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Eine dunkle Vergangenheit

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Textdaten
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Autor: Bernd von Guseck
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Titel: Eine dunkle Vergangenheit
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aus: Die Gartenlaube, Heft 40–43, S. 523–579
Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1855
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[523]
Eine dunkle Vergangenheit.
Novelle von Bernd von Guseck.


I.

Es war ein unfreundlicher Herbstabend. Der Wind strich rauh und feucht über die Stoppeln, wo eine Schafheerde, weidend und von dem Hunde zusammengehalten, ihrem langen Hirten heimwärts folgte, der den Strickstrumpf schon eingesteckt und den Pelz, welchen er frühzeitig hervorgeholt, um den hagern Leib geschlagen hatte. Die Berge lagen in grauen Nebel verhüllt, welcher auch die spitzen Schieferthürme der nahen Stadt kaum noch unterscheiden ließ. Dorthin ging aber der Weg des Schäfers nicht, sondern nach einer Gruppe von stattlichen Gebäuden, welche ein umfangreiches Gehöft bildeten, das in einer Senkung, durch sanft aufsteigende Hügel gegen die Nord- und Ostwinde geschützt, lag. Es war ein ehemaliges Kloster, jetzt eine landesherrliche Domäne, deren geräumiges und bequemes Wohnhaus mit den hellen Fenstern, in denen soeben die rothen Lichter der untergehenden Sonne brannten, keinem Menschen mehr die frühe Bestimmung der Stätte ahnen ließ. Nur auf der Höhe, welche das Gehöft überragte, stand noch eine viereckige graue Warte aus unverwüstlichen Quadern gefügt, der Rest der alten Burg, deren Besitzer einst das Kloster gestiftet und beschirmt hatten.

Die Sonne war untergegangen; ferne Abendglocken mischten ihre feierlichen Klänge mit den leisern und unregelmäßigen des Heerdengeläuts, sonst war Alles still auf der Flur, selbst der Wind eine Zeit lang verstummt, als wolle er die Andacht nicht stören. Der Schäfer hatte den Hut abgenommen und sprach sein kurzes Abendgebet mechanisch, ohne sich viel dabei zu denken, vor ihm saß der Hund und sah ihn mit gespitzten Ohren an. Als der hagere Mann sich darauf die grauen Haare mit dem runden Kamme zurückgekämmt und den Hut wieder aufgesetzt hatte, sprang der Hund auf einmal zur Seite und fing mit eingezogenen Schweife an zu knurren. Von der Ebereschen-Allee, deren rothe Beerentrauben jetzt den einzigen Schmuck der farblosen Gegend bildeten, kam ein Reiter querfeldein gesprengt, gerade auf die Schafheerde zu, welche aufgescheucht eiligst in einen gedrängten Knäuel zusammenlief.

Der Schäfer sah zornig dem Reiter entgegen, den der Hund jetzt mit Gebell anfiel; der Alte ließ seinen Pelz auseinander fahren und stützte sich auf seinen langen, mit Eisen beschlagenen Hirtenstab, er war in seinem Recht und, wenn auch ein Schäfer, denen man sonst wegen ihres Umganges mit der sanftmüthigen Kreatur eine gewisse Weichheit, ja Feigheit vorwirft, gehörte er doch zu den echten Söhnen der hiesigen Landschaft, die ein gar hartes und trotziges Geschlecht sind.

„Ruft Euern Hund an!“ rief der Fremde, dessen Pferd vor dem Köter, der ihn hitzig mit gesträubtem Haar umtobte, schon ein Paar gefährliche Seitensprünge gemacht hatte.

„Der Hund thut seine Schuldigkeit,“ versetzte der Schäfer, ohne sich zu rühren.

„So schieße ich die Bestie nieder!“ rief der Fremde und riß, wie der Alte trotz der eingebrochenen Dämmerung deutlich sah, ein Pistol aus der Sattelholster. Ihm klopfte das Herz, denn er liebte den „Lustig“ wie seinen Sohn, aber er konnte es nicht über sich gewinnen, der Gewalt, die ihn bedrohte, nachzugeben. Zum Glück besann sich aber der Fremde eines Bessern, denn er hatte sein Pferd schon gezügelt und vollkommen wieder in seiner Gewalt, ein paar kräftige Spornstöße trieben das scheuende Thier mit Sätzen an dem ausweichenden Hunde vorüber gerade auf den Hirten zu, als wolle er seine Rache gegen diesen kehren und ihn niederreiten. Der Alte mochte wohl auch so etwas denken, denn er hielt dem Reiter seinen langen Stock wie einen gefällten Speer entgegen, aber von seinem Platze wich er darum keinen Fuß breit.

