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Eine neue Kinderkrüppel-Erziehungs- und Bildungsanstalt

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
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Autor: O. D.
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Titel: Eine neue Kinderkrüppel-Erziehungs- und Bildungsanstalt
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 15, S. 478–479
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1899
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger G. m. b. H. in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Eine neue Kinderkrüppel-Erziehungs- und Bildungsanstalt.

Wer hilft den armen verkrüppelten Kindern? Eine kurze Frage, aber welch’ eine Fülle von Not und Elend läßt sie nicht vor unseren geistigen Augen erscheinen, in allen jenen armen verkrüppelten, gebrechlichen Kindern, die oft verlassen, verstoßen, verachtet, ohne die notwendigste Pflege, Erziehung und Ausbildung sich nach Hilfe sehnen!

Ihre Zahl ist sehr groß und unter ihnen befinden sich Jammergestalten, deren Anblick auch das härteste Herz erweichen muß. Viele von ihnen sind mißgestaltet und verkrümmt geboren, andere, und zwar die meisten, sind durch schwere Krankheiten, Unglücksfälle und besonders durch Mangel an Pflege verkrüppelt; denn sehr oft sind die Familien, denen sie angehören, gar nicht imstande, ihnen das nötige Maß von Hilfe angedeihen zu lassen! Und wie traurig steht es erst bei den verwaisten Krüppelkindern! – Solange sie jung sind, tritt die Not zurück, aber wenn die Schulzeit herankommt, wird sie sehr fühlbar; denn entweder können die armen Kinder gar nicht zur Schule gebracht werden, weil sie zu gebrechlich sind, oder man kann die Aermsten, wenn sie in der Schule sind, vor Mutwillen, Unverstand und Kränkungen der Mitschüler nicht hinreichend schützen. Nach der Schulzeit wird die Sorge noch größer; denn kein Meister mag ein verkrüppeltes Kind in die Lehre nehmen. So bleiben die meisten Krüppelkinder armer Leute ohne Schulbildung und ohne Vorbildung fürs Leben. Durch gewerbsmäßigen Bettel suchen später viele ihr Dasein zu fristen, oder fallen den Gemeinden zur Last. Während man für andere elende Menschen, für Blinde, Epileptische, Blöde etc., in barmherziger Liebe viel gethan, große Anstalten erbaut, zahlreiche Pflegekräfte in Bewegung gesetzt hat, ist zur regelrechten Ausbildung und Erziehung gebrechlicher Kinder noch sehr wenig geschehen. In Württemberg, Bayern, Dänemark, Norwegen, Schweden hat man sich dieser Aermsten unter den Armen schon seit 50 Jahren unter allgemeinster Teilnahme der Bevölkerung angenommen und die schönsten Erfolge erzielt; aber in ganz Mittel- und Norddeutschland bestand bis vor kurzem nur eine einzige Kinderkrüppelanstalt in Nowawes, und diese auch erst seit einigen Jahren. Wieviel bleibt da noch zu thun!

Eine beredte Sprache reden die Erfolge der „Königlich Bayerischen Central-Anstalt für Bildung und Erziehung krüppelhafter Kinder“ in München. Aus derselben sind bis zum Jahre 1894 hervorgegangen 2 Gelehrte, 3 Lehrer, 4 Musiker, 4 Buchhalter, 59 Buchbinder, 53 Schreiber, 23 Uhrmacher, 28 Schneider, 18 Galanteriearbeiter, 11 Maler, 13 Schreiner, 10 Pinselmacher, 6 Lithographen, 6 Portefeuiller, 5 Goldsticker, 7 Schuhmacher, 3 Blumenmacher, 4 Rentamtsgehilfen, 16 Oekonomiearbeiter, 6 Amtsgerichtsgehilfen, 2 Sattler, 8 Papparbeiter, 3 Photographen, 3 Vergolder, 6 Schäfer, 4 Buchhalterinnen, 3 Ladnerinnen, 13 Kleidermacherinnen, 5 Modistinnen, 56 Näherinnen, 11 Stickerinnen, 10 Zimmermädchen etc. Von je 100 Kinderkrüppeln sind 92 für einen selbständigen bürgerlichen Beruf [479] ausgebildet worden, nur 8% von allen in der Anstalt Verpflegten konnten wegen ihrer Gebrechen keinen selbständigen Beruf erwählen. Was würde aus diesen Hunderten verkrüppelter Kinder geworden sein, welch eine Last würden dieselben den Heimatgemeinden gewesen sein, wenn die Anstalt sich ihrer nicht angenommen hätte! Wieviel schwerer wiegt das bescheidenste Armengeld, wenn es jahrzehntelang seitens kommunaler Kassen Verkrüppelten dargereicht werden muß, gegen die geringen Kosten mehrjähriger Pflege und Ausbildung in einer Krüppelanstalt. Wie einsichtsvoll handelten alle die, die sich der verkrüppelten Kinder in Liebe erbarmten!

