselhafte Weise verlor, als ich ihn einst fand. Alexis –“

Der Pfarrer hatte mich während dieser Mittheilungen fest angesehen. Seine Unruhe kehrte wieder, als er jetzt abermals den Namen seines Pfleglings nannte. Er unterbrach sich:

„Entschuldigen Sie! – Aber, je mehr ich Sie betrachte – Sie nennen sich auch Alexis? Ich finde den Zusammenhang nicht, aber die Thatsache besteht. Die Aehnlichkeit zwischen Ihnen und jenem unglücklichen Knaben ist wirklich wunderbar.“

„Das wäre allerdings seltsam!“ entgegnete ich. „Aber sollten Sie sich nicht abermals täuschen?“

„Täuschen?“ sagte der Pfarrer. „Das mögen Sie selbst entscheiden. Der Knabe ward von der ganzen Gemeinde geliebt, und selbst Fremde, die hier flüchtig durchreisten, legten Theilnahme für ihn an den Tag. Ein Maler, der sich einige Zeit in diesem Thale aufhielt und bei mir wohnte, wollte mir ein Gastgeschenk zurücklassen und malte Alexis. Ich hole Ihnen das Bild.“

Der Geistliche nahm ein Miniatur-Portrait aus seinem Schreibtische und reichte es mir. Als Maler war ich keinen Augenblick in Zweifel. Das Bild glich mir. So mußte ich in meiner Kindheit ausgesehen haben. Ich konnte mich von dem Anblick nicht trennen.

„Es geht Ihnen, wie Jedem, der es sieht,“ sagte der Geistliche. „Aber lassen Sie mich meine Mittheilung beenden.

„Die Wohnungen meiner Gemeinde liegen in dem Thale zerstreut umher. Will ich die Pflichten meines Amtes gewissenhaft üben, muß ich manche beschwerliche Wanderung unternehmen, von denen ich öfters erst bei einbrechender Nacht wiederkehre. Eines Abends erreiche ich, mehr als sonst erschöpft, die Straße, welche aus unserm Gebirgskessel hinab in die Ebene führt. Die untergehende Sonne wirft ihren letzten Strahl darüber hin, und ich gewahre, von all’ dem hellen Glanz umgeben, einen Knaben, der sich mir mit allen Zeichen der Angst zu Füßen wirft. Erschreckt richte ich ihn auf, setze mich auf einen Stein und suche den heftig Weinenden zu beruhigen. Mit vieler Mühe gelingt es mir nach und nach. Er sieht mich an, lächelt, schlägt seine kleinen Arme um meinen Hals, wird immer stiller und schläft endlich ein. Während er auf meinem Schooße ruht, betrachte ich ihn näher. Sein ganzes Wesen macht den tiefsten Eindruck auf mich. Der Kleine schlief so sorglos, daß ich ihn um Alles in der Welt nicht hätte wecken mögen. Und doch brach die Nacht herein. Mit großer Vorsicht erhebe ich mich und trage ihn nach Hause. Dort bereite ich ihm ein Lager neben dem meinen und begebe mich zur Ruhe. Ich schlafe mit dem Gedanken ein, daß sich die Angehörigen des Knaben wohl am andern Morgen einfinden werden. Aber es kam Niemand, weder am nächsten Tage noch an einem der folgenden. Eine Entdeckung, die ich gleich nach dem Erwachen mache, erschreckt mich, der Knabe ist stumm. Darnach ist es unmöglich, auch nur die geringste Erkundigung von ihm einzuziehen. Zu mir fühlt sich der Knabe lebhaft hingezogen und auch an die Verwandte, die meinen Haushalt führt, schließt er sich gern an. Sie widmet ihm mütterliche Theilnahme. Niemand kümmert sich um unsern Findling; er bleibt uns völlig fremd, und nur weil wir seine Wäsche mit dem Namen Alexis gezeichnet finden, nennen wir ihn so.

„Einige Wochen nach diesem Ereigniß,“ fuhr der Geistliche fort, „bereist der Kreisarzt diese Gegend. Mit gleicher Theilnahme wie Alle wendet er sich dem Knaben zu. Er beschäftigt sich viel mit ihm und sagt beim Scheiden zu mir: der Knabe ist nicht stumm geboren; er ist es durch irgend ein schreckliches Ereigniß geworden. Sein Gemüth ist ungemein weich, doch habe ich auch bemerkt, daß tiefe Leidenschaften in ihm schlummern. Es scheint der Mühe werth, die schlummernden Seelenkräfte zu wecken. Sie, lieber Pastor, haben dazu die Muße und den Beruf. Ich ahne ein Geheimniß, was dieser stumme Knabe uns nicht verrathen kann. Unterrichten Sie ihn, und es wird ein Tag kommen, wo er das, was er Ihnen jetzt nicht sagen kann, niederschreiben wird.

„Diese Worte,“ sagte der Geistliche, „mit denen der Arzt von mir Abschied nahm, sind nicht auf einen unfruchtbaren Boden gefallen. Mit Eifer lege ich Hand an das Werk. Die ersten Erfolge sind glücklich. Meine Lust an dem Unterrichte steigt. Ich ertheile ihn nicht, um ein Geheimniß zu erfahren, sondern aus Liebe zur Sache. Rasch entwickeln sich die geistigen Fähigkeiten meines Zöglings. Schon fängt er an, mir seine Gedanken und Empfindungen mitzutheilen. Aber im Laufe der Zeit, wo jeder Tag neue Eindrücke bringt, tritt die Erinnerung an seine Vergangenheit immer weiter in ihm zurück. Nur einzelne Bilder vermag er zu erhaschen. Er schildert mir ein dunkles Haus, woran ein Garten stößt, den hohe Mauern umgeben. Ein alter Mann, der selten, sprach, bediente ihn. Von Zeit zu Zeit erscheint eine Dame in dem Garten, ohne daß er bemerkt, woher sie kommt und wohin sie geht. Sie liebkost ihn stets auf das Zärtlichste und füllt seine Hände mit kleinen Geschenken. Eines Morgens tritt der alte Diener an sein Bett, heißt ihn aufstehen und sagt ihm, daß die Dame heute wiederkommen und ihn mit sich nehmen werde. Nun sind ihm seine Erinnerungen untreu. Er weiß nur, daß er neben der Dame in einem Wagen gesessen. Auch ein Herr wäre darin gewesen, der ihn öfters umarmt und seinen lieben, lieben Alexis genannt habe. Alles dies, mein werther Herr, erfahre ich bruchstückweise in verschiedenen Zeiträumen, wie es in dem Geist des Knaben aufdämmert. Zuletzt schreibt er wieder, daß der Wägen plötzlich still hält und Männer mit schwarzen Gesichtern denselben umringen. Die Dame sinkt ohnmächtig hin. Der Herr zieht seinen Säbel und stellt sich zur Wehre, bis er blutend niederstürzt. Aber Alexis sieht nichts mehr. Einer der schwarzen Kerle streckt die Hand nach ihm aus und droht, ihn zu erwürgen. Er weiß auch nicht, wie er dem Wüthenden entkommen ist; er sieht sich nur eine Strecke vom Wagen seitwärts stehen, wie man in denselben den Herrn und die Dame hineinträgt und davon fährt. Er will schreien, aber er vermag es nicht. Das Entsetzen hat ihm die Sprache geraubt, und er ist nun blindlings fortgelaufen, bis er mich gefunden. Weiteres war nicht zu erfahren.

„Wie Sie leicht denken können,“ schloß der Pfarrer, „unterließ ich seiner Zeit nicht, den Behörden von dem Findling, der sich bei mir aufhielt, Nachricht zu geben, und es sind deshalb Nachforschungen angestellt. Jetzt erneuere ich meine Bemühungen, indem ich Alles mittheile, was ich von Alexis erfahren habe. Aber auch jetzt bleibt jede Mühe eine vergebliche. So habe ich mich allmälig daran gewöhnt, Alexis als meinen Sohn zu betrachten, und schon mache ich Pläne für seine Zukunft, als mich plötzlich der härteste Schlag trifft. Eines Nachmittags tritt er eine seiner gewohnten Wanderungen an, von denen er sonst stets nach einigen Stunden wiederkehrt. An diesem Abend kommt er nicht heim. Nach einer ängstlich durchwachten Nacht wende ich mich an die Bewohner des Dorfes. Der Gedanke, daß Alexis irgendwo verunglückte, ist am natürlichsten. Der Knabe war so beliebt bei Alt und Jung, daß Alle sich unaufgefordert aufmachen, ihn zu suchen. Keine Mühe, keine Anstrengung wird gespart. Die Männer setzen sich umsonst der augenscheinlichsten Gefahr aus. An dem Rande eines jähen Abgrundes hängt sein Hut an einem Strauche, unfern davon eine lederne Reisetasche, wie er sie zu tragen pflegte. Der Inhalt derselben, Bücher und einiges Obst, liegt zerstreut umher; von dem Leichnam aber findet sich keine Spur. Nach dreien Tagen ununterbrochener Arbeit muß ich selbst bekennen, daß jedes weitere Bemühen vergeblich ist, und ich lebe nun in der steten Ungewißheit, ob Alexis verunglückt, oder von seinen frühern Verfolgern entdeckt und – Gott weiß, wohin entführt ist.“

So lauteten die Mittheilungen des Geistlichen, wie ich sie von meinem Freunde als eine Erklärung der Skizze erhielt, die er mir aus dem Gebirge mitbrachte. Als er seine Erzählung endete, sagte er zu mir:

„Ich glaube kaum, daß wir uns vor meiner Weiterreise [427] noch wiedersehen werden. Was ich erfuhr, hat, wie geringe es auch sein mag, eine Vergangenheit in mir wach gerufen, die ich längst überwunden glaubte. Dieser Knabe, der wie ich Alexis heißt, dessen Ähnlichkeit mit mir so bedeutend war, daß sie nicht blos der Geistliche, sondern auch die Bauern, die mich zufällig erblickten, bemerkten, giebt mir viel zu denken. Bei dem Beginn meiner Reise sagte ich Ihnen, ich würde Ihre Vaterstadt zu einem längeren Wohnsitz wählen. Jetzt ist sie nur eine Station für mich geworden, von der ich nach kurzer Rast scheide.“

Er reichte mir zum Abschiede die Hand, und ohne ein Wort weiter zu sagen, entfernte er sich.


II.

Auf einem steilen Hügel, dessen granitnen Fuß die Seebrandung umrauscht, erhob sich ein finsteres Schloß, zu welchem man nur auf einem zerfahrenen, mit Gestrüpp und Steingeröll bedeckten Weg gelangte. Auch legten sich Wenige diese Anstrengung auf, denn die Mauern und Thürme waren verwittert, das Dach mit Moos bewachsen und Schaaren von Krähen und Dohlen hatten dort oben ihre Herberge. Die ganze Erscheinung hatte eher etwas Abstoßendes, als etwas Anziehendes, und die nach Romantik begierigen Reisenden wählten lieber eine auf einer zugänglicheren Höhe malerisch liegende Ruine, die auf ein reiches, blühendes Thal hinabschaute.

Das Schloß galt für verödet, und nur die am Fuße des steilen Hügels wohnenden wenigen Sassen wußten, daß ein geringer Theil desselben noch jetzt bewohnt wurde. Ein unbekannter alter Herr lebte dort mit einem eben so alten Diener, und Beide kamen mit den Sassen am Fuße des Schloßberges nur selten in Berührung.

Sie erinnerten sich des alten Herrn, den sie nicht gesehen hatten, seit er die Ruine bezog, als eines stattlichen Greises mit schneeweißem Haupte. Die Jahre hatten es nicht gebeugt. Seine strengen Gesichtszüge, die selten durch einen schmerzlichen Ausdruck gemildert wurden, sagten, daß eine sturmbewegte Zeit hinter ihm lag. Den größten Theil der langen Herbstabende brachte er in dem stattlichsten der von ihm bewohnten Gemächer zu und beobachtete hier die prasselnden Flammen im Kamine. Manchmal flog sein Auge flüchtig über ein Gemälde hin, dessen lebensgroße Figuren einen Theil der Wand bedeckten, und diese Augenblicke waren es, wo die Empfindungen der Wehmuth und des Schmerzes die Strenge seiner Züge milderten.