„Du bist ein muthiger Kerl, auf meine Ehre!“ rief der Fremde, indem er laut lachend sein Pferd dicht vor dem Schäfer so heftig parirte, daß es fast mit den Hacken auf die Erde stieß. Der alte Schäfer war ein Verächter der edlen Reitkunst und hätte dem steigenden Roß am liebsten Eins mit seinem Hakenstocke auf die Nase versetzt. „Schade, daß Ihr hier hinter den Schafen herlauft, Ihr müßtet Soldat werden!“ fuhr der Fremde fort.

„Das bin ich schon gewesen und habe Pulver gerochen vor’m Feinde,“ versetzte der Schäfer, von der Rede des jungen Menschen ganz und gar in Harnisch gejagt. Was! Er, der schon die Muskete nach Paris und wieder zurückgeschleppt, ihm wurde gesagt, daß er noch Soldat werden sollte, jetzt, wo er das unbärtige Volk im „Polrocke“, wie er die neue Waffenkleidung nannte, nicht einmal für richtige Soldaten ansah?

„Allen Respekt!“ erwiederte der Fremde und ließ wieder sein helles Gelächter hören, an welchem ihn eben der Schäfer für einen jungen Menschen erkannt hatte. „Seid Ihr von Sanct Pancraz?“

„Ja,“ lautete die Antwort.

„Ist der neue Oberamtmann angekommen?“

„Vor drei Tagen,“ sagte der Schäfer.

„Was ist es für ein Mann?“ fragte der Fremde rasch.

„Ja, was soll ich – ? Ein Oberamtmann ist er –“ und was der Schäfer noch in seinen unrasirten Bart, der erst morgen, [524] wie alle Sonntage, fallen sollte, brummend hinzufügte, verstand der Reiter nicht.

„Bleibt er nun hier? Kann man ihn sprechen?“

„Weiß ich nicht! Frau und Tochter hat er mitgebracht und zwei haushohe Wagen mit Schränken und Stühlen, er wird also wohl vor die Erst da bleiben.“

„Ich muß Euch noch etwas fragen, Schäfer. Ihr seid ein alter Soldat und die wechseln den Herrn nicht, wie man einen abgetragenen Handschuh auszieht und fortwirft. Wo ist der Oberamtmann Stargau geblieben?“

Der Schäfer hob den Kopf und sah zu dem Fremden, desse Züge er nicht mehr erkennen konnte, eine Weile schweigend empor. „Wer sind Sie denn?“ fragte er dann.

„Ich bin der Lieutenant von Dießbach.“

„Lieutenant?“ entgegnete der Schäfer mißtrauisch; denn der Fremde trug bürgerliche Kleidung. „Von Dießbach? Etwa von der Rinkenburg?“

„Ja wohl. Ihr werdet meine Mutter doch wohl kennen.“

„O ja!“ versetzte der Schäfer trocken.

„Nun, wo ist Stargau?“

„Mir hat er’s nicht gesagt,“ war die eben nicht freundliche Antwort.

„Ihr seid aber doch zu umkameradschaftlich, Alter!“ rief Dießbach. „Das Wetter ist kalt und schnürt Euch vielleicht die Kehle zu – kann ein Achtgroschenstück sie etwa lösen?“

„Ich danke, Herr Lieutenant. Was ich nicht verdiene, nehme ich nicht.“

Der Offizier steckte das Geldstück wieder ein und schien einen Moment unschlüssig, was er thun solle, denn er wandte sein Pferd zweimal nach verschiedenen Richtungen. „Wie heißt Euer neuer Pachter?“ fragte er dann.

„Sie meinen den Herrn Oberamtmann? Siebling!“

„Und Ihr?“

„Ich?“ entgegnete der Schäfer verwundert. „Ich heiße Klupsch.“

„Glupsch doch wohl!“ rief der Offizier lachen. „Ich habe nie einen passendern Namen gehört!“

Der Schäfer, der schon oft mit dieser nahliegenden Verdrehung seines Namens spaßhaft geschraubt worden war, weil „glupsch“ hier zu Lande etwas verteufelt Arges bezeichnet, lachte nun auch und sagte:

