Eine schlechte Angewohnheit
Eine schlechte Angewohnheit.
Wenn schon im gewöhnlichen Leben ein Jeder vor schlechten Gewohnheiten auf der Hut sein soll, wie viel mehr muß sich der Schauspieler überwachen! Ich habe Darsteller und Darstellerinnen gekannt, welche trotz ihrer anerkannt guten Leistungen nur wegen einer ganz bestimmten, in die Augen fallenden, unangenehmen „Eigenthümlichkeit“ (wie die höflichen Kritiker immer die schlechten Angewohnheiten auf der Bühne benennen) das Stichblatt ihres Publikums wurden.
Auch ich war beim Beginne meiner theatralischen Laufbahn einer kleinen „Unart“ ergeben – und wenn diese Unart auch glücklicher Weise eine „private“ war, also nicht meine Bühnenerfolge beeinträchtigen konnte, so verhalf sie mir doch einstmals zu einer tüchtigen „Blamage“, ja verursachte in bekannten künstlerischen Kreisen Ilm-Athens zur Zeit eine förmliche Revolte.
Ich huldigte nämlich der Unsitte, während des Memorirens die Rollen mit allerhand Bleistiftzeichen, Randnotirungen und sonstigem Gekritzel zu versehen. Wie oft hatte mir dies Unannehmlichkeiten bereitet! So mußte ich z. B. schon zur Zeit meines ersten Engagements ein bedeutendes Strafgeld zahlen, weil ich beim Memoriren der „Jungfrau von Orleans“ den vollzähligsten Waschzettel zwischen die Zeilen des ersten großen Monologes einfügte und der Direktor später, als ihm die Rolle abgeliefert wurde, neben den „Bergen“, „Lämmern“ und „geliebten Triften“ – 12 Taschentücher – 10 Paar Strümpfe – und 5 gestickte Chemisetten vorfand! Da ich schwer lernte und mich in der Anfangszeit meiner Karrière sehr viel mit klassischen Stücken zu beschäftigen hatte, es auch an Fleiß nicht fehlen ließ, so blieben die Rollen während des größten Theils des Tages ist meinen Händen und dienten mir gleichzeitig als bequeme „Notizbücher“. Es war dies, wie ich gern einräume, eine herzlich schlechte Angewohnheit, der ich lange nicht Herr werden konnte, und die sich dann endlich bestrafte, weil, dem Dichter zufolge, jede Schuld auf Erden sich rächt! –
Wer aus Schriftsteller- und Schauspielerkreisen sich noch der großartigen Feier des Shakespeare-Jubiläums am Weimarer Theater erinnert, wird gleich mir, die ich damals ein junges Mitglied der Hofbühne war, sich auch noch vergegenwärtigen können, welch’ großartigen Erfolg der Generalintendant Dingelstedt mit der geistvollen Bearbeitung des Dramencyklus und mit dem der Eröffnung der Festlichkeiten vorangehenden, poesievollen und formvollendeten Prolog erzielt hatte. Die Mitglieder der Hofbühne beabsichtigten, sich zu einer kostbaren Kranzesspende für Dingelstedt zu vereinen, als Erinnerung an die große Shakespeare-Woche Weimars, die man seiner Initiative verdankte. Der für den Intendanten projektirte silberne Lorbeerkranz, mit den Namen der Mitglieder auf den einzelnen Blättern, sollte von dem Personale durch freiwilligen Beitrag eines Jeden angekauft und an einem besonders dazu auserkorenen Tage überreicht werden. Da die Vorbereitungen bereits in größter Heimlichkeit getroffen, auch eine bedeutende Summe bei der allgemein begeisterten Stimmung schon zusammen gebracht worden war, so hatte man bald ein Modell ausgewählt und die Bestellung an den Juwelier ergehen lassen – – als plötzlich, unvorbereitet, und zum größten Staunen und Schrecken aller Betheiligten Dingelstedt das Regiekollegium berief, und diesem die Mittheilung machte, daß er von dem Vorhaben des Hoftheaterpersonales, ihm einen Lorbeerkranz zu schenken, unterrichtet worden sei und hiermit dem guten Willen seinen besten Dank ausspreche, aber aufs Entschiedenste eine solche ihm zugedachte Ovation, als durchaus inopportun, ablehnen müsse! …
Als nun die Regisseure frugen, wer die Indiskretion begangen und das Geheimniß der projektirten Kranzesspende verrathen habe, nannte Dingelstedt meinen Namen und fügte hinzu: „Die junge Dame hat allein korrekt gehandelt; man mußte erst bei mir anfragen, ob ich ein derartiges Geschenk auch anzunehmen gesonnen sei! Fräulein Knauff ersparte mir eine große Verlegenheit, indem sie mich in den Stand setzte, hiermit rechtzeitig – dankend ablehnen zu können.“
Welch ein Alarm erhob sich nun unter den Mitgliedern der Hofbühne! Einige tadelten mein Betragen in den schärfsten Ausdrücken und waren der Meinung, daß ich mir eine unverzeihliche Anmaßung und Vorlautheit habe zu Schulden kommen lassen; sie mieden mich geflissentlich oder gaben die gröbsten Stichelreden zum Besten. Andere waren glimpflicher und neigten sich der Ansicht zu, daß ich Dingelstedt gegenüber zwar sehr keck, aber doch vielleicht richtig gehandelt habe. Auch in Kreisen des Residenzpublikums glossirte man den Fall eifrig mit Für und Wider; das Hoftheater hatte plötzlich sein enfant terrible!