Es war ein schönes, farbenprächtiges Bild, von Meisterhand auf diese breite Fläche gemalt. Durch einen Pfeiler ward es in zwei Felder getheilt. Das erste Feld zeigte eine reichgeschmückte Halle von tausend flammenden Kerzen erhellt. Auf einer Estrade des Hintergrundes standen die Musiker in Gold und Scharlach gekleidet. Zu ihren Füßen drehten sich die muntern Schaaren im fröhlichen Tanz. Seitwärts an einer Säule lehnte die Gestalt eines ältlichen Herrn mit vornehmen Manieren, in schwarzen Sammet gekleidet, der behaglich lächelnd die vielfach verschlungenen Gruppen betrachtete. Augenscheinlich hatte dieser Herr auf dem Bilde große Ähnlichkeit mit dem Herrn am Kamin, nur daß Ersterer viele Jahre jünger war und schwerer Gram seine Stirn nicht durchfurchte. Ein lieblicher Knabe, buntphantastisch gekleidet, schmiegte sich kindlich an den Herrn im schwarzen Sammetkleide und schien die Theilnahme desselben für eine Zeichnung gewinnen zu wollen, die er ihm entgegenhielt. Aber der Herr strich gutmüthig die Falten der Ungeduld aus dem Gesicht des kleinen Künstlers, hatte wenig Auge für seine kindische Schöpfung und schenkte seine ganze Aufmerksamkeit einem jungen Paare, das aus den Reihen der Tänzer getreten war. Die Jungfrau stand, in holder Scham erglühend, das Gesicht abgewendet und hielt eine Blume in der Hand, noch nicht mit sich einig, ob sie dem jungen Ritter diese stürmisch begehrte Gabe reichen dürfe oder nicht. Eine zweite, ganz gleiche Blume an ihrer Brust zeigte, woher sie die erste genommen. Der junge Ritter, das sah man auf den ersten Blick, war entweder der Sohn und Bruder oder doch ein naher Verwandter des beobachtenden alten Herrn und des lieblichen Knaben. Eifrig bemühte sich der junge Ritter um die Blume, die ihm symbolisch das Herz bedeutete, an welchem sie noch vor Kurzem ruhte. Alle waren so sehr in ihr Glück versenkt, daß sie nicht auf einen Fremden achteten, der sich seitwärts von den Liebenden aufgestellt hatte und sie mit einer teuflischen Mischung von Haß und Schadenfreude betrachtete. Seine kohlschwarzen Augen brannten wie zwei unheimliche Flammen.

Den größten Theil des zweiten Bildes füllte eine düstere Baumlandschaft, die vom Mondlicht sanft übergossen ward. Es schien ein Theil des Gartens zu sein, der an die breite Terrasse des Ballsaales grenzte, zu welcher man auf weißen Marmorstufen hinanstieg. So war das große Gemälde, obgleich durch den breiten Pfeiler getrennt, dennoch eins. Vertrieben von der im Saale herrschenden lauten Freude war das junge Liebespaar hinausgetreten in die kühle Sommernacht. Ein leiser Wonneschauer beseligte sie, und sie schmiegten sich inniger aneinander. Beide athmeten schon unter dem Bann der neckischen Elfen, die auf den feuchten Mondesstrahlen zu ihnen niederschwebten. Ihre sehnsüchtigen Blicke trafen tief in das Herz hinein und nahe waren sie dem Gipfel ihres irdischen Glückes. Aber die Hand, welche es ihnen wehren wollte, war näher. Der Fremde aus dem Ballsaal stand mit einer drohenden Geberde hinter ihnen.

Das waren die Bilder, welche der greise Edelmann vor dem Kamin wohl zum hundertsten Male aufmerksam betrachtete. Sie waren für ihn eine sichtbare Erinnerung an eine glücklichere Zeit, die mit all’ ihrer Lust und Freude weit hinter ihm lag.

Mit einem tiefen Seufzer wandte er sich jetzt von dem Bilde ab und sagte zu dem alten Diener, der ihm den Abendtrunk reichte: „Es ist Alles dahin!“

„Alles!“ wiederholte dieser. „Seit unser armes Land von einem so furchtbaren Unglück betroffen wurde, will es nirgend mehr recht gedeihen. Die Leute unten am Berge, die heute hier waren, um die gewöhnlichen Lebensmittel zu bringen, erzählten wundersame Geschichten wie es jetzt drunten in der Welt zugehen soll, und Euer Gnaden würden erschrecken, wenn –“

„Ich will nichts hören!“ entgegnete der Alte heftig. „Mit großen Opfern habe ich mir von den Machthabern die Erlaubniß erkauft, auf diesem letzten Besitzthume einstigen Glückes meine Tage in voller Einsamkeit zu beschließen. Ich will von der Welt und ihren Händeln nichts mehr wissen; sie ist todt für mich und ich für sie.“

Der Diener versuchte nochmals die Aufmerksamkeit des Herrn zu erwecken; dieser aber winkte unwillig mit der Hand und sagte:

„Ich will lesen.“

Sofort rückte der Diener einen Tisch neben den Sessel des Gebieters, stellte zwei brennende Kerzen darauf und legte ein großes Buch daneben, das einzige, was in der alten Schloßhalle zu finden war. Dieser Foliant, dessen Pergamentdeckel durch zwei starke silberne Klammern zusammengehalten wurden, war die Chronik dieses altberühmten Hauses, dessen Name seit undenklichen Zeiten in der Geschichte des Vaterlandes glänzte.

Unter den hohen Adelsherren des Reiches, die dem fürstlichen Gebieter bei allen Wechselfällen treu ergeben blieben, stand Graf Eberhard von Steinau in erster Reihe. Es war die Erbtugend dieses edlen Hauses, das von seinem ersten Ahn abwärts bis zu dem jüngsten Sprossen eine stattliche Reihe von Männern zählte, die mit dem Schwerte in der Hand oder mit den Waffen des Geistes für die wachsende Größe des fürstlichen Hauses gefochten hatten. Das machte die Steinau’s zu den Angesehendsten im Lande und eifrig bewarb man sich um ihre Gunst.

Graf Eberhard stand in der Blüthe des männlichen Alters und der Fülle des Glückes, umgeben von einer Familie, die ihn hoch in Ehren hielt und die er schwärmerisch liebte, als in der Stille sich der Dämon zu regen begann, der seitdem die halbe Welt in Flammen setzte, und statt einer wohlthuenden Wärme nur todte Asche hinter sich ließ. Er war Anfangs so klein, so schuldlos dieser finstere Unhold. Er erschien in so freundlicher, mitleidheischender Gestalt, daß Alle ihn liebkosten und Jeder auf seine Frage die Antwort erhielt, welche seiner Eitelkeit schmeichelte. Wie ein bettelndes Kind war er eingetreten in die höheren und niederen Kreise. Aber von den Gaben, die ihm zuflossen, schwellte er an und riesiggroß reckte er den Leib empor, nicht mehr flehend mit offner Hand, sondern mit der geballten Faust trotzig fordernd.

Nur Graf Eberhard von Steinau hatte des Sturmes bisher nicht geachtet und gedachte es ferner so zu halten. Ihm schien das neumodische Treiben so gering, daß er sich mit verächtlichem Achselzucken von demselben abwandte. Nur ein Zweig des stolzen [428] Baumes, ein entfernter Verwandter, der, wenn auch nicht die Grafenkrone, doch den Namen derer von Steinau trug, ein Mann von beschränkten Mitteln aber voll Geistesstärke und von maßlosem Ehrgeize erfüllt, trat dem Haupte des Hauses mit der Energie des Hasses entgegen, und da er nicht im Stande war, offenen Kampf zu bieten, legte er insgeheim seine tiefverborgenen Schlingen.

Mitten in diesen beginnenden Kämpfen ward Graf Eberhard von einem Familienleid getroffen, das er lange nicht verschmerzte; das war der Tod seines geliebten Weibes. Nur allgemach verlor sich dieser Schmerz in der Liebe für seine Söhne, und seine einzige Hoffnung war, das ihm entrissene Glück in dem Glücke seiner Kinder wieder zu finden. Sehnsüchtig spähte er nach einer Gelegenheit, diesen Gedanken durch die That zu verwirklichen und freudig jauchzte er auf, als sich unerwartet eine solche darbot.

Der älteste von den Söhnen des Grafen war ein kräftiger, lebensmuthiger Jüngling, voll Energie wie sein Vater. Er hatte die Waffen ergriffen, zeichnete sich in allen militärischen Tugenden aus und erregte die schönsten Hoffnungen. Seine Laufbahn führte ihn als Obersten eines Reiterregiments in eine ferne Garnison und bald fühlte er sich dort von so lieblichen Banden gefesselt, daß er schrieb, er sei im Begriff, den Gipfel seines Glückes zu erklimmen, doch wage er es nicht, bevor er nicht die Einwilligung des Vaters zu einem Bündniß mit dem Mädchen seiner Liebe empfangen habe. Graf Eberhard säumte keinen Augenblick, sondern schrieb zurück: „Bringe mir eine Schwiegertochter in’s Haus, die Dich glücklich macht, und sie soll mein liebstes Kind sein. Nur die eine Bedingung stelle ich, daß ihre Familie der unsrigen ebenbürtig sei. Ich weiß wohl, welche neue Ordnung der Dinge der Zeitgeist predigt; aber dieser angeblich versöhnende Genius ist für mich der Dämon des Hasses und der Zwietracht, gegen den ich bis zum letzten Hauche meines Lebens kämpfen werde.“ Auf diese seine väterliche Botschaft erwartete er mit Sehnsucht eine Antwort, die sich, ihm unbegreiflich, von Tag zu Tag verzögerte.

Rosa von Bergheim war die Zauberin, welche den jungen Grafen von Steinau, den kühnsten Reiteroberst der Armee durch ihre Reize gefesselt hatte. Ihr Vater, ein zurückgekommener Edelmann, der gezwungen ward, sein Familiengut zu veräußern, lebte in diesem Garnisonorte, mit sich selbst zerfallen, von einer mäßigen Leibrente. Wenig fruchtete ihm die zärtliche Sorge seiner Tochter Rosa, deren junge Schönheit sich blühend entfaltete. Er ward täglich mürrischer und scheuchte die milde Trösterin mit harten Worten zurück.

Da erschien ein Mann auf dem Schauplatz, welcher eine nicht geringe Verwirrung anregte. Das war Theodor von Steinau, der entfernte Verwandte des Grafen Eberhard. Von diesem seinem Oheim zurückgewiesen, suchte Theodor sich einen andern Wirkungskreis für sein abenteuerliches Dichten und Trachten, das ihm die Ungunst des Oheims schon früher zuzog. An den herabgekommenen Herrn von Bergheim fand er einen gelehrigen Schüler, der die seltsamen Lehren, welche Jener predigte, mit Begier erfaßte. Theodor war unermüdlich und er wußte auch, warum. Noch nicht lange hatte er in dem Hause des Herrn von Bergheim Zutritt erlangt, als er den seltenen Schatz entdeckte, der darin verborgen war. Er entbrannte in heißer Liebe zu Rosa und bewarb sich eifrig um ihre Gunst. Im Tiefinnersten ihres jungfräulichen Gemüthes fühlte sie die Nähe eines bösen Geistes und zog sich scheu zurück. Theodor ward dringender und erfuhr eine kränkende Abweisung. Nicht gewohnt, vor Hindernissen zurückzubeben, verdoppelte er seine Bemühungen. Zu der Liebe gesellte sich der Trotz. Er wollte Rosa besitzen und erwählte zu seinem Bundesgenossen ihren Vater, den er bereits so sehr umstrickt hatte, daß dieser ihm nichts mehr abschlagen konnte. Herr von Bergheim nahm ihn als seinen Sohn auf und verkündete seiner Tochter, daß er sie mit Theodor von Steinau vermählen werde, sobald dieser von seinem Oheim die Herausgabe der ihm widerrechtlich vorenthaltenen Besitzungen erzwungen habe.

Um diese Zeit war es, als der Oberst, Graf von Steinau an der Spitze des Regiments erschien, das hier seine Garnison angewiesen erhielt. Jung, reich, von dem ältesten Adel, konnte es nicht fehlen, daß ihm alle Thüren bereitwillig offen standen. Den Herrn von Bergheim lernte er nicht kennen. Die Vermögensumstände dieses Edelmannes gestatteten ihm nicht, ein Haus zu machen. Ueberdies liebte er Zerstreuungen und Ergötzlichkeiten, zu welchen es keiner glänzenden Gesellschaften bedurfte. Für die Freuden des Weines und des Spiels genügte ein beschränkter Kreis von Gleichgesinnten. Dagegen legte er seiner Tochter keinen Zwang auf. Sie war in einigen Häusern eingeführt und durfte sich dort frei bewegen. Gern suchte sie jede Gelegenheit dazu auf; war sie doch dann den Verfolgungen Theodors weniger ausgesetzt, der sich in Kreisen, wo man ihn nicht sonderlich aufmerksam behandelte, unbehaglich fühlte und sich mehr unter den Leuten gefiel, die sich um Herrn von Bergheim sammelten.

Der Oberst hatte bald die zarte Blüthe entdeckt, die sich in voller Schönheit entfaltete und sein Herz war wunderbar bewegt. Auf einem Balle gab er seinem Gefühle Worte und fand Erhörung. Die erste zarte Neigung entfaltete sich bald zur reichsten Liebe. In dieser glücklichen Stimmung schrieb der Oberst den schon erwähnten Brief an seinen Vater, erhielt dessen Antwort und brachte darauf seine Bewerbung an.

Herr von Bergheim stutzte. Er wußte den Werth diesen Bündnisses wohl zu würdigen und hätte gern zur Stelle eingewilligt, aber er fühlte sich Theodor gegenüber gebunden und entließ den Obersten mit einer zweifelhaften Antwort.