„Glupsch bin ich auch, wenn man mich nicht ungeschoren läßt.“

„Das sehe ich!“ erwiederte der Offizier. „Guten Abend!“

Dießbach trabte durch die wachsende Dunkelheit den Bergen zu. Die Rinkenburg, wie das Besitzthum seiner Familie hieß, lag auf einem der bewaldeten Vorhügel des Gebirges, etwa noch zwei Stunden Weges entfernt, bei hellem Wetter war sie noch um diese Stunde des Tages von weit her zu erkennen, denn das Schloß leuchtete mit seinem weißen Abputz weit über das Land. Heut aber, wo die Sonne nur kurze Momente die Wolkendecke zu durchbrechen vermocht hatte, heut war von der Rinkenburg nichts zu sehen. Indessen hatte Dießbach deshalb keine Besorgnisse, denn er glaubte nun in der Gegend vollkommen orientirt zu sein. Er ritt deshalb mit langen Zügeln im scharfen Trabe durch die ziemlich ebene Feldstrecke, welche noch zwischen ihm und den Bergen lag, und überließ es seinem Pferde, sich den Weg zu suchen. Ein Paar Mal schien es unschlüssig, der Reiter half ihm dann mit den Sporen nach. Jetzt scheute es sich wieder vor einem großen Stein, wie es schien, der einen Kreuzweg bezeichnete. Dießbach zog, ein wenig aus dem Sitz gekommen, die Zügel an und lenkte es rechts, während das Thier sich widersetzte und durchaus den Weg links nehmen wollte.

„O nein, beste Kitty!“ sagte der Reiter. „Sie werden die Gewogenheit haben –“

Er spornte sie in die Richtung, welche nach der Rinkenburg führen mußte, aber so nah er sich dem Ziele schon glaubte, mußte er sich, als er eine halbe Stunde flott weggetrabt war, zu seiner nicht geringen Beschämung gestehen, daß Miß Kitty doch wohl am Kreuzwege Recht gehabt.

„Ein Skandal wäre es,“ sagte er für sich, „wenn ein Husar sich nicht einmal in seiner eignen Heimath zurechtfinden könnte!“

Dort ragten endlich die Berge! Viktoria! Finster hob sich in geringer Entfernung von ihm eine dunkle Masse zum Himmel, gegen welchen sich ihr scharfer Rand deutlich abzeichnete. Wenn er nicht in die Berge hinein, sondern längs derselben hinritt, mußte er ja nach Hause kommen, es war nur die kleine Frage zu entscheiden: rechts oder links?

Herr Guido von Dießbach hielt seine schöne Kitty, das unvergleichliche Halbblut, einen Moment an, und befragte zunächst die goldene Repetiruhr, welche er im vergangenen Jahre als Page bei der Aufwartung einer fremden, überaus freigebigen Prinzessin als Geschenk erhalten hatte. Sie ging in dreizehn Steinen und trug innerhalb eingravirt seinen Namen nebst dem der erlauchten Geberin. Man kann sich denken, wie stolz der Besitzer darauf war und wie oft sie ihr feines Stimmchen hören lassen mußte! Heut verkündigte sie schon ein Viertel nach neun Uhr.

„Vor zehn Uhr bin ich zu Hause!“ sagte Dießbach. „En avant!“ Und ohne sich länger zu bedenken, wandte er sein Pferd wieder rechts. „Sie werden entschuldigen, Dame der Schönheit, wenn ich Ihnen zum Schluß noch einen kleinen Galopp gebe!“ sagte er, und sprengte das feurige Thier an, da nun längs der Bergmasse dahin brauste. Dießbach hatte sich vorgenommen, dieselbe stets neben sich zu lassen, aber unmerklich hatten sich auch hinter ihm Höhen zusammengeschoben, bald ragten auch landwärts Hügel und Berghänge, der Weg fing an, sich zu heben, und ehe der Reiter sich’s versah, befand er sich in einem ansteigenden, immer enger werdenden Thale. Er hatte die Schwelle des Gebirgs, ohne es zu wissen, längst überschritten, und war seinem Banne verfallen.

„Also eine Entdeckungsreise!“ sagte er, als er sich dieser Ueberzeugung nicht länger verschließen konnte. „Hat auch ihr Interesse! Wie viel Uhr haben wir jetzt?“

Das Geschenk der Prinzessin repetirte Zehn. „Fatal! Was werden sie auf der Rinkenburg über das Ausbleiben denken? Kuno besonders!“

Er war nun bei dem immer steiler werdenden Bergpfade genöthigt, Schritt zu reiten. Auch das Thal verengte sich immer mehr, endlich gabelte es sich, wie der lichte Himmelstreif, der über seinen schwarzen Wänden lag, deutlich wahrnehmen ließ, weiter oben in zwei rechtwinklig auseinanderspringende Schluchten. Diesmal wählte der Reiter die Linke, denn zur Rechten hörte er ein brausendes Wasser, und wenn er sich nicht täuschte, sogar das Tosen eines Wasserfalles. Die Schlucht, auf deren schroffer Sohle das Pferd nun keuchend emporstrebte, war zum Glück nur kurz und führte zu einer Hochebne, auf der freilich kein Pfad mehr zu erkennen war, selbst für Kitty’s scharfe Sinne, welche mit gesenktem Kopfe schnarchend danach zu spüren schien. Aber eine dämmernde Helle fing an sich zu verbreiten, und zu seiner Freude erblickte Guido nach einiger Zeit den Mond, dessen scharfe Sichel durch eine Tannengruppe schimmerte, welche sich auf der ersten Stufe einer neuen Höhenmasse zu seiner Rechten erhob. Das zweifelhafte Licht, das über der Berghalde zitterte und jeder Klippe, jedem Baume phantastische Formen gab, ließ jedoch nirgends auch nur die Spur eines Weges finden, und so sank denn nach und nach mit der guten Laune auch der gute Muth des jungen Soldaten.