Und ich? Ruhig ließ ich Alles über mich ergehen, beobachtete das konsequenteste Schweigen, hüllte mich der Oeffentlichkeit gegenüber in eine selbstbewußte, vollkommen unnahbare Würde, getragen von der lauten Anerkennung des Generalintendanten, und war innerlich – – ganz zerknirscht, ganz gedemüthigt, weil meine sogenannte „korrekte Handlungsweise“ in der Kranzaffaire vor dem eigenen Gewissen und der inneren Stimme zerstob wie die Spreu im Winde …
Allerdings hatte ich Dingelstedt das Geheimniß der Mitglieder und die ihm zudachte Ovation verrathen; aber wie und wodurch? Es konnte nichts Beschämenderes geben! Nie wird meinem Gedächtniß die peinliche Scene entschwinden, die mir – – meine schlechte Angewohnheit bereitet hatte!
Es war kurze Zeit nach der Aufführung der Shakespeare’schen Historien, als mich Dingelstedt eines Tages in das Bureau der Generalintendantur bestellte, um die Rolle der Hebbel’schen „Judith“, deren Aufführung er plante, mit mir durchzugehen. Da ich bereits fest memorirt hatte, nahm Dingelstedt die Rolle zur Hand, theils um bei meiner Deklamation dem Texte nachzufolgen, theils um selbst hervorragende Scenen in seiner unvergleichlichen Vortragsweise zu recitiren.
Plötzlich beim Umwenden eines Blattes stockte er, blickte bestürzt zu mir hinüber, sah wieder in die Rolle – und versank dann kopfschüttelnd in ein ernstes Nachdenken.
Nach kurzer Pause, während welcher ich ihn erstaunt und fragend betrachtete, sagte er:
[99] „Sie haben gewiß keine Ahnung von dem, was hier steht?“
„Was denn?“ fragte ich kleinlaut, und es war mir bereits nicht ganz geheuerlich zu Muthe.
„Ich will es Ihnen vorlesen und erwarte dann ein ehrliches und ganz offenes Geständniß!“
Und Dingelstedt las mir die auf eine leere halbe Seite der Rolle der „Judith“ von meiner eigenen Hand niedergeschriebenen Notizen – langsam – Wort für Wort – mit seinem sonoren Organ und mit Betonung jeder Silbe folgendermaßen vor:
„Am nächsten Ersten nachstehende unvermeidliche Mehrausgaben von der Gage zu bestreiten:
1) Thierarzt für Bello – fünf Thaler.
2) Färbegeld für zwei seidene Roben bei Spindler – sechs Thaler.
3) Ein neuer Entoutcas – fünf Thaler.
4) Beitrag zum silbernen Lorbeerkranz für Dingelstedt – zehn Thaler – –“
Ich glaubte in die Erde sinken zu müssen! Stotternd, unverständliche Worte stammelnd, halb weinend, hatte ich den durchdringenden, strengen Blicken des Intendanten gegenüber endlich keine andere Wahl, als ein offenes Geständniß – eine ausführliche, genaue Mittheilung der geplanten Ovation …
Die Kranzesspende unterblieb selbstverständlich für immer; aber das Hoftheater hat niemals Kenntniß von den wahren Ursachen meiner vermeintlichen Indiskretion erhalten, Keiner erfuhr, daß ich ohne jede Absicht, in der unschuldigsten Weise zum Angeber und an meinen sämmtlichen Kollegen zum Verräther geworden war, und zwar nur – durch die schlechte Angewohnheit!
Von diesem Tage an benutzte ich nie wieder eine Rolle – als Notizbuch; ich war vollständig und für immer gebessert! Indeß – wochenlang ging ich Dingelstedt beschämt aus dem Wege; da aber endlich die Begegnung mit ihm auf einer Probe unvermeidlich war, trat er ganz unbemerkt an mich heran, ergriff mit ernstem Gesichte meine Hand, drückte sie und sagte leise, ohne eine Miene zu verziehen:
„Liebe Knauff, ich habe Ihnen übrigens noch zu danken, daß Sie für meinen Lorbeerkranz wirklich doppelt so viel zahlen wollten – als für Ihren Entoutcas!“