Eine trübe Zeit brach für alle Betheiligten an. Rosa wurde von ihrem Vater bei jeder Gelegenheit hart angelassen, daß sie es sei, welche die Verwirrung hervorgerufen und den Frieden und die Ruhe seines Alters trübe. Auch Theodor ließ es empfinden, wie er durch Rosa’s Zurücksetzung gekränkt sei und wie er nichts unversucht lassen werde, sich zu rächen; sie sei ihm feierlich von dem Vater anverlobt, und Niemandem solle es gelingen, sie ihm zu entreißen. Zwischen dem Obersten und Theodor entstand ein harter Kampf. Beide wurden scharf beobachtet, aber Keiner wußte mit Bestimmtheit anzugeben, was eigentlich zwischen ihnen vorgefallen war. Man erschöpfte sich in Muthmaßungen. Bald hieß es, ein Duell habe stattgefunden und Theodor sei geblieben. Aber kurz darauf erschien dieser wieder auf dem Schauplatze mit großem Reichthum prunkend, welches zu dem Gerüchte Anlaß gab, Theodor habe seine Rechte dem Obersten verkauft. Aber auch dieses Gerücht hielt nicht Stich, denn Theodor strebte eifriger als je nach der Hand der jungen Dame und noch niemals hatte sich der Vater so entschieden für ihn erklärt, als um diese Zeit. Es war der verführerische Schimmer des Goldes, der den alten Sünder für jede edlere Regung des Herzens, für die Leiden seines einzigen Kindes taub und blind machte. Theodor hatte ihm in verhängnißvoller Stunde den Schlüssel zu reichen gewußt, der ihm die Pforte zu öffnen schien, die in eine nie zu erschöpfende Schatzkammer führte.

Da trat Theodor eines Abends in großer Erregtheit in das Zimmer seines Schwiegervaters, der noch mit einigen Genossen an der schwelgerischen Tafel saß. Er verkündete, daß er noch in dieser Nacht abreisen müsse und sobald nicht wiederkommen könne, darum wolle er vorher alles Zweifelhafte in Richtigkeit gebracht wissen und forderte den Vater auf, ihn ohne Aufenthalt mit Rosa zu vermählen. Ein von ihm gewonnener Geistlicher sei bereit, die Trauung zu vollziehen. Für diese Gunst versprach Theodor goldene Berge und der halbberauschte Alte willigte ein. Die anwesenden Gäste wurden als Zeugen eingeladen und ein nahegelegenes Zimmer zu der feierlichen Handlung eingerichtet. Der Geistliche erschien und fragte nach der Braut. Der Vater ging, um sie zu holen; aber Rosa war nirgend zu finden. Ein Diener, dem sie mehrfache Wohlthaten erzeigt, bewahrte ein dankbares Herz und entdeckte ihr Alles. Sie verließ, von dem treuen Diener geleitet, unbemerkt das Haus. Eine Freundin nahm sie mit offnen Armen auf. Von dort aus wurde der Oberst von dem Vorgefallenen benachrichtigt.

Theodor wüthete. So nahe am Ziel, hatte er dasselbe auf lange, wenn nicht für immer, aus den Augen verloren. Unter gräßlichen Flüchen schied er von dem alten Bergheim, den er mit dem Obersten im Einverständniß glaubte und schwur Allen glühende Rache. Von dieser Stunde an war er ein unversöhnlicher Feind. In aller Stille reisete er ab. Es war die höchste Zeit. Kaum hatte er die Stadtthore hinter sich, als ein höherer Beamter erschien, um ihn zu verhaften. Es verbreitete sich das Gerücht, Theodor von Steinau habe sich einem hochverräterischen Komplotte angeschlossen und stehe in dem Solde auswärtiger geheimer Klubbs.

[441] Der alte Bergheim war wie von Donner gerührt. Alle Luftschlösser stürzten mit einem Male zusammen und er sah sich einer trostlosen Zukunft gegenüber. Rosa, die gleich nach Theodors Abreise zu ihrem Vater zurückkehrte, durfte nicht in dessen Nähe kommen. Er hielt sie für die Anstifterin all’ dieses Unglücks. Der Oberst versuchte mehrere Male ihn zu sprechen, ward aber stets abgewiesen.

Da erschien Graf Eberhard, dem die Antwort des Sohnes zu lange ausblieb. Er kam zur guten Stunde. Sein Rang und sein Ansehen fielen bei dem alten Bergheim schwer in’s Gewicht und bald ließ er sich bestimmen, Rosa mit dem Obersten zu verloben. Er zog es vor, da ihm der dauernde Aufenthalt bei den Kindern nicht zusagte, gegen Auszahlung eines reichen Jahrgeldes seine Wohnung an einem entfernten Orte zu nehmen. Nun schienen alle Hindernisse beseitigt und man verabredete, daß Rosa mit ihrem Vater eine Reise nach der Residenz antreten sollte. Dort werde die Hochzeit feierlich vollzogen werden.

Süße Träume beglückten die Liebenden. Der Oberst wollte die voraussichtlich lange Muße des Friedens benutzen, und einen unbestimmten Urlaub erbitten. Unter seiner Führung sollte Rosa die ersten Eindrücke des großartigen Lebens der Residenz kennen lernen, dann wollten sie mit dem neu beginnenden Frühling in ländlicher Einsamkeit ihr Glück genießen.

Graf Eberhard bemühte sich unterdessen für seinen Sohn Alexis, der bedeutend jünger als der Oberst und fast noch ein Knabe war, einen geeigneten Lehrer zu finden. Alexis hatte ein auffallendes Talent für die edle Malerkunst gezeigt, und der Graf beschloß, ihm einen tüchtigen Meister zu geben. Da an dem Garnisonorte zugleich eine tüchtige Akademie war, hielt es nicht schwer, einen Künstler zu finden, der sich entschloß, für einige Zeit dem Haushalte des Grafen anzugehören, um auf dem alten Familienschlosse einige Bilder zu malen, und zugleich Alexis zu unterrichten. Die Reise nach der Residenz ward in der heitersten Stimmung angetreten. Es machte einen glücklichen Eindruck auf Alle, daß Herr von Bergheim, von einem heftigen Unwohlsein plötzlich befallen, nothgedrungen zurückbleiben mußte.

Auf seinem Schmerzenslager sich wälzend, lag er einsam da. Seine Freunde verließen ihn. Sie horchten lieber auf das Rasseln der Würfel und das Klingen der Gläser, als auf das Seufzen und Stöhnen des Kranken. Alles entbehrend, was einen Reiz für ihn haben konnte, lag er da, sein Geschick verwünschend und der Tyrannei eines mürrischen Dieners sich fluchend unterwerfend.

Plötzlich fuhr er auf. Theodor von Steinau war rasch eingetreten und stand vor ihm:

„Ich komme, meine Braut abzuholen,“ sagte dieser mit unterdrücktem Grimm. „Wo hast Du sie?“

„Sie ist nicht hier!“ entgegnete der Kranke stöhnend.

„Wo ist Rosa?“ rief er nochmals, sich nur mühsam bezwingend.

„Ich weiß es nicht!“ sagte er stotternd, in seinem Schmerze laut aufschreiend.

„Du lügst!“ rief Theodor. „Du hast sie an meinen Vetter, den schmachtenden Seladon in der Uniform verhandelt. Mir hast Du gestohlen was mein war, denn Du hattest sie mir verlobt, und der ganzen Sippschaft zum Trotz soll sie mir gehören. Bekenne, wo sie ist. Trotze nicht darauf, daß ich im Banne bin, und mich nur bei Nacht und Nebel herschleichen konnte. Ich bin erfinderisch zur Zeit der Noth, und wie ich den Weg hierher fand, finde ich ihn auch weiter. Darum bekenne! Wo ist Rosa?“

Der erschrockene Diener hatte sich Hülfe rufend entfernt. Draußen hielten Theodors Begleiter ihn fest. Der alte Bergheim blieb lange stumm; aber endlich vermochte er dem Drängen Theodors nicht zu widerstehen, und sagte ihm Alles. Mit einem lauten Fluche stürzte er hinaus.

Als der Diener nach einiger Zeit, der Haft ledig, bei seinem Herr wieder eintrat, fand er denselben in dem bedenklichsten Zustande. Er rief den Arzt herbei, der sich bald mit dem Ausspruche entfernte, daß hier nichts mehr zu hoffen sei. Am folgenden Morgen hatte Herr von Bergheim sein wüstes Dasein beschlossen.


III.

Das Hotel des Grafen Eberhard von Steinau, mit seinem schattigen Park und seinem duftenden Blumenparterre lag in dem schönsten Theile der Residenz. Hier begannen um diese Zeit die Tage der Lust und der Freude. Graf Eberhard, nur mit dem Glücke seiner Kinder beschäftigt, traf überall die zweckmäßigsten Einrichtungen. Rosa bewohnte mit den Damen, welche Graf Eberhard ihr zugesellte, einen Seitenflügel, bis die Wohnung im ersten Stocke, welche sie mit ihrem Gatten beziehen sollte, vollendet wäre. Der Oberst theilte seine Zeit zwischen der Geliebten und dem Vater und widmete Beiden seine zärtlichste Sorgfalt. Alexis zeichnete fleißig unter der Aufsicht seines lieben Meisters. Dieser las in den alten Familienchroniken, und forschte bei den alten Dienern des Hauses nach halbverschollenen Sagen und [442] Legenden, um Stoffe für die Bilder zu finden, womit er die stolzen Hallen des alten Stammschlosses schmücken sollte. Und war dann seine Seele von all’ den lieblichen Bildern erfüllt, ging er hinaus in die feierliche Stille des Parkes, um die einzelnen Gestalten, die vor ihm auftauchten, zu fesseln und zu einem lebensvollen Bilde zu vereinigen.

So war es an einem schönen Herbstabend. Der Mond schien hell und warf sein magisches Licht auf das buntgefärbte Laub. Da gewahrte er den Obersten mit seiner Braut im sinnigen Liebesgespräch lustwandeln. Indem er sich zurückzog, bemerkte er die düstere Gestalt eines Fremden, welche dem jungen Paare folgte. Aber der Fremde mußte ihn ebenfalls gesehen haben, denn alsbald war er verschwunden, und der Meister sah, von ferne folgend, das Brautpaar ungefährdet das Schloß erreichen. Der Fremde war im Park nicht zu finden. Dies Ereigniß hatte einen solchen Eindruck auf den Meister gemacht, daß er noch in selbiger Nacht die äußern Umrisse eines Bildes entwarf, das nachmals einen Theil der Halle auf dem von steinau’schen Herrensitze schmückte.

Der Hochzeitstag kam heran. Der Bund der Herzen ward am Altar geheiligt und die Gäste ergingen sich in heiterer Lust. Einschmeichelnde Melodien flogen durch den Saal und im wirbelnden Tanze flogen die Paare dahin. Der Oberst und Rosa standen seitwärts und die junge Gattin schien zu überlegen, ob sie den Wunsch des Gatten gewähren dürfe, der um die Blumen bat, welche ihre Brust schmückten, oder ob sie diese verweigern müsse, um sich als Herrin zu zeigen, die nicht nöthig habe, sich den Launen des gebietenden Eheherrn zu fügen. Aber indem sie noch sinnend dastand, hielt sie schon die schönste der Blumen in der Hand, um die Bitte des Geliebten auf das schönste zu erfüllen. Graf Eberhard stand seitwärts am Pfeiler und betrachtete seine Kinder mit dem gerechten Stolze eines Vaters, wenig achtend auf Alexis, der ihm eine Zeichnung brachte, die er morgen der lieben Rosa zum Geschenk darbringen und erst dem Vater zeigen wollte. Auch der wackere Meister war nicht weit und hatte bereits den Gedanken zu einem neuen Bilde empfangen, als er plötzlich in dem Gewühl eine Gestalt auftauchen sah, die dem Fremden, den er neulich im Park gefunden, auf ein Haar zu gleichen schien.

Das war kein Ungefähr. Der Meister ahnte irgend einen geheimnißvollen Zusammenhang. Er suchte in die Nähe des Fremden zu gelangen. Umsonst. Dieser hatte den Saal schon wieder verlassen.

Die Feste waren vorüber. Graf Eberhard begab sich auf sein fern am Meere liegendes Stammschloß. Der Meister folgte ihm dahin, um sein Werk sofort zu beginnen und Alexis ging an dessen Hand dem Traum einstiger hoher Künstlerschaft entgegen. Der Oberst und seine junge Gattin blieben in der Residenz.

Ein glückliches Jahr ging vorüber. Am Schlusse desselben legte der Oberst mit freudestrahlendem Gesicht einen Enkel in die Arme des Grafen. Die Fortdauer des so schön begonnenen Glückes schien für lange Zeit gesichert.

Mit dem Beginn des neuen Winters erschien Rosa an der Hand ihres Gatten wieder in der Gesellschaft. Die junge Mutter, strahlend in Anmuth und Schönheit, wurde von allen Seiten mit unerheuchelter Theilnahme begrüßt und Alle beeiferten sich, der jugendlichen Herrin eines erlauchten Geschlechtes ihre Huldigungen darzubringen.

Aber die Freude, die ihr so verführerisch entgegen lachte, währte nur kurze Zeit. Das Ungewitter, welches seit lange sich am Horizonte zusammenzog, brach endlich los. Den Meisten kam es unerwartet, sie konnten das schützende Dach nicht finden. Die Sturmglocken läuteten, die Trommeln wirbelten. „Feuer!“ hieß es dort, „Feuer!“ riefen sie hier. Das war kein zufälliges Zusammentreffen mehrerer Unglücksfälle. Das war ein vorher bedachtes Werk. Die allgemeine Verwirrung sollte den Rebellen die ersten Schritte erleichtern. Der Plan gelang. Ueberall wehten die Fahnen des Aufruhrs; seine wilden Lieder klangen bis in die entfernten Straßen. Wer sich gestern scheute, seine Unzufriedenheit laut auszusprechen, trat heute offen zu der Revolution über. Andere, die bis zur Stunde jeden Umsturz haßten, schlossen sich aus Furcht an. Die Hefe des Pöbels tobte mit wilder Siegesfreude in den Straßen und auf den Märkten, die noch nie eines solchen Anblickes Zeuge gewesen.

Und was in der Hauptstadt geschah, wiederholte sich im ganzen Lande. Die gesetzliche Gewalt, von der rohen Uebermacht erdrückt, lag ohnmächtig in Fesseln. Die Revolution behielt die Oberhand. Sie pflanzte ihre Banner auf und ihre Schreckensherrschaft begann. Alle, die es vermochten, wichen vor dem Ungeheuer zurück. Aus allen Thoren strömten die Vertriebenen in die Verbannung.

Die traurige Geschichte jener Tage wird hier nur berührt. Die Kunde von diesem Wechsel der Dinge gelangte auch endlich auf das entlegene Stammschloß des Grafen. Der Oberst sandte ihm die Botschaft und zugleich den Entschluß, vor dem Feinde nicht zu weichen, sondern ihm Widerstand zu leisten, so lange er es vermöge. Graf Eberhard rühmte den Muth des Sohnes und reiste sofort nach der Residenz, um gemeinschaftlich mit ihm zu handeln.

Er kam zu einem traurigen Anblick. Auf dem fürstlichen Schlosse hatte der Ausschuß für die allgemeine Wohlfahrt seinen Sitz aufgeschlagen und einer der einflußreichsten Mitglieder derselben war Theodor Steinau, wie er sich jetzt nannte. Sein Name stand unter den Dekreten, welche die allgemeine Ordnung der Dinge stürzten, und mit kaltem Hohn entwarf er die neuen Gesetze, durch welche der Staat der Zukunft regiert werden sollte.

Mit Energie arbeitete Graf Eberhard diesem Unheil entgegen. Er sammelte die Wenigen um sich, die auf dem Platze ausharrten und bewog viele, die in der ersten Bestürzung entflohen waren, zur Rückkehr. Die kleine Schaar der Treuen hielt fest aneinander; doch war sie nicht stark genug, um der immer mächtiger wogenden Brandung Trotz zu bieten. Sie ward gesprengt; die Hauptmitglieder gefangen gesetzt und als Volksverräther peinlich angeklagt.

In dem Hotel der Grafen von Steinau herrschte die größte Verwirrung. Bereits begannen die Diener, bis dahin der Herrschaft treu ergeben, zu schwanken und entfernten sich unter wichtigen Vorwänden. Als die Kommissarien des Volksausschusses erschienen, um den Obersten zu verhaften, war Niemand da, der ihm diesen drohenden Besuch meldete. Der alte Graf ward in gleicher Weise überrascht und bereits durch ein Seitenportal abgeführt. Als der junge Graf von seinem Weibe Abschied nahm und die Kommissarien fragte, ob er nicht vorher für die Sicherheit der verlassenen Frau sorgen dürfe, erhielt er keine Antwort. Rosa war in Verzweiflung. Vergebens bat sie, ihren Gatten begleiten zu dürfen, vergebens versuchte sie, ihm bis an die Thür seines Kerkers zu folgen. Als sie die Schwelle ihrer Wohnung überschreiten wollte, wurde sie von den dort aufgestellten Wächtern zurückgewiesen.

In wachsender Angst, weniger bekümmert um ihr eigenes Schicksal, als um das ihrer Lieben, irrte sie in den leeren Gemächern umher. Sie war allein mit ihrem Kummer und ihren Sorgen. Nein, nicht allein! Es klang, wie kräftiger Männerschritt. Den langen Corridor kam es herauf. Furchtsam blickte sie nach dem Eingange und laut schrie sie auf vor Entsetzen. Theodor Steinau stand vor ihr.

Mit einem höhnischen Lächeln stand er der unglücklichen Frau gegenüber, die verzweifelnd zu ihm aufschaute.

„Nun, gnädige Gräfin? Gefällt es Ihnen nicht, mich bei sich zu empfangen?“ sprach er mit schneidender Kälte. „Und ich komme doch nur, um die Pflichten eines besorgten Verwandten zu erfüllen.“

Rosa suchte sich zu fassen; sie drängte die Thränen, welche ihre Augen füllten, gewaltsam zurück und fragte:

„Was wollen Sie hier?“

„Ihnen den Schutz bieten, den Sie bedürfen, da Ihre bisherigen Beschützer weit von Ihnen sind und sobald nicht wiederkehren!“ antwortete Theodor kalt.

„Nicht wiederkehren?“ schrie sie auf.

„So sagte ich. Die Grafen von Steinau, des Verrathes überwiesen, sind auf Tod und Leben verklagt und keine Macht der Erde vermag sie zu retten.“

Rosa schwankte einem nahen Sessel zu. Ihre Augen schlossen, sich. Theodor eilte ihr zu Hülfe, sie fuhr bei seiner Berührung auf, als fühle sie den Biß einer giftigen Schlange. Theodor sah es mit verbissenem Aerger und sagte, einen Fluch zwischen den Zahnen murmelnd:

„Sie sind in diesem Palast sicher. Keiner wird es wagen, bis zu Ihnen zu dringen. Aber merken Sie es sich: Sie sind in diesem Palast auch mir sicher. Ich allein habe Zutritt zu demselben und meine Treuen werden mir den Schatz bewachen, den ich mir erobert habe.“

[443] Rosa sank händeringend in die Kniee. Theodor sah es und sagte achselzuckend: „Dieses Schauspiel macht so wenig Eindruck auf mich, als jedes andere. Die Qual, welche Sie[WS 1] jetzt dulden, habe ich durch Sie zehnfach erlitten. Wir sind von dieser Seite quitt. Ich liebte Sie und wollte Sie besitzen; ich will es jetzt mehr als je. Betrachten Sie das Band, welches Sie an den Obersten knüpft, als gelöst; werden Sie die Meine und ich schwöre Ihnen, die Grafen von Steinau sollen ungefährdet entkommen.“

Rosa wandte sich mit den Zeichen der tiefsten Verachtung von ihm ab.

„Reizen Sie mich nicht!“ entgegnete Theodor scharf. „Es ist nicht wohlgethan. Sie hörten meinen Vorschlag; denken Sie darüber nach. In vier und zwanzig Stunden fordere ich eine Antwort. Das Leben dreier Grafen von Steinau hängt von Ihrem Ausspruche ab.“

Die junge Gräfin schrie laut auf: „Mein Kind! Mein Kind! Mein Alexis.“

Sie wollte das Gemach verlassen. Theodor vertrat ihr den Weg.

„Meinen Sie, daß ich Vater und Sohn gefangen nehmen und den Enkel in der Wiege vergessen würde? Drei Grafen von Steinau habe ich gesagt.“

„Erbarmen!“ rief Rosa und sank bewußtlos vor ihm nieder.

„Das Erbarmen muß von Ihnen ausgehen, schöne Rosa. Das Erbarmen mit Ihren Angehörigen und das Erbarmen mit meiner Liebe!“ sagte er mit kaltem Spotte. „Ihr Schicksal liegt in Ihrer Hand. Warum klagen Sie?“

Er entfernte sich, ohne Rosa weiter zu beachten, die ohnmächtig am Boden lag.


IV.

Eine lange Zeit verstrich. Die stürmischen Wogen beruhigten sich und kehrten allmälig in die alten Gränzen zurück; aber diese Gränzen hatten sich geändert. Eine neue Ordnung der Dinge war eingeführt. Die alten Herrscher kehrten heim, aber ihre alten Rechte waren verloren. Dasselbe Verhältniß vom kleinsten Grundbesitzer bis hinauf zum Thron. Es war ein Bau, der bei dem ersten Anblick imponirte; aber das kundige Auge entdeckte bald den morschen Grund und berechnete den Tag, an welchem ein neuer Zeitensturm das künstliche Gebäude in einen Trümmerhaufen verwandeln werde.

In dem Umsturz des Ganzen verlor sich das Einzelne; oft unbemerkt und ohne Spur. Manches edle Haupt war dem Tode oder dem Kerker verfallen. Die wenigen Freunde, welche in der Verwirrung entkamen, sahen mit Entsetzen das Haupt ihrer edelsten Führer von dem Schwerte des Damokles bedroht. Und wie wunderbar. Gerade diese traf ein mildes Urtheil. Man zog ihre Güter ein und verwies sie des Landes. Ja, es hieß sogar nach einiger Zeit, Graf Eberhard habe durch den Einfluß eines auswärtigen Hofes die Erlaubniß zu erwirken gewußt, sich nach dem Stammschlosse seines Hauses, welches als ein Zeichen der Zwingherrschaft von dem aufgeregten Volke großentheils zerstört worden, zu begeben. Dort lebe er in tiefer Einsamkeit und werde von Niemandem behelligt. Gewisses wußte Keiner.

Von dem Obersten ging gar keine Nachricht ein. Er sollte in die Armee eines fremden Staates getreten sein; aber bei näherer Nachfrage erwies sich das Gerücht als falsch. Nur Eines wußte man gewiß. Die Grafen von Steinau hatten, durch den Beistand eines treuen Dieners, einen großen Theil des reichen Familienschatzes gerettet. Einmal hieß es, der Oberst habe sich in dieser oder jener Maske über die Gränze des Landes bis in die Hauptstadt gewagt. Aber auch hierüber konnte Niemand gewisse Auskunft geben. Endlich verlor sich das allgemeine Interesse und nur wenig Befreundete dachten von Zeit zu Zeit an die theuern Verschollenen.

Unter diesen Wenigen war der Maler Alexis, der in großer Erregung von seinem Freunde schied. Durch die Erlebnisse in der Gebirgspfarre waren längst verschollene Bilder vor ihm aufgetaucht. Er erinnere sich vieler, nur halb enträthselter Begebenheiten, die, indem er darüber nachsann, stets eine andere Form annahmen und ihn durch ihren steten Wechsel mehr verwirrten, als aufklärten.

Alexis Walter, wie er sich nannte, hatte in der großen norddeutschen Handelsstadt seit einer Reihe von Jahren gelebt, und sich daselbst eine achtungswerthe Stellung geschaffen. Seine Kunst gewährte ihm die Mittel zur Unabhängigkeit. Er wußte, daß er der jüngere Sohn der erlauchten gräflich steinau’schen Familie sei, aber er war so lange Alexis Walter genannt, daß er nur selten seiner eigentlichen Herkunft sich erinnerte. Ueberhaupt hatte er wenig von den Vortheilen genossen, welche die Stellung des Hauses den Söhnen desselben gewährte. Als die verhängnisvolle politische Katastrophe hereinbrach und Graf Eberhard nach der Hauptstadt eilte, blieb Alexis mit seinem wackern Meister auf dem alten Stammschlosse zurück. Nur selten gelangte eine Kunde von den Ereignissen des Tages in diese Waldeinsamkeit, und noch seltner hielt es der Meister für gut, sie ihm mitzutheilen. Er wollte ihm seine Unbefangenheit erhalten, und es gelang ihm. Die edlen Geistesgaben des Knaben entfalteten sich täglich freier, und sorglich war der Meister bemüht, sie der Vollendung entgegen zu führen.

Da traf ein Brief den Grafen Eberhard ein. Er war schon auf dem Wege in sein Exil und in keiner Weise war es ihm möglich geworden, nach seinem Stammschlosse zu gelangen und seinen Sohn abzuholen. Nur nach vieler Mühe gelang es ihm, einen Boten zu finden, der den Brief überbrachte. Der Graf wies darin den Meister an, sich mit seinem Zögling an einen bestimmten Ort zu begeben, wo sie zusammentreffen wollten, sobald die Umstände dies irgend gestatteten. Der Meister leistete Folge; aber dies Zusammentreffen fand nicht statt. Es verging ein Jahr, ohne daß der Graf ein Lebenszeichen von sich gab. Da erhielt der Meister den Auftrag, in einer der Hauptkirchen der großen Handelsstadt die Decke zu malen, und alsbald reiste er mit seinem Zögling dahin ab. Ein paar Jahre vergingen im frischen, fröhlichen Schaffen, und das große Werk war noch lange nicht vollendet, als der Meister gefährlich erkrankte und starb. In den letzten Stunden hieß er seinen Schüler sich nahe zu ihm setzen. Er wollte ihm die Aufschlüsse geben, welche er ihm bis jetzt in bester Meinung vorenthielt. Aber die Kräfte versagten ihm und Alexis erfuhr wenige, haltlose Bruchstücke.

Walter nannte sich Alexis nach seinem Meister und Pflegevater. Vor den Leuten galt er für einen Sohn desselben. Alexis selbst hatte sich in diese Idee so hinein gelebt, daß ihn ein Schauer überlief, wenn er daran dachte, daß es doch eigentlich anders sei. Ihm war es lieb, daß er von seiner Herkunft so wenig wußte und nahm sich vor, an dies Wenige so selten als möglich zu denken. Nach dem Heimgange des Meisters hielt er es für eine Ehrenpflicht, das nachgelassene Werk desselben zu vollenden. Und als dies unter der allgemeinsten Anerkennung geschehen war, hatte er sich an diesem Orte so sehr eingelebt, daß er ihn nur verließ, wenn die schöne Sommerzeit alle Menschen, am meisten aber die Dichter und Künstler hinaustrieb in den grünen Wald und auf die majestätischen Berge.

Da begegnete ihm das Abenteuer in der Gebirgspfarre und hin war seine Unbefangenheit. Das Blut der Grafen von Steinau regte sich in ihm. Seine nächsten Angehörigen, von denen er von der frühesten Jugend auf getrennt war, die er bis auf die Erinnerung vergessen hatte, traten klar und deutlich aus dem Nebel der Vergangenheit in die helle Gegenwart. Er gedachte des Vaters mit dem majestätischen Blick und der königlichen Stirn; er sah sich seinem Bruder gegenüber, wie er ihn mit scheuer Bewunderung anstaunte, wenn er in der glänzenden Obersten-Uniform erschien, und sich mit einer wundersamen Mischung von Scheu und Vertraulichkeit an ihn schmiegte, so oft der Oberst ihn mit seiner hellklingenden Stimme zu sich rief. Und Rosa! die liebreizende Jungfrau, die ihn wie einen jüngern Bruder liebte, ihm die zärtlichsten Namen gab und stets etwas hatte, womit sie sein junges Herz erfreute.

„Wo sind sie hingerathen?“ sprach er zu sich selbst. „Was ist aus ihnen geworden? Leben sie, in der Welt umher verstreut, ein trauriges, verkümmertes Dasein? Oder hat Gott in seiner Barmherzigkeit sie heimberufen? Und wo sind ihre Gräber? Ich will, ich muß das wissen.“

Dieser Entschluß ward alsbald zur That. Alexis pilgerte nach der Residenz, wo die Grafen von Steinau eine so glänzende Rolle gespielt hatten. Die Auskunft, welche er hier erhielt, war unbedeutend. Man wußte nichts Bestimmtes. Der ehemalige Palast des Grafen war Staatseigenthum. In demselben befand [444] sich eine Industrie- und Gewerbehalle. Mit bange klopfendem Herzen betrat Alexis ihn. Diese Räume, einst der Wohnsitz der Macht und des Glanzes, waren jetzt ein Ablagerungsort für die Erzeugnisse der Eisenhämmer und der Weberstühle. Nirgend mehr ein Zeichen aristokratischer Herrlichkeit. Keine weiten Säle im steten Festschmuck prangend, oft Monate lang nicht benutzt, aber jeden Augenblick bereit, eine Schaar von Gästen mit allem Glanze würdig zu empfangen. Jetzt waren alle Gemächer einander gleich; jeder fußbreite Platz nach dem Richtmaaß gewissenhaft vertheilt. Alexis konnte hier nicht heimisch werden. Er verließ die Heimath seiner Vater mit noch bedrückterem Herzen, als er sie betreten hatte.

Weiter setzte der Wanderer den Fuß. Abwärts führten seine Schritte, dem Hügel am Meere zu, auf dessen Spitze das halb verfallene Stammschloß derer von Steinau lag. An einem trüben Abend, der mit seiner Stimmung harmonirte, langte Alexis bei den Wohnungen der Sassen, am Abhange des Hügels an. Hier begann der Schauplatz, auf welchem er einen großen Theil seiner Jugend verlebte und in dem Schooße der ursprünglichen Natur die ersten Weihen der Kunst empfing. Hier kannte er jeden Fußsteig. In jedem Busch, jedem hervorragenden Stein, glaubte er einen Bekannten zu begrüßen. Hätte er an diese oder jene Thür geklopft, öffnete ihm diese wohl ein Greis oder ein altes Mütterchen, die ihn mit dem Ausrufe empfing: „Grüß Gott, Junkherr!“ wie es ehedem geschehen. Aber jetzt trieb es ihn mächtig vorwärts, und er ließ nicht nach, bis er die Spitze des Hügels erreichte und vor der Pforte stand, durch die er so oft hinausgeschlüpft war in den frischen, grünen Wald.

Noch saß der große, eiserne Klopfhammer an derselben Stelle und als wartete der Pförtner seines Amtes wie sonst, schlug Alexis drei Mal mit dem wuchtigen Eisen gegen die metallene Platte, daß es weithin schallte. Aber wie erschrak er, als die Pforte sich geräuschlos öffnete und ein Mann mit einer brennenden Fackel erschien. Das volle Licht fiel auf das Gesicht dieses Mannes und Alexis glaubte, denselben irgendwo gesehen zu haben, könne er sich auch jetzt nicht gleich besinnen, wo? Der Alte aber sagte:

„Ihr bleibt lange aus, Samuel. Habt wohl den Doktor nicht gleich finden können? Beeilt Euch, Herr; es steht schlimm mit meinem Gebieter.“

Alexis war eingetreten und der Mann, ihn näher ansehend, sprach:

„Wer seid Ihr? Was wollt Ihr?“

„Ein Reisender sucht auf dem Edelsitz der Hochgeborenen Grafen und Herren von Steinau das Gastrecht!“ entgegnete Alexis. „Sage mir, alter Mann, der Du mir wie eine Erscheinung aus früheren Tagen entgegen trittst, wer Du bist?“

Der Mann wurde durch den Ton dieser Stimme seltsam bewegt. Er hielt die Fackel von sich und ließ das volle Licht auf den Eintretenden fallen. Lange sah er ihn mit starren Augen an, dann aber rief er plötzlich unter einem Strom von Thränen:

„Es ist einer unserer Verlornen!“

„Und auch ich erkenne Dich nun“, sagte Alexis mit unbeschreiblicher Weichheit. „Warst Du nicht auf diesem Schlosse, als der fromme Meister Walter in der großen Halle malte und ich sein treuer Schüler war?“

„Ach Gott, er weiß das noch!“ rief der Diener mit zitternder Stimme. „O geschwind, geschwind, lieber Herr. Kommt mit nach der Halle, und Ihr werdet eine große Freude erleben. Und der alte Herr – ja, mein Söhnchen, er lebt noch, wenn auch sein Leben an einem seidnen Faden hängt. Ach! Er wird von Euch neues Leben empfangen, oder Ihr werdet ihm die Augen zudrücken. Das ist auch ein Trost. Meine Kniee schlagen aneinander. Ich kann nicht weiter.“

Der Alte vermochte kaum die Fackel zu halten. Alexis nahm sie ihm ab, faßte ihn kräftig unter den Arm und schritt der Halle zu. Der Diener aber sagte: „Tretet Ihr nicht zuerst ein. Er hätte den Tod davon, wenn er Euch so unvorbereitet sähe. Laßt mich gewähren, Herr; ich nehme mich schon zusammen.“

In der Halle glimmte das Feuer matt in dem Kamin. Der alte Graf saß in dem hohen Lehnsessel und sah in die verlöschende Glut, die sein bleiches Gesicht mit einem rosigen Schimmer übergoß.

„Bringst Du den Doktor, Anton?“ fragte er.

„Nein, Herr!“ entgegnete dieser.

„Ist auch unnütz, Anton. Hier ist keine Hülfe mehr; das letzte Sandkorn ist im Verrinnen. Wer schlug so laut an die Pforte?“

„Ein Fremder. Er bittet um die Gastfreundschaft der Grafen von Steinau.“

„Was ein armer Verbannter zu bieten hat, ist gern gewährt. Führe ihn her. Sagte er, wer er sei?“

„Er sagte es“, entgegnete Anton und sprudelte über. „Wenn Ihr wüßtet, wen ich Euch bringe. Ach, Herr … Hört …“

Und weiter ging es; ein Strom von Worten, über- und durcheinander, daß selbst Einer, der Alles im Voraus wußte, ihn nicht verstanden hätte, geschweige Jemand, dem Alles unbekannt ward.

Der Graf war nicht kräftig genug, seinen Redefluß zu unterbrechen und murmelte vor sich hin: „Der Alte spricht irre. Er weiß nicht, was er sagt.“

Da hielt es Alexis nicht länger zurück. Er trat rasch ein, kniete vor dem Grafen nieder und drückte dessen Hand an seine Lippen. Anton aber rief: „Er ist es! Alexis, unser Jüngster.“

Es dauerte lange, ehe sie sich faßten. Ein stetes Fragen und Antworten, ohne daß sie recht hörten, was sie sich sagten. Anton stand nahebei und konnte sich nicht satt fragen. Endlich aber kauerte[WS 2] er in einer fernen Ecke der Halle am Boden und sagte: „Ich will sie nur ansehen; nichts weiter.“

Der alte Graf war einen Augenblick wie vergnügt. Seine Augen strahlten, seine Wangen glühten. Freudenlose Tage der Verbannung hatte er überwunden. Endlich öffnete man ihm die Heimath; aber nur unter Bedingungen, die er nicht annehmen konnte. Ein einflußreicher Freund vermittelte, daß der Graf von Steinau sein altes Stammschloß bewohnen dürfe, und aus den Erträgnissen seiner eingezogenen Güter eine Jahresrente erhielt. Bedingung war, daß er sich auf das Gränzgebiet des Schlosses zu beschränken habe. Er erfüllte diese Bedingung nur zu wörtlich.

Allein mit seinem Gram lebte er innerhalb dieser Mauern. Umsonst waren die Erkundigungen, welche er nach Meister Walter und seinem jungen Sohn anstellte. Wenn der Meister jemals ein Zeichen hinterließ, wo er zu finden sei, war dieses Zeichen von einer dritten Hand vernichtet; vielleicht von derselben Hand, die sich nach dem Obersten und seinem schönen Weibe ausstreckte, denn auch diese blieben spurlos verschwunden.

„Ich schien einsam sterben zu sollen“, sagte der Graf erschöpft. „Und es wäre auch wohl in dieser Nacht geschehen, wenn mir nicht Gottes Barmherzigkeit Dich hieher gesandt hätte, damit ich eine geliebte Seele um mich habe. Nein, zwei! Den Anton darf ich nicht vergessen. Anton, Du alter treuer Diener. Treu wie Gold.“

Anton hörte es wohl in seiner Ecke, daß sein Herr ihn rief; aber er kam nicht, sondern hielt die Hand über die Augen und weinte still.

Schon dämmerte der Morgen durch die hohen Fenster herein. Der Graf hatte sich nicht von dem Sohne trennen wollen. Endlich gab er der beharrlichen Bitte nach und legte sich nieder. Alexis durfte ihn auch jetzt nicht verlassen.

Unterdessen hatte der Bote Samuel den Arzt gebracht, und dieser war um den Grafen bemüht. Er sagte dem Kranken einige tröstende Worte. Zu Alexis aber sprach er: „Wenn der Graf noch irgend etwas anzuordnen hat, lassen Sie es bald geschehen, es ist sonst zu spät.“

Die Stunde nahte, wo die sich für immer trennen sollten, die sich kaum gefunden hatten. Der Graf zog den Sohn zu sich nieder und flüsterte ihm zu:

„Der böse Theodor hat seinen Zweck doch nicht ganz erreicht. Er suchte mich einmal auf, als ich noch in der Verbannung war und sagte mir höhnend, ich hätte ihm sein Lebensglück geraubt, darum raube er mir das meine. Nie würde ich eines meiner Kinder wiedersehen. Und nun habe ich Dich doch und sterbe an Deinem Herzen. Gott segne Dich viel tausend Mal.“

Gegen Mittag war der Graf nicht mehr. Der Geistliche und der Richter des nächsten Ortes kamen. Sie waren von dem Verstorbenen längst für diesen Fall angewiesen. Man begrub ihn in aller Stille auf dem Kirchhofe des Ortes. Für seinen Anton hatte er treu gesorgt. Die Gemeinde erhielt die jährlichen Ersparnisse der gräflichen Rente, dafür war sie verpflichtet, den alten Diener bis an sein Ende zu pflegen. Er blieb auf dem Schlosse. Sein täglicher Gang war nach dem Grabe seines Herrn, daselbst [445] das Gebet zu sprechen. Alexis hatte ihn nicht bereden können, mit ihm zu gehen. Er wollte auch im Tode nicht von seinem Wohlthäter lassen.

Mit schwer belastetem Herzen rüstete sich Alexis zum Abschiede von der Burg seiner Ahnen. Sein Vater hatte ihm von dem Bruder wenig sagen können. Er wußte nur, daß der Oberst, voll Verzweiflung über den Verlust seiner Rosa, die er in dem Angriff des Pöbels auf den gräflich steinau’schen Palast umgekommen wähnte, nach Holland gegangen sei, um dort Dienste zu nehmen, bis eine bessere Zeit ihm die Rückkehr in das Vaterland gestattete. Seine Abreise war erwiesen. Ob er in Holland ankam, und dort auf eine freilich unbegreifliche Weise verschollen war? Oder ob er jenes Land gar nicht erreichte? Graf Eberhard hatte darüber nichts erfahren. Der Oberst blieb spurlos verschwunden.

Kurz vor seinem Scheiden stand Alexis in der Halle und [446] warf einen Abschiedsblick auf jene Wandbilder, die sein wackerer Meister malte, und die er von den ersten Umrissen an hatte entstehen sehen. In dem Anblick versunken, war es ihm, als ob sich alle die Seinen um ihn versammelten, als ob alle diese Gestalten Fleisch und Blut empfingen. Und wie er um sich schaute, bald bei Diesem, bald bei Jenem weilend, fielen seine Blicke auf die finstere Gestalt, die der Meister mit einem Anstrich dämonischer Kraft malte und die, gleich einem bösen Geiste, in diesen friedlichen Kreis trat. Alexis sah wie gebannt auf ihn und als falle plötzlich ein Strahl der Erkenntniß in seine Seele, rief er aus:

„Theodor Steinau! Sei Gott dir und mir gnädig, wenn jemals unsere Wege sich kreuzen!“

Und in großer Erregung verließ er die Halle, hinauswandernd in den grünen Wald.




V.

Der Schauplatz wechselt. Vom festen Lande geht es hinaus in die offene See. Ein stattlicher Dreimaster durchschneidet die Fluth des atlantischen Oceans. Seine Ausrüstung, halb Handelsschiff, halb Orlog, deutet auf einen Indienfahrer. Eine Flagge weht nicht auf offner See von der Gaffel, aber der breite Wimpel am großen Togg zeigt die niederländischen Farben.

In der zweiten Kajüte sitzen ein paar Deckoffiziere neben einander. Sie dampfen aus langen Pfeifen und sprechen der bauchigen Geneverkruke so fleißig zu, daß die Wirkung des Genusses sich bereits zu zeigen beginnt, denn die Schweigenden werden gesprächig. Der Eine legt die Hand auf den Arm des Andern und sagt:

„Nehmt Euch nur in Acht, daß er es nicht hört.“

„Und dann? Wem will er es ausplaudern? Sind Hunderte von Meilen bis zum nächsten Lande. Und auf Java kann er sprechen, so viel er will. Vom Bord kommt er nicht, ehe seine sieben Jahre um sind. Darauf schwöre ich.“

„Kannst Du wissen, was der Kommandeur im Sinne hat.“

„Denke, es seit gestern zu wissen. Der deutsche Muff hatte sich, trotz unserer Vorsicht, aus dem Quartier zu stehlen gewußt und steht mit einem Male auf dem Halbdeck vor dem Kommandeur. Hollah, Bursche, sagt dieser. Woher? Und warum betretet Ihr diesen Platz? Weil ich mit Euch zu reden habe? antwortet er und blitzt den Kommandeur mit seinen brennenden Augen an, daß diesem die Worte nicht von der Lippe wollen und er sich umdreht. Der Deutsche weicht nicht von der Stelle und als der Kommandeur befiehlt, er solle sich von dem Halbdeck scheeren, antwortet er mit lauter Stimme, er wolle nicht; denn er sei auch Offizier und höher im Range, als irgend einer am Bord. Hättest sehen sollen, wie das dem Kommandeur vor den Kopf fuhr. Mir juckte es in den Beinen, als ich das hörte, und die Arme streckten sich aus. Aber daß ich es sage, mir fehlte die Courage, ihn in das Quartier zurückzubringen. Er sagte weiter: wenn Ihr ein Mann von Ehre seid, so hört einen Edelmann aufmerksam an. Der Kommandeur trat nach diesen Worten zurück, winkte den Deutschen zu sich und sprach mit ihm lange Zeit. Als nichts mehr zu sagen war, ging der Kommandeur einige Male auf und ab und sagte: „Morgen!“ worauf Jener von selbst ruhig in sein Quartier ging. Nun mußte ich heran und ward in des Kommandeurs kleiner Kajüte scharf von ihm in das Gebet genommen, weil ich einen Edelmann preßte und ihn nicht laufen ließ, als ich meinen Irrthum merkte. Hielt die ganze Predigt tapfer aus; legte mir während derselben alles gehörig zurecht und sagte dann: das ist nichts, Mynheer[WS 3]. Da könnte Jeder Offizier sein wollen und Edelmann dazu. Wenn er sich im Wirthshause seine Papiere stehlen ließ, so ist das des Diebes Sache und geht uns nichts an. Ich bin Offizier bei dem Preßgang und wenn es am Bord an Mannschaft fehlt, nehme ich die Kerle, wo ich sie finde. Das ist eines Ostindienfahrers Recht. Wer sich zehn Gulden in die Tasche stecken läßt, wissentlich oder unwissentlich, der ist, so wie er den Fuß auf das Deck setzt, der Kompagnie auf sieben Jahre zum Dienst verpflichtet. Darauf habe ich meinen Eid geleistet. Das Alles sagte ich dem Kommandeuer in’s Gesicht, Maat, wie ich es jetzt Dir sage. Aber er war damit nicht zufrieden, und brummte zum Teufel holen. Ich hätte die Suppe eingerührt und solle mich nur in Acht nehmen, wenn wir in Batavia ankämen. Jetzt hatte er mich in der Klemme und ich mußte schon mit der Sprache heraus, darum sagte ich: Herr Kommandeur, ich habe Euch noch ein Wort zu sagen von dem Baron van Steen, der, wie Ihr wißt, ein rechter Mann im Lande ist und die ganzen Generalstaaten in der Tasche hat. Und der Baron hat gesagt, jener Mann wäre irgendwo im Wege und müsse fort, und er mache mich bei Verlust des Kopfes verantwortlich, daß er lange Zeit, am liebsten für immer, von Europa fern bleibe. Und diesen Brief sollte ich nur dem Schiffskommandanten geben, sobald die Sache zur Sprache käme, hat der Baron gesagt. Damit legte ich den Brief auf den Tisch und ging hinaus. Durch die Thürritze sah ich, wie der Kommandeur den Brief las, und ihn dann in’s Licht hielt und verbrannte. Es war dem Herrn vor den Kopf gefahren, denn er hatte dem Deutschen versprochen, wenn sich Alles so verhielte, wie er es geschildert, wolle er sich verbürgen, daß ihm volle Genugthuung werde und was noch sonst. Nun weiß ich zwar nicht, was in dem Briefe des Barons stand; aber der Kommandeur ließ den Deutschen nicht wieder vor sich und gab nur unter der Hand zu verstehen, daß man ihn ruhig gehen lassen, anständig beköstigen und nicht zum gemeinen Schiffsdienst verwenden solle.

Während der Unterhaltung der beiden Deckoffiziere war ein Dritter am Eingange der Kajüte erschienen. Er trug zwar nur die weite Jacke und die Orangemütze eines gewöhnlichen Matrosen, aber die ganze Haltung verrieth den vornehmen Aristokraten. Dieser lauschte dem Gespräche der beiden Männer und war offenbar unschlüssig, ob er sie ruhig bis zu Ende hören, oder dazwischen fahren, und ihnen das Bekenntniß des schändlichen Verrathes gewaltsam entreißen sollte. Aber die Vernunft bezwang die aufwallende Leidenschaft und er entfernte sich, als er sah, daß die beiden Kerle Miene machten, aufzubrechen. Es ward ihnen bei dem gegenseitigen Bericht ihrer Seelenverkauferei unheimlich und sie suchten mit einer Anwandelung von Furcht ihre Hängematten auf.

[453] Als am andern Morgen der Kommandeur das Halbdeck betrat, erschien der deutsche Kavalier und sagte: „Seit drei Tagen harre ich des versprochenen Bescheides. Ich will nicht länger warten.“

Der Offizier vom Dienst wollte Hand an den Rebellen legen, aber der Kapitän winkte demselben zurückzutreten und sprach:

„Herr Oberst –“

„So weiß man hier, wer ich bin?“

„Ich bitte Sie, Herr Oberst, mich gelassen anzuhören. Gewisses weiß ich von Ihrer Herkunft nicht, denn der einzige Beweis, Ihre Papiere, sind Ihnen nach Ihrer Aussage entwendet. Hören Sie mich also ruhig an; ich meine es gut mit Ihnen. Geben Sie mir Ihr Ehrenwort zu schweigen, so sollen Sie die Kajüte neben der meinigen bewohnen und gehalten werden, wie mein erster Offizier. Für sieben Jahre sind Sie der ostindischen Kompagnie zum Dienst verfallen. Auf Sie wird es ankommen, ob Sie diese Zeit unter angenehmen Verhältnissen auf Java verbringen, oder am Bord eines Schiffes einrangirt werden wollen, wo ein schweres Loos Ihrer wartet.“

Der Oberst war sehr aufgeregt. Der Kommandeur bemerkte es und sagte:

„Es sei fern von mir, sogleich eine Antwort zu fordern. Wir haben hier auf offener See Zeit genug. Beziehen sie einstweilen die Ihnen zugetheilte Kajüte. Wir wollen für jetzt nicht mehr davon reden. Es wird am Bord heißen, ich habe Sie zu meinen Privatsekretair gemacht und weiter hat Keiner darein zu reden. Guten Morgen, Herr van Steen.“

Die Reise ward vollendet. Während derselben fiel nichts vor. Die Holländer sind schweigsam. Als es unter den Offizieren hieß, der bei Abreise gepreßte Deutsche heiße eigentlich Herr van Steen und derselbe werde Sekretair des Kommandeurs, mit Offiziersrang, nahmen sie es als eine vollendete Thatsache; rauchten mit ihm, tranken ihren Genever in seiner Gesellschaft und nannten ihn Mynheer. Als aber das Schiff vor Batavia ankerte, war der Oberst einer der Ersten, der dem Klima seine Schuld bezahlte. Vielfach hatte der Kommandeur sich darüber den Kopf zerbrochen, wie er die Pflicht der Menschlichkeit gegen den Obersten erfüllen könne, ohne sich selbst verantwortlich zu machen. Nun war er plötzlich jeder Sorge überhoben. Das böse Fieber warf den Obersten auf das Siechbette und bald lag er bewußtlos unter vielen Andern im Hospital. Unter denjenigen, die sich am meisten um ihn bekümmerten, war der Deckoffizier, der ihn in Holland gepreßt hatte. Er kam täglich mehrere Male und erkundigte sich nach dem Befinden des Kranken. Zugleich hatte er vertrauliche Besprechungen mit dem ersten Beamten des Hauses und sagte zu diesem: „wenn Ihr meint, daß es mit ihm doch vorbei ist, kann es nicht schaden, wenn wir es mit dem nächsten Schiffe, das in diesen Tagen absegeln soll, nach Europa melden. Ich weiß, daß man sich dort sehr um das Schicksal des Herrn van Steen kümmert und Ihr würdet Euch durch Euere Willfährigkeit der Familie dankbar verpflichten, die, dafür habe ich Beweise, eine Gefälligkeit nicht unerwiedert läßt.“

Der Beamte wechselte einen Blick des Einverständnisses mit dem Deckoffizier und als nach einigen Tagen eines der Ostindienfahrer nach dem Mutterlande absegelte, fand sich unter den für Deutschland bestimmten Briefen einer vor, der die Adresse des Herrn Theodor Steinau trug.


VI.

Vor einem der Thore der Hauptstadt lag, weitab vom Gewühl ein stilles Haus. Vor demselben befand sich ein wüster Hof. Hinter demselben ein mit dichtbelaubten Bäumen besetzter Platz. Das Ganze war mit einer hohen Mauer umgeben, über welche der Gipfel des niedrigen Hauses kaum hinausragte. Es sollte vor langen Jahren von einem vornehmen Sonderling erbaut sein. Derselbe habe dort, wie man meinte, als ein zweiter Blaubart gehaust. Noch Andere sprachen von einem geheimnißvollen Laboratorium, worin ein anderer Albert Thurneiser oder Böttcher die Herstellung edler Metalle versuchte.

Lange Zeit hatte das Haus leer gestanden und Keiner wußte genau, wer eigentlich der Eigenthümer sei. In den Tagen des Aufruhrs wurde es von der Volkspartei als Staatseigenthum in Anspruch genommen, und sollte zu einem Gefängniß für Vaterlandsverräther benutzt werden. Anfangs bekümmerten sich die Neugierigen sehr darum, wie denn alles Geheimnißvolle reizt. Als sich aber nichts dergleichen zeigte, schwand die Theilnahme, wie sie gekommen. Niemand ahnte, daß die Schwiegertochter des einst mächtigen Grafen von Steinau hier ein trauriges Dasein fristete.

Die junge, lebensmuthige Frau sah sich kaum noch ähnlich. Das Lächeln, durch welches sie alle Welt bezauberte, war entflohen, das Roth ihrer Wangen erloschen. Ihr Gesicht war bleich und in ihren Zügen wohnte ein tiefer Seelenschmerz. Aber dieser [454] Schmerz umgab sie mit einem Schimmer der Verklärung und gewann ihr blindlings die Herzen ihrer Untergebenen.

Theodor, durch sein schlaues und energisches Handeln zu Macht und Ansehn gelangt, hatte sich einen großen Theil der von steinau’schen Güter als Seitenverwandter dieses Hauses zu erstreiten gewußt. In allen Dingen stand er über Allen. Nur in Einem war er unbedingter Sklave und hätte sich rücksichtslos beherrschen lassen, wenn man es gewollt. So oft er es vermochte, eilte er nach jenem einsamen Hause, um Rosa zu sehen. Anfangs waren diese Besuche für die Unglückliche schrecklich. Aber ihm lag Alles daran, sie für seine stürmische Leidenschaft zu gewinnen. Er gab ihr die herrlichsten Versprechungen für die leiseste Hoffnung und brachte ihr ihren Sohn zurück. Der kleine Alexis durfte seine Mutter täglich ein paar Stunden besuchen. Ein alter Diener brachte ihn und holte ihn zu bestimmten Zeiten wieder. Das Glück der Mutter besänftigte den Zorn der Frau. Sie ward freundlicher gegen Theodor und dieser begann Hoffnung zu schöpfen. Seine Neigung war tiefer, als er selbst vielleicht wußte, und wunderbar ergriffen von der Anhänglichkeit dieses Mannes vermochte es Rosa über sich, ihn nach und nach mit weniger Widerwillen zu betrachten. Es entspann sich im Laufe der Zeit zwischen Beiden ein gesellschaftliches Verhältniß, das erträglich genannt werden konnte; ja, Rosa ertappte sich sogar einmal mit leichtem Erröthen über einer Empfindung, die ihr bisher unbekannt war, als Theodor, von unerwarteten Geschäften behindert, mehrere Tage nach einander nicht erschien. Die Qual einer endlosen Einsamkeit hatte sie dahin gebracht, sich an den Umgang des Mannes zu gewöhnen, der ihr Unglück in weit größerem Maße verschuldete, als sie selbst wußte.

Nur über einen Punkt durfte er nicht hinaus. Er versuchte es oft, auf eine innigere Verbindung hinzudeuten, aber sie wies jede Bewerbung mit den strengen Worten zurück, daß sie die Gattin des Obersten sei und keine Macht der Erde sie bewegen werde, ihm die Treue zu brechen.

So sprach sie auch eines Abends, als Theodor zum Abschied ihr die Versicherung seiner ewigen Liebe wiederholte. Bei früheren Anlässen war er dann im halben Zorn davon geeilt, jetzt blieb er stehen, sah sie fest an und sagte mit Nachdruck: „Und wenn Sie nicht seine Frau, sondern seine Wittwe wären? “

Sie schrie laut auf. Theodor reichte ihr den Arm und führte sie zum Sopha.

„Das räthselhafte Verschwinden des Obersten ist bekannt. Sie haben jede vernünftige Muthmaßung, daß er nicht mehr am Leben sei, mit Verachtung von sich gewiesen. Seit Stunden habe ich mehr als Vermuthungen. Mir ist bekannt, daß er nach Indien gegangen ist; der Himmel weiß aus welchem Grunde. Dort ist er schwer erkrankt. Machen Sie sich auf Alles gefaßt. Ich bin genöthigt, eine Reise zu unternehmen. Bei meiner Rückkehr werde ich Sie hoffentlich beruhigter wiederfinden.“

Er rief ihre Dienerin und entfernte sich eilend.

Drei Tage brachte sie in großer Aufregung zu. Seit sie diesen Kerker betrat, hörte sie das erste Wort von ihrem Gemahl, und es war ein so trostloses. Mit fieberhafter Erregung klammerte sie sich an die schwächste Hoffnung. Ihre Liebe zu dem theuern Freund war mit aller Stärke erwacht. Am Abend des vierten Tages brachte ihr der treue Hausdiener einen Brief. Es war der erste, den sie empfing. Mit zitternder Hand erbrach sie das Siegel. Theodor schrieb, daß er mit diesen Zeilen die Bestätigung seiner neulichen Mittheilung sende. Es war der von dem großen Hospital zu Batavia ausgestellte Schein, daß der Oberst Eugen, Graf von Steinau daselbst am klimatischen Fieber verstorben sei.

Nun verging eine geraume Zeit. Rosa hatte mindestens die äußere Haltung wieder gewonnen. Theodor kam endlich zurück und setzte seine Besuche in der gewohnten Weise fort. Von dem eben erwähnten Ereigniß war keine Rede. Nur als Rosa eines Abends mit betrübtem Zagen fragte, was in dieser Einsamkeit aus Alexis werden solle, antwortete er fest: das liege in ihrer Hand. Sie dürfe sich nur entschließen, seine Gattin zu werden, um alsbald in die Welt zurückzukehren und ihrem Sohne die Stellung zu bereiten, welche sie selbst als die wünschenswertheste bezeichnete. Da siegte die Mutterliebe über die Treue für den verlornen Gatten, und kaum hörbar sagte sie zu ihm: „Um seinetwillen bin ich die Euere. Sündige ich, so wird mich Gott um dieser Ursache willen milder strafen. Gönnt mir noch einige Zeit, um mich mit dem Gedanken vertraut zu machen, einem Andern zu gehören.“

In gewohnter Einförmigkeit verstrichen die Tage. Da wollte es Rosa eines Abends bedünken, als vernehme sie einzelne Klänge einer Guitarre.

„Es ist nicht möglich!“ sagte sie zu sich selbst. „Die hohe Mauer, die mich von allen Seiten umschließt, die Wächter, die Niemandem gestatten – Unmöglich. – Täuschung! – Und doch! – da klingt es wieder.“

Sie trat dicht an das Fenster, das von außen mit hölzernen Läden verschlossen war. Die einzelnen Klänge wurden zur Melodie, zur Melodie eines Liedes, welches sie vor allen andern liebte, mit welchem sie den Geliebten jedes Mal empfing, wenn er in das Haus ihres Vaters kam.

Rosa war in der höchsten Aufregung. Seit sie in diesem Kerker lebte, war es ihr nicht eingefallen, zu singen. Jetzt fiel sie mit hellem Klange ein, bis die Musik plötzlich verstummte.

„Es war der erwachende Frühling, der mein Schicksal entscheidet,“ sagte sie zu sich selbst, und wich überrascht zurück, als zu dieser ungewohnten Stunde der alte Diener eintrat.

„Ich bin stets ein treuer Knecht der Grafen von Steinau gewesen,“ flüsterte er ihr zu, „und als ich ihm treulos ward, geschah es nur, um bei Euch zu bleiben. Er wußte darum. Faßt Euch, Herrin! Die Musik! Ach Gott, der Herr Oberst –“

„Eugen!“ schrie sie laut auf.

„Um Gotteswillen, kein lautes Wort! Wenn die Dienerin uns hörte, Alles wäre verloren. Ihr sollt ihn sehen. Gleich!“

Leise Schritte wurden gehört. Rosa schwankte der Thür zu.

Ein keuscher Schleier bedecke diese heilige Scene. Sie hatten sich wieder.

Der Oberst schied, um am nächsten Abend wiederzukehren.

Die Flucht aus dem Kerker ward zwischen Beiden verabredet; in einer lauen Frühlingsnacht ging sie vor sich. Mit seinem Weibe und seinem Kinde fuhr der Oberst im sausenden Galopp davon. Der alte Diener folgte ihnen.

Drei Tage später erschien Theodor. Mit einem Blicke übersah er Alles. Gewohnt, entschlossen zu handeln, gab er sich keinem ohnmächtigen Zornausbruche hin. Es gelang ihm, die Flüchtlinge zu entdecken. Mit welchem Erfolge er gegen sie auftrat, ist bereits durch den „Pfarrer im Gebirge“ kund gethan. Nach einiger Zeit kehrte Theodor nach dem einsamen Hause zurück, nur von einer Dame begleitet, und bald herrschte hinter jenen Mauern dasselbe Schweigen wie vordem.

Aber jenseits der Mauer ward es desto lauter. Allgemeine Aufregung verursachte das Gerücht, daß der Oberst, welcher, gleich seinem Vater, des Landes verwiesen wurde, sich habe sehen lassen. Bald war es kein bloßes Gerücht mehr. Die Kunde trug sich von Mund zu Munde, daß der Oberst an der Spitze eines Komplottes stehe. Er sei das Haupt einer weitverzweigten Verschwörung, und von den Mitgliedern des geheimen Bundes zum Führer des neu zu gründenden Staates bestimmt.

Es gibt nichts so Unsinniges, das nicht bei der Menge Glauben findet; und diesmal sollte sich das Gerücht rechtfertigen. Der Oberst war, als er seine Pläne verrathen sah, entflohen, aber von der stets wachsamen Gerechtigkeit ereilt worden. Man brachte ihn gefanglich ein, und sofort wurde ihm der Prozeß gemacht. Die Verhandlungen fanden bei verschlossenen Thüren statt; das Urtheil der Richter schwankte. Der größte Theil derselben erkannte auf Todesstrafe; der Fürst milderte sie in lebenslängliches Gefängniß.

Rosa wußte nichts davon. Sie war schwer erkrankt. Im heißen Fieber rief sie nach Alexis, dem armen Knaben, der aus Schmerz über die Trennung von den Seinen die Sprache verlor, und in der einsamen Gebirgspfarre eine Freistatt fand.


VII.

Es war eine andere Zeit geworden. Die Eigenmächtigkeiten der neuen Gewalthaber riefen mehr Gegner in das Feld, als die früheren jemals besessen hatten. Nur weil Keiner an die Entschlossenheit der Freunde glaubte, gab er der eignen Zaghaftigkeit [455] vollen Raum. Man wollte nicht selbst beginnen, aber man war vollständig bereit, sich der Bewegung anzuschließen, wenn sie durch einen Dritten hervorgerufen würde. Noch war ein solcher Augenblick nicht gekommen, aber er bereitete sich in aller Stille vor, und Niemand wußte bestimmter, als Theodor Steinau selbst, daß der Tag nahe sei, wo er von dem Schauplatze seiner Macht herabsteigen müsse. Er bereitete Alles zu diesem Tage vor.

Alle, die dem Vaterlande nur dienen, um eignen Zwecken zu fröhnen, bereiten sich zeitig ein Asyl in der Fremde, dem sie zueilen, wenn das falsche Spiel vorüber ist, denn Untreue schlägt ihren eigenen Herrn. Auch Theodor Steinau hatte sich auf einen solchen Fall hinlänglich vorbereitet. Nur Eines bekümmerte ihn: daß er die Gegenstände seiner Rache zurücklassen mußte, ohne sie ganz hingeopfert zu haben. Der Oberst saß in seinem Gefängniß, ein schuldlos Verurtheilter, der vergebens auf seine Erlösung harrte. Rosa, von dem eigentlichen Schicksal ihres Gatten nichts ahnend, lebte wieder in dem einsamen Hause von störrischen Dienern umgeben, die all’ ihr Beginnen mit Argusaugen überwachten. Theodor kam ihr nicht mehr in den Weg. Sie schämte sich ihrer frühern Schwäche und ließ es ihm nach der abermaligen Trennung von ihrem Gatten doppelt fühlen. Seine Liebe zu ihr erlosch und machte einem finstern Hasse Platz. Er glaubte diesen nicht härter zeigen zu können, als sie über das Schicksal der Ihrigen stets in Ungewißheit zu lassen. Durch ihre Umgebung ließ er ihr dann und wann einzelne Worte zuflüstern, welche sie in einer steten Aufregung hielten, und wahrlich, dieser teuflische Plan gelang vollkommen. Rosa glich einem Schatten, der unhörbar durch die düstern Zimmer schwebte; kein Seufzer erleichterte die beklemmte Brust und nur ein Blick nach oben verrieth die Sehnsucht ihres Herzens mit den Lieben vereint zu werden, welche sie dort ihrer harrend wähnte.

Aber der Knabe, der kleine freundliche Alexis, der auf der Flucht seiner Eltern verloren ging, und dessen unbekanntes Schicksal ein stets nagender Wurm an dem Herzen seiner Mutter war? Theodor Steinau lag Alles daran, sich desselben zu bemächtigen, um einen Gegenstand seines Hasses mehr zu beherrschen. Eine gütige Vorsicht hielt schirmend die Hand über diesen Knaben, damit er in der einsamen Pfarre aufblühe. Mehrere Jahre waren mit vergeblichen Nachforschungen verstrichen, da gelang es einem der Spione, des kleinen Alexis Aufenthalt zu entdecken. Unerwartet fiel er über denselben her, verstreute seine Sachen an einem schroffen Felsabhange, damit man glaube, er sei dort verunglückt und brachte ihn seinem Gebieter. Theodor Steinau, erfreut, den letzten Sprößling des verhaßten Geschlechts seiner niederen Rache zu opfern, bestimmte ihm dasselbe Schicksal, was einst Richard III. über den jungen Clarence verhängte. Er warf ihn unter die Hefe des Volkes und ließ den Leuten, denen er übergeben wurde, andeuten, an einem Jungen, der nicht einmal sprechen könne, sei nichts zu verderben. Man möge ihn tüchtig arbeiten lassen und gut überwachen, damit er keine dummen Streiche begehe. So lebte der arme Alexis von gemeiner Arbeit niedergedrückt, auf das kümmerlichste genährt und gekleidet, ein freudenloses Dasein; seine Tage schlichen in schauriger Einförmigkeit vorüber, und nur wenn in einsamer Nacht der Schlaf ihn aufsuchte, oder wenn er verschickt wurde, um eine ihm aufgebürtete Last an einen bestimmten Ort zu bringen, oder eine solche heimzuholen, fühlte er sich frei und glücklich von seinen Peinigern fern zu sein.

So hatte er eines Morgens seine Bürde in einer fernen Vorstadt abgeworfen und ging leicht und heiter heim. Auf einem der vielen sonnigen Plätze ließ er sich ermüdet nieder und athmete frei auf. Es war ein lebhaftes Drängen um ihn her. Menschen schaarten sich zusammen, zogen weiter und machten Anderen Platz. Diese Bewegungen waren die Vorboten der größeren Ereignisse des Tages, an welchem der Tyrann gestürzt und Recht und Gerechtigkeit wieder zu Ehren kommen sollten. Alexis achtete nicht darauf. Er war innig froh, daß er zu dem blauen Himmel aufschauen und das Grün der Bäume rauschen hören konnte; er achtete nicht auf die vorüberrauschende Menge, und sah nicht den einzelnen Mann, der unfern von ihm stand und ihn mit großer Theilnahme betrachtete. Endlich trat dieser näher, legte die Hand auf die Schulter des Knaben und sah ihm fest in das Gesicht.

„Welche wunderbare Aehnlichkeit!“ sprach er vor sich hin. „Sollte es möglich sein? Wer bist Du, Knabe?“

Alexis sah zu ihm auf und schüttelte mit dem Kopf.

„Er ist stumm. Auch das trifft zu. Armes Kind! – Wie kommst Du hierher? Wenn Du es nicht sagen kannst, kannst Du es mir vielleicht aufschreiben?“

Ueber das Gesicht des Knaben flog ein rosiger Schimmer.

Dann ließ er das Haupt sinken und machte eine abwehrende Bewegung. Er mochte manche schwere Züchtigung erfahren haben, wenn er zeigen wollte, was er gelernt. Man hatte ihn gezwungen, es zu vergessen.

„Hast Du Niemand, der für Dich sorgt? – Nein? – Willst Du mit mir kommen, so will ich es thun. Ich werde Dich gut halten und Dich lieb haben.“

Der Knabe sah den Fremden froh erwartend an. Dieser beugte sich zu ihm nieder.

„Ist das nicht der Maler Alexis Walter, von dem man seit einiger Zeit so viel Wesens macht?“ fragte ein Vorübergehender.

„Er ist es!“ lautete die Antwort. „Fällt Ihnen etwas auf?“

„Gewiß. Ich bemerke mit Erstaunen, welches Interesse er an den schmutzigen Jungen nimmt, der dort auf der Bank hockt.“

„Vielleicht ein Modell.“

„Warum nicht gar! Es ist aber wirklich merkwürdig! Lassen Sie uns doch näher gehen. Da stehen schon Mehrere und sehen der Scene zu.“

Mehrere Neugierige, die sich sammelten, stießen sich an: „Wie sonderbar! Hat man so etwas gesehn!“ sagte Einer.

„Sie sehen sich außerordentlich ähnlich!“ bemerkte der Zweite.

„Wie Vater und Sohn!“ sprach lächelnd ein Dritter.

„Oder eher wie ein älterer und ein jüngerer Bruder!“ entschied ein Vierter.

Alexis Walter hörte das Geflüster. Er zog daher den Knaben mit sich fort. Der Strom der Menge fluthete weiter. Zwei Menschen fanden sich, die sich im Leben nicht sahen und doch einander so nahe angehörten. Mit rührender Sorgfalt sorgte Alexis für den verwahrlosten Knaben. Aber das war ihm nicht genug; er wollte auch wissen, wie er in dies Elend gerieth. Bald wußte er Alles und furchtlos trat er bei dem Kerl ein, der bis daher der Büttel seines Neffen war. Dieser war anfangs grob und drohte mit Mord und Todtschlag, wenn man den Knaben nicht sofort wiederbringe; aber Alexis Walter setzte dem rohen Poltern unerschütterliche Kaltblütigkeit entgegen und der Mann, dem eine Ahnung kam, daß er zu einem Bubenstücke die Hand bot, wofür er dem Gesetz verfallen könne, wenn ein Umsturz der Dinge bevorstände, gab endlich nach und bekannte, wer ihm den Knaben übergeben und welche Anweisungen er empfangen habe.

„Theodor Steinau!“ Er wußte genug und kehrte mit dem Entschlusse heim, am Tage der allgemeinen Abrechnung auch für diese That Genugthuung zu fordern.

Und dieser Tag kam mit fliegender Eile. Oheim und Neffe erwarteten ihn mit Sehnsucht. Der Knabe hatte sich nicht sobald an ein menschliches Dasein gewöhnt, als seine gewaltsam unterdrückten Fähigkeiten sich unter der Vorsorge kenntnißreicher Meister rasch entfalteten.

Theodor Steinau spielte ein verzweifeltes Spiel; er verlor es Satz um Satz. Seine Mittel waren erschöpft; bald kämpfte er nur noch für seine Selbsterhaltung. Wenige seiner Treuen hielten bei ihm aus und von diesen Wenigen neigte sich auch schon Mancher der andern Partei zu, oder stand gar im Solde einer, der Gegner Steinau’s.

Einen derselben hatte Alexis Walter für sich zu gewinnen gewußt. Er erfuhr, daß Theodor Steinau, seine unhaltbare Stellung begreifend, am folgenden Tage die Hauptstadt verlassen werde, aber nicht, wie er gegen seine Freunde geäußert, ohne seinen Feinden den empfindlichsten Schlag beizubringen. Alexis Walter forschte genau nach. Mit Schmerz gedachte er des Bruders, der, um seiner Treue willen, mit allem festlichen Gepränge eines hohen Gerichtes wegen Hochverraths verurtheilt, noch immer in einem unbekannten Kerker schmachtete. Mit glühendem Eifer entfaltete er seine ganze Energie und schleuderte den Funken des Verdachtes in jene bewegliche Masse, von der man weiß, daß sie immer zündet.

Das Volk, nach dem Ausspruche des Dichters, „raschlodernd in seiner Liebe, wie in seinem Zorn“, horchte auf die einzelnen Stimmen, die zu ihm drangen. Immer mehr gewannen sie Platz [456] in der öffentlichen Meinung und mit lautem Geschrei sprengten endlich die Haufen auseinander.

„Oeffnet die Kerker!“ hieß es hier. „Schenkt den Schuldlosen die Freiheit wieder!“ hieß es dort. „Rettet! Rettet!“ hieß es überall, und einzelne Namen wurden genannt, mehr oder weniger von dem Beifall der Menge begleitet.

„Rettet! Rettet!“ rief es in einer Gruppe, an deren Spitze sich Alexis Walter gestellt hatte. „Rettet den Grafen Eugen von Steinau, den tapfern Reiteroberst! In jenem Thurm soll er schmachten. Nieder mit Denen, die sich widersetzen.“

Vor dem Drängen der Stürmenden brach die Pforte zusammen. Die Glut der Fackeln warf ein grelles Licht auf die feuchten Kerkerwände. Manches schuldlos schmachtende Opfer ward gefunden. Der Oberst war nicht darunter. Der Kerkermeister bekannte, daß man ihn in der vergangenen Nacht heimlich abholte.

„Er hat ihn mit sich geschleppt!“ hieß es in der Menge.

„Aber wohin?“

„Das weiß ich!“ rief eine helle Stimme. „Nur mir nach!“

Und rückwärts stürmte der Haufe, jenem geheimnißvollen Hause zu, welches abwärts von der Heerstraße lag, dessen dunkle Mauern manche geheimnißvolle That verdeckten.

Und dort stand auch in einem Gemache zur ebenen Erde die bleiche Rosa und sah hinaus in’s Freie. Es war seit Kurzem hier anders geworden; die Einsamkeit hatte aufgehört, Leute kamen und gingen; der dumpfe Lärmen draußen fand hier seinen Wiederhall. Theodor Steinau hatte hier seinen dauernden Wohnsitz genommen. Rosa ward in das offne Gemach zur ebenen Erde geführt, und harrte zitternd des ihr angekündigten großen Ereignisses. Da trat Theodor Steinau sehr aufgeregt ein: „Mein Spiel ist verloren, aber ich werfe es nicht weg, bis auch die letzte Karte ausgegeben ist. Mit Allen rechnete ich ab, nur mit Dir nicht. Nimm denn für alle Schmach, die ich von Dir erduldete, den Schlag, der Dich am härtesten treffen wird.“

Er führte Rosa gegen die offene Thür. Inmitten des Hofes war ein Schaffot erbaut, daneben stand der Henker mit gezogenem Schwerte. Bewaffnete führten einen Gefangenen hervor. Rosa war in der heftigsten Spannung.

Der stumme Alexis ward von dem allgemeinen Strome fortgerissen; er hörte, was geschah, er las die fliegenden Blätter, die man den Vorübergehenden zuwarf, die öffentlichen Anschläge, welche die Mauern bedeckten; er horchte auf die Stimmen Derer, die einander die Ereignisse des Augenblickes verkündeten, und folgte ihnen. Ohne auf den Weg zu achten, ging er hinaus zum Thor, und hielt, plötzlich ergriffen, seine Schritte an.

Seine Blicke fielen auf eine düstere Mauer, über welche hinweg das Dach eines Hauses ragte. An der einen Seite rauschten dichtbelaubte Bäume im Winde. Ihm war es, als ob eine Nebelwolke zerreiße und er einen Blick in das Unbegränzte thue. Welche wunderbare Gestalten! Die schöne junge Frau, die ihm in seinen Jugendträumen wie ein lichter Engel erschien, der bleiche Diener mit den Silberlocken, der hohe, kräftige Mann, mit dem Schwerte an der Seite, und der Wagen, der mit fliegender Eile vorüber sauste.

Er faßte sich an die Stirn, als könne er die Gedanken festhalten, die in ihm aufdämmerten. Unwillkürlich riß es ihn fort, der dunklen Mauer entgegen.

Durch eine enge Pforte trat er in den Hof. Der Wächter, an den er vorüberstreifte, drehte ihm den Rücken zu und deutete, zu seinem Nachbar gewendet, auf einen bestimmten Punkt. Unwillkürlich schaute Alexis dorthin, und das Blut stockte in den Adern; die Augen drängten sich aus ihren Höhlen; mit schlotternden Knieen drang er vorwärts. Das Herz pochte mit gewaltigen Schlägen. Sein Antlitz glühte.

Da stand sie vor ihm, die schöne, bleiche Frau, der Traum seiner Jugend. Sie stand, die Hände ringend, ein Bild des namenlosesten Jammers vor ihm.

In diesem Augenblicke traten die Bewaffneten auseinander und ein Mann ward sichtbar; bleich, eingefallen, barhäuptig, mit einem dürftigen Kittel bedeckt. Aber Alexis erkannte ihn doch. Es war derselbe Mann, der ihn in den Wagen hob und mit den zärtlichsten Namen begrüßte.

Die Frau schrie voll Entsetzen auf. Der Gefangene sah zu ihr auf und schwankte. Ein Mann, mit einem rothen Mantel bekleidet, trat vor. Eine düstere Gestalt stand unfern von dieser Gruppe mit übereinander geschlagenen Armen. Athemlose Stille rings umher.

Da drückte Alexis seine Hände gegen die heftig arbeitende Brust; alle seine Nerven spannten sich an; sein Mund öffnete sich; ein kreischender Ton drängte sich aus der Kehle hervor.

Die finstere Gestalt winkte und der Rothmantel enthüllte das blinkende Schwert. Aber ehe er es heben konnte, stand Alexis vor ihm und rief: „Halt! Halt!“

Alle sahen auf den Knaben. Rosa flog auf ihn zu und sank knieend bei ihm nieder.

„Mutter!“ schluchzte er krampfhaft und barg das Gesicht in ihrem Schooße.

Der finstere Mann herrschte seine Diener an, und befahl die Vollstreckung des Urtheils. Aber in diesem Augenblicke wirbelten die Trommeln, Trompeten schmetterten und an der Spitze eines bewaffneten Haufens stürmte Alexis Walter in den Hof.

Verschwunden waren Henker und Schaffot. Theodor Steinau ward ergriffen; Rosa aber hielt den wiedergefundenen Gatten fest umschlossen und an Beide schmiegte sich Alexis, der holde Knabe, dem einst das Entsetzen die Sprache raubte, die eine allbarmherzige Vorsicht ihm wieder gab, damit er seine Eltern errette.

Alexis Walter stand dieser schönen Gruppe nahe, und ein Gedanke, würdig seines edlen Meisters, dämmerte vor seiner Seele auf.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: sie
  2. Vorlage: lauerte
  3. Vorlage: Myhnar