Endlos erschien ihm die Hochflor. Jetzt erreichte er ihren jenseitigen Rand, dort senkten sich wieder Gründe hinab, es blieb ihm keine Wahl, als sich auf gut Glück in deren Labyrinth zu vertiefen. Wie lange er seit der letzten Anfrage bei seiner Uhr geritten war, konnte er zu seinem vermehrten Verdrusse nicht mehr ermitteln, denn sie war stehen geblieben. Ach, und er war jetzt so müde! Sehnsüchtig dachte er an sein weiches Bett –

„Land!“ rief er plötzlich so laut, daß Kitty unter ihm zusammenfuhr. Dort in der Tiefe schimmerte Licht.



II.

Ein gefährlicher Ritt war es noch, den der Verirrte zu bestehen hatte, und er konnte Gott danken, daß er nicht unterwegs den Hals brach. Indessen war die Steile nun glücklich überwunden und auch die Besorgniß, daß ihn nur ein Irrlicht necke und verrätherisch wieder verschwinden werde, hatte sich als grundlos gezeigt. Er befand sich in einem sehr engen und wie der ungewisse Mondschein, der ziemlich senkrecht hineinfiel, vermuthen ließ, gewiß höchst romantischen Thale, aus dessen Hintergrunde ihm das Licht, das er von Oben gesehen hatte, noch immer mit einem stetigen Strahle entgegen blinke. Näher kommend, erkannte er ein Gebäude mit scharfen, wunderlich gezackten Firsten, in welchem ein [525] einziges Fenster, wie es schien, in einem Erker erleuchtet war. Um Mitternacht oder vielleicht noch später! ES konnte aber auch schon Tagesanbruch nahe sein, wer wußte das? Uebrigens sah das Fenster keineswegs gastlich aus, sondern kam dem Reiter, der offenbar der Romantik verfallen war, eher wie ein roth entzündetes Auge vor, das ihm böse entgegen blickte. Ein Hifthorn jetzt, wie die irrenden Ritter vor Alters geführt, um sich dem Thorwart, der offenbar in jenem Kloset über der Pforte wachte, anzukündigen! Aber dem Husaren stand nur seine, noch sehr jugendliche Stimme zu Gebot, mit welcher er sich denn, so laut er konnte, bemerklich zu machen suchte. Es gelang ihm über Erwarten, denn alsbald öffnete sich das Erkerfenster, und ein Kopf mit abenteuerlicher Haube sah heraus.

„Wer ist da?“ fragte eine rauhe Stimme, welche nicht unterscheiden ließ, ob sie einem Manne oder einer Frau gehörte.

„Wo finde ich den Weg nach der Rinkenburg?“ gab Dießbach die Gegenfrage.

„Nach der Rinkenburg?“ wiederholte die rauhe Stimme mit unverkennbarer Verwunderung, und erst nach einigem Besinnen setzte sie hinzu. „Wie kommen Sie denn hierher?“

„Ja, guter Mann, da fragen Sie mich zuviel. Ich bin kreuz und quer zu meinem Vergnügen in den Bergen umhergeritten, bis mein guter Stern mich zu Ihnen führte. Wollen Sie mir etwas Heu für mein Pferd geben, es ist sehr angegriffen.“

„Hier ist keine Herberge!“ antwortete die Stimme kurz.

„Das sehe ich, liebster Mann, aber man weiset keinem anständigen Menschen die Thür, wenn er nur um eine halbe Stunde Quartier bittet.“

„Die Rinkenburg ist über vier Stunden von hier und den Weg finden Sie nicht, klang die wenig tröstliche Auskunft, immer in dem gleichen unfreundlichen Tone. „Reiten Sie in Gottes Namen nur wieder hin, wo Sie hergekommen und und nehmen Sie sich dann einen Boten.“

„Hinreiten, wo ich hergekommen bin? Das werde ich bleiben lassen!“ rief Dießbach lachend. „Habe ich denn heute mit lauter Stierköpfen zu thun? Der Schäfer von Sanct Pankraz ist wohl Ihr cousain germain, liebster Mann?“

„Ich bin kein Mann!“ sagte die Stimme mürrisch.

„Wahrhaftig? O, dann verzeihen Sie, mein Fräulein, eine Bitte. Wenn die Rinkenburg vier Stunden von hier und der Weg für mich nicht zu finden ist, so haben Sie Mitleid mit mir, zarte Seele, und gewähren mir und meinem armen Rößlein eine Streu.“

Statt aller Antwort zog sich der Kopf mit der abenteuerlichen Haube zurück, schloß das Fenster und gleich darauf erlosch auch das Licht. Jetzt wallte das jugendliche Blut des auf so schnöde Weise Abgefertigten im raschen Uebergange zum Zorn auf und er rief laut zu dem Fenster empor.

„Ich schieße Ihnen eine Kugel in die Stube, so wahr ich ein Dießbach bin, wenn Sie mir nicht augenblicklich öffnen!“

Die Drohung schien zu wirken. Das Fenster wurde wieder geöffnet und das unbestimmte Wesen fragte mit merklich verändertem Tone. „Ein Dießbach?“

„Ja, Madame, wenn Sie wirklich weiblichen Geschlechts sind, ich bin ein Dießbach!“

„Und – von der Rinkenburg?“ fragte sie betroffen weiter.

„Dort bin ich zu Hause, erwiederte er. „Nehmen Sie jetzt Raison an?“

„Junker – Kuno?“

„Guido!“ berichtigte er. Sie kennen unsere Genealogie, wie es scheint. Also kapituliren Sie, holde Jungfrau, ziehen Sie die weiße Fahne aus, überreichen mir die Schlüssel, nicht zu Ihrem Herzen, sondern zur Zitadelle und lassen mich einrücken.“ Seine gute Laune war wieder erwacht, hatte aber keine Zuhörerin mehr, denn die Frau war vom Fenster zurückgetreten und eilte jetzt, ihm wirklich die Thüre zu öffnen. Sie trug eine Blendlaterne in der Hand, deren Schein sie voll auf sein Gesicht fallen ließ; er konnte einen halb unterdrückten Laut der Ueberraschung hören, während er vom Pferde stieg.

„Wahrhaftig! Junker Guido!“ sagte die Frau mit einem ganz eignen Tone, der sich in einen heftigen Husten auflöste. Sie winkte mit der Hand, näher zu treten.

„Aber – ist denn kein Mensch da, mir das Pferd abzunehmen?“ fragte er.

„Geben Sie her – Junker Guido! Ich will schon Alles besorgen –“ hustete die Frau und streckte die Hand nach dem Zügel aus.

„O nein, von schönen Händen bedient zu werden, ist Miß Kitty nicht gewöhnt, ich bin Soldat, gute Frau. Zeigen Sie mir nur den Stall und schaffen Futter.“ – Sie ging mit der Laterne voraus, er führte das Pferd durch den hallenden Thorweg, auf einen kleinen, von allen Seiten eingeschlossenen Hof, wo ihm die Alte eine Thüre öffnete.

„Hier, Junker Guido!“

„Sagen Sie mir, Verehrteste, Sie sprechen meinen Namen so geläufig aus, als ob ich ein alter Bekannter von Ihnen wäre – auch meinen Bruder kennen Sie, wie kommen Sie dazu?“ Er nahm dabei die Laterne auf, welche die Frau niedergestellt hatte, und ließ ihren Schein auf das Gesicht fallen, das bis jetzt im Schatten geblieben war, Fast hätte er aber die ganze Laterne fallen lassen, denn eine solche Häßlichkeit glaubte er in seinem ganzen Leben noch nicht erblickt zu haben.

„Lassen Sie nur, Sie kennen mich doch nicht,“ sagte die Frau. Er führte Kitty in den Stall, wo eine ziemlich dumpfige Luft herrschte, Krippe und Raufe zwar vorhanden, aber zum Anbinden kein Mittel zu sehen war. Der junge Herr, wir müssen es gestehen, wußte sich nicht recht zu helfen, und konnte daher nur verdrießlich nach einer Halfter fragen, worauf die alte Frau resolut zugriff, die Kinnkette so geschickt aushakte und das Hauptgestell abstreifte, als sei sie selbst einst Husar gewesen – vielleicht verkappt, wie mehrere deutsche Mädchen in den Befreiungskriegen. Dann nahm sie einen alten Strick, den sie in der Ecke gefunden, warf das eine Ende dem edlen Rosse, – empörende Behandlung! – um den Hals und band es mit dem andern durch einen tüchtigen Knoten an der Krippe fest.

„So, Junker Guido! Die Steigbügel noch heraufziehen, daß es nicht hinein schlägt und sich einen Fuß brechen kann – so ! Nun werde ich schon für Alles sorgen, Futter und Absatteln, wenn es etwas abgekühlt ist. Kommen Sie nur, ich will Sie erst zur Ruhe bringen.“

„Aber, Beste, Sie müssen die Campagne mitgemacht haben!“ sagte Guido, während er der Voranschreitenden folgte. „Gestehen Sie, bei welchem Regiment?“

Die Alte lachte, und wie sie überhaupt, seit sie den Gast bei Namen kannte, ihr ganzes Wesen gegen ihn verändert, ja, so weit ihre Stimme dessen fähig war, einen zärtlichen Ton gegen ihn angenommen hatte, ließ sie sich jetzt sogar auf einen Scherz ein. „Ja wohl habe ich Campagne gemacht, ich bin Fourier gewesen, habe immer gute Quartiere besorgt. – Hier, Junker Guido, haben Sie ein hübsches kleines Stübchen – dort steht auch ein Bett, in dem lange Niemand geschlafen hat, überziehen kann ich es nicht, ein Soldat fragt wohl nichts darnach. Aber erst hole ich Ihnen etwas zu essen und ein Licht, ich setze Ihnen einstweilen die Laterne her.“ Sie entfernte sich schnell, und Guido nahm die Laterne, um sich im Zimmer, das ihm am Ende eines schmalen Corridors angewiesen worden war, umzusehen. Es bot wenig Bemerkenswerthes, hatte nur ein Fenster, von Außen durch einen Laden verschlossen, an Möbeln war es karg ausgestattet, in der Ecke stand ein alter Tisch mit einer Art von Aufsatz, dessen Fournirung vielfach abgesprungen war, ein miserabler Spiegel hing schief an der langen Wand, an welcher auch das Bett und vor ihm ein kleiner Tisch stand; die Wände waren mit geschmacklosen Papiertapeten, auf denen viel grüne Bäume gemalt, bekleidet. Für die paar Nachtstunden gab es aber doch ein passables Unterkommen. Eben kehrte auch die Frau zurück, sie brachte Brot, Butter, Käse und ein dünnes Talglicht auf einem verblindeten Schiebeleuchter von Messing.

„Etwas Besseres kann ich Ihnen nicht vorsetzen, Junker Guido,“ sagte sie mit jenem Anfluge von Zärtlichkeit, vor welchem ihn unwillkürlich ein Frösteln überfiel, denn wohlbewandert, wie er in der Literatur war, mußte er an Abenteuer der Rolandsknappen in Musäus Volksmährchen denken. „Aber in der Campagne nimmt man vorlieb und eine Campagne haben Sie ja gestern gemacht. Hihi!“

„Wie heißt diese verzauberte Burg?“ fragte Guido.

Die Alte gab nicht gleich Antwort.

„Ich meine, wenn es Ihnen verständlicher ist, wie dies Haus oder was es vorstellt, heißt?“

[526] „Hier? Das Haus hat keinen besondern Namen,“ erwiederte die Frau.

„Es gehört Ihnen? Darf ich bitten, da ich Ihnen vorgestellt bin, mich auch mit Ihrem Namen zu beehren?“

Sie besann sich wiederum.

„Haben Sie Ihren Namen vergessen?“ rief Guido lachend.

„Beinahe!“ erwiederte sie, und lachte auch, bis der Husten sie abermals überfiel. „Ich heiße Meier’n.“

„Und dies Thal?“

„Das – das hat auch keinen Namen,“ versicherte die Alte.

„Aber, jede Klippe, jede Schlucht hat doch im Harz ihren Namen und was für romantische giebt’s! Wie soll man Euch denn finden?“

„Finden?“ wiederholte die Alte und stieß einen Zischlaut durch die Zähne. „Uns braucht Niemand zu finden.“

Sie stand ihm nicht weiter Rede, und Guido setzte sich auf das Bett, denn einen Stuhl gab es im ganzen Zimmer nicht, schnitt sich mit einigem Mißtrauen ein Butterbrot und aß dann, von dem Wohlgeschmack überrascht, mit wachsendem Appetite, wobei er sich Vorwürfe machte, daß er nicht noch einmal nach seinem Pferde sah.

Er war aber zu müde, und warf sich bald in das Bett, nachdem er das Licht ausgeblasen hatte, das auch noch seinen verwöhnten feinen Sinn beleidigte. „Aber das Bett ist famos!“ dachte er im Einschlafen.


III.

Der sternhellen Nacht war ein klarer Morgen gefolgt. Längst brannten die grauen, verwitterten Felskuppen, welche in das Thal herniederschauten, im goldnen Feuer der Sonne , die Tannen, welche die schroffen Hänge und deren Fuß bekleideten, rauschten vom Morgenwinde; der Ruf der Vögel klang fern und nah, und immer heller wurde es in dem dunklen Kesselgrunde, wo das einsame Haus mit seinem geschlossenen Viereck von Gebäuden lag, das den verirrten Reiter aufgenommen hatte. Er schlief noch fest, die alte Frau hatte schon wiederholt und zuletzt mit unverhehltem Verdrusse nach seinem Fensterladen gespäht, der sich gar nicht öffnen wollte. Endlich konnte sie nicht länger warten, sie ging und weckte den Langschläfer.

„Junker Guido! Es ist schon sehr spät,“ sagte sie, indem sie das Fenster aufstieß, durch welches das volle Tageslicht hereinströmte.

„Ich bin munter. Ihr Bett ist famos, Frau Müller oder wie Sie heißen.“

„Wenn Sie noch zum Mittag zu Hause sein wollen, ist es die höchste Zeit. Ich bringe Ihnen hier eine Tasse Kaffee und werde unterdessen satteln.“

„Satteln?“ rief er lachend. „Verstehen Sie das auch? Gut dann! Bringen Sie Ihren Mocca, und satteln Sie, der Bote ist doch auch bestellt?“

Sie bejahte es.

Der junge Mann stand auf, sobald sie sich entfernt hatte, er fand allerdings den Kaffee von höchst verdächtigem Geschmack, hielt sich aber dafür an die vortreffliche Sahne. Während des Frühstücks trat er nochmals an das offene Fenster, dessen pittoreske Aussicht ihn schon vorher angezogen hatte. Es lag so, daß man das ganze Thal seiner Länge nach, bis zur nächsten Krümmung überschauen konnte. Der Charakter desselben war ein durchaus düsterer; schwarze Tannen bekleideten die steilen Wände, nur hier und da erhob sich eine Buche mit majestätischer Krone zwischen den spitzigen Nadelhäuptern und gab ihrer dunklen Monotonie eine lichte Unterbrechung. Die Bäume waren aufgewachsen, wo sie Erdreich gefunden, ihre Wurzeln ankerten tief im Felskerne, der an vielen Stellen in seltsam geformten Klippen vorsprang und hoch über dem Walde nackte, verwitterte Scheitel emporgetrieben hatte, auf denen wild über einander gehäuft, mächtige Trümmer lagen, vor Jahrtausenden vielleicht schon zusammengestürzt.

Guido hatte das Fenster geöffnet und sich hinausgebogen, um auch die nächste Umgebung des Hauses in Augenschein zu nehmen. Unten trat eben aus einer kleinen Pforte, welche nach dieser Seite hinausführte, die Frau. Er wollte ihr eine Bemerkung hinabrufen, aber die Rede stockte ihm bei den ersten Worten, denn zu ihm sah nicht das runzelvolle Gesicht der Alten emport, sondern ein blühendes, liebliches Mädchenantlitz, das einen erschrockenen Blick aus wunderschönen blauen Augen zu ihm empor warf und gleich darauf verschwand. Dem jungen Manne schoß ein warmer Strahl durch das Herz.

„Das ia ja ganz famos!“ rief er. „Hütet der alte Drache einen solchen Schatz? Deshalb wollte sie mich nicht aufnehmen, deshalb drängt sie mich fast bei nachtschlafender Zeit wieder in den Sattel. O nein, beste Dame! Ich bleibe hier! singt Cortez. Wenigstens so lange, bis ich die nähere Bekanntschaft dieser reizenden Thalblume gemacht habe. Es wäre ja empörend, wenn so viel Schönheit in der wilden Einsamkeit unbewundert blühen und verblühen sollte!“

Als die Alte kurz darauf ganz heitern Angesichts mit der Meldung erschien, daß Kittel, wie sie den Vollblutnamen entwürdigte, gesattelt sei, fragte Dießbach ohne Weiteres nach dem hübschen Mädchen, das er so eben gesehen.

Die kleinen grauen Augen der Alten, welche mit dem Ausdrucke jener überfließenden Zärtlichkeit, vor welcher ihm gestern die Rolandsknappen eingefallen waren, auf ihm geruht, verfinsterten sich flugs und nahmen ihren stechenden Blick wieder an. „Das ist meine Tochter,“ sagte die Alte, und es klang trotzig, als wolle sie fragen, was er sich darum zu kümmern habe.

„Ihre Tochter? Ihre eigene Tochter?“ rief er verwundert. „Ja, mein Herr Lieutenant, zu dienen: meine eigene Tochter.“

„Eine staunenswerthe Aehnlichkeit! Sie sind zu beneiden um ein so liebenswürdiges Kind, und umgekehrt auch, Ihr Töchterchen um eine solche Mama.“

„Wollen Sie nun reiten, Herr Lieutenant?“ entgegnete die Frau, und vor ihren Blicken, die wie feurige Schlangen aus den tiefliegenden, roth umränderten Augenhöhlen züngelten, überlief den jungen Helden unwillkürlich ein Grauen, das ihm den Humor erstickte. „Ihre Mama wird sich Sorgen machen um Sie.“

„O, die macht sich keine Sorgen. Wissen Sie, beste Madame Schulz, ich habe mich anders besonnen. Aus der Rinkenburg habe ich durchaus nichts zu versäumen, und diese Gebirgsparthie ist so wildromantisch, daß es eine wahre Sünde wäre, sie nicht näher kennen zu lernen.“

„Was zu sehen ist, haben Sie dort aus dem Fenster gesehen,“ versetzte die Alte mit finsterer Stirn.

„Ueberlassen Sie das mir, Sie dürfen meinetwillen keine Umstände machen, ich esse mit Ihnen und Ihrem Töchterchen.“

„Meine Tochter ist fortgegangen und kommt nicht wieder,“ sagte die Alte mit einem höhnischen Zucken der schmalen Lippen, das ihren scharfen weißen Eckzahn enthüllte.

„Zum Mittagessen doch?“ rief Guido.

„Heute und Morgen nicht, vielleicht in vielen Tagen nicht – wer weiß, ob überhaupt!“

„Und Sie sagen das mit einer Art von Freude, Sie Rabenmutter?“ rief Guido, von dieser Nachricht in seinem Drange nach der schöner Bergnatur merklich abgekühlt.

„Wollen der Herr Lieutenant nicht lieber nach Hause reiten? Ihr Kittel steht einmal fix und fertig und Ihre Frau Mama ängstigt sich doch – um Sie ganz gewiß!“

„Woher wissen Sie das?“ entgegnete Guido überrascht, denn es schien ihm eine Anspielung auf die Vorliebe zu sein, die er bei der Mutter vor dem ältern Bruder genoß.

„Ich denke mir’s so,“ erwiederte die Alte mit einer Rückkehr zur Freundlichkeit. „Sie sind das Nesthäkchen, das Jüngste.“

„Nun, ehrwürdige Rathgeberin, ich gehorche Ihnen. Haben Sie einen Boten für mich?“

„Er hält Ihr Pferd im Hofe.“

„Wenn Sie eine menschenfreundliche Gesinnung hätten, so würden Sie mir Ihr Töchterchen als Ariadne zur holden Führerin aus diesem Labyrinthe gegeben haben.“

Die Alte erwiederte nichts auf die leichtfertige Rede, sondern schritt voraus nach dem Hofe, wo Guido seine Kitty gesattelt und gezäumt, stehen sah, von einem kleinen Bauerbuben gehalten, dem ein breitschultriger Mann eine Pelzmütze auf den Kopf stülpte. Die Erscheinung desselben überraschte den jungen Offizier, er hatte die beiden Frauen, Mutter und Tochter, für die alleinigen Bewohnner dieses einsamen Hauses gehalten.

[539] „Vielleicht der Herr Gemahl?“ fragte er, als der Mann im blauen Kittel sich entfernte.

Die Frau warf den Kopf etwas zurück, als beleidige sie diese Frage, und verneinte sie. „Gieb her, Fritzen sagte sie zu dem Kleinen, der den Fremden mit großen, runden Augen anstierte. Sie nahm ihm die Zügel aus der Hand, faßte in’s Backenstück und zum Steigbügel und ließ die Halbblutstute zum Erstaunen ihres Herrn sogar strecken.

„Sie haben einen hippologischen Cursus durchgemacht!“ rief er. „Zu Deutsch, Sie sind bei einem Stallmeister in die Schule gegangen.“

„Sitzen Sie nur auf!“ lächelte die Frau. Er wollte ihr für Nachtquartier und Bewirthung ein reichliches Geschenk aufbringen, aber sie lehnte es entschieden ab, und er warf sich denn in den Sattel.

„Auf Wiedersehen!“ sagte er. Die Alte schüttelte den Kopf, und wandte sich zu dem kleinen Führer, dem sie noch rasch einige heimliche Instruktionen gab.

Als Guido den Thorweg passirt hatte, hörte er ihn hinter sich verriegeln.

„Wo hinaus, Kerl?“ rief er den kleinen Mann in der Pelzmütze an.

Der Knabe zeigte thalauf. „Nach der Rinkenburg, Du weißt doch?“ fragte Guido verwundert, denn so viel Erdkunde hatte er doch noch gerettet, um zu wissen, daß die Thäler sich zu dem ebenen Lande senken, und daß sein heimathliches Schloß vor dem Gebirge lag. Aber der Knabe nickte und lief mit großer Sicherheit voraus, er mußte ihm also schon folgen. Ein gebahnter