Nunmehr hat auch für Mittel- und Norddeutschland ein edler Mann in seinem Alter seine Lebensaufgabe darin gefunden, diesen armen Krüppelkindern eine große Pflege- und Bildungsstätte zu schaffen. Es ist der Superintendent Pfeiffer in dem Dorfe Cracau bei Magdeburg, dessen „Samariterhaus für Kinder“ am 8. Mai d. J. eingeweiht und seiner Bestimmung übergeben werden konnte. Aus kleinen Anfängen ist diese große, herrliche Anstalt, welche die Beachtung aller weltlichen und kirchlichen Gemeinden in ganz Deutschland verdient, hervorgegangen. Was hier die auf christliche Liebe sich gründende Kraft eines Mannes und seiner treuen Gattin geschaffen hat in dem kurzen Zeitraum von 10 Jahren, reiht sich würdig an die großen Schöpfungen großer Männer. Genau 10 Jahre sind es her, als in Cracau aus freiwillig dargereichten Liebesgaben durch den Superintendenten Pfeiffer ein Siechenhaus, „Johannesstift“ genannt, erbaut wurde. In ihm befanden sich anfangs sieche Männer und Frauen. Schon nach wenigen Jahren mußte zur Aufnahme derselben ein Nachbarhaus hinzugekauft werden, das auch siechen und verkrüppelten Kindern als Zufluchtsstätte diente. Infolgedessen reichten die Wirtschaftsräume nicht mehr aus; darum wurde 1895 ein neues Wirtschaftshaus erbaut.

Seit 1890 sind 40 bis 50 Kinder fortwährend in dem Siechenhaus Johannesstift vorhanden gewesen, die den erforderlichen Schulunterricht empfangen und zur Erlernung einer ihren Kräften angemessenen Arbeit angehalten werden, damit sie später ihren Lebensunterhalt wenigstens teilweise selber erwerben können. Die Mädchen lernen nähen, stricken, häkeln, sticken; die Knaben allerlei Handfertigkeiten: Papp- und Schnitzarbeiten, Schneiderei, Schuhmacherei, Korb- und Stuhlflechterei. Staunenswertes wird bei vielen durch Nachsicht und Geduld erreicht! Die Arbeit an den gebrechlichen Kindern erfordert zwar viel Lehr- und Pflegekräfte, ist aber reich gesegnet. Neuaufnahmen konnten bis jetzt nicht mehr stattfinden, weil es an Raum fehlte. So wurde die Schaffung einer großen Kinderkrüppel-Erziehungs- und Bildungsanstalt für das nördliche und mittlere Deutschland ein dringendes Bedürfnis. Diesem gab der Vorsteher der Anstalt nach, und in festem Vertrauen auf Gottes Hilfe und die werkthätige Nächstenliebe ging er von neuem ans Werk, sammelte Liebesgaben und arbeitete selbst einen praktischen Bauplan für das neue Haus aus, das unter seiner eigenen Bauleitung seit dem Mai des Jahres 1897 erstand.

Jetzt ist es fertig, das „Samariterhaus für Kinder“, ein herrliches Gebäude, das seinen Erbauer, der jahrelang in selbstloser Liebe vom frühen Morgen bis in die späte Nacht daran gearbeitet hat, aufs höchste ehrt. Gleichzeitig erstanden ein Pförtnerhaus, ein Beamtenhaus für Lehrer, Aerzte und Verwaltungsbeamte, Wirtschaftsräume und Stallungen. Auch eilt der Anstalt fehlendes Gotteshaus ist in Form einer schönen Kapelle gleichzeitig fertig geworden. Die neue Anstalt ist groß angelegt. Das erste Geschoß ist für 60 Knaben, das zweite für 60 Mädchen und das Dachgeschoß für 40 bis 60 Knaben und Mädchen bestimmt (letzteres für solche, die ganz siech sind). Tages- und Nachträume sind getrennt in zwei großen Seitenflügeln untergebracht, ein Mittelflügel enthält einen Turnsaal mit medico-mechanischen Instrumenten und einen Operationssaal. Vermittelst eines hydraulischen Aufzuges werden die Kinder von einem Stockwerk zum anderen befördert, durch einen anderen Aufzug in gleicher Weise die Speisen. Die Front enthält Schul- und Schwesternzimmer, Wohnräume für Aerzte etc.

Es ist hier eine Wohlthätigkeitsanstalt erstanden, die ihresgleichen nicht hat, die aber deswegen auch die Hilfe aller derer um so mehr verdient und bedarf, die ein Herz haben für das menschliche Elend. Noch fehlt eine große Summe zur Bezahlung der Bauschuld. Möge deshalb die neue Anstalt so bereitwillig die Unterstützung aller wahren Menschenfreunde finden, wie sie es verdient!

Zwecks Aufnahme von Krüppelkindern wolle man sich an den Vorstand des „Johannesstifts“ in Cracau bei Magdeburg wenden. O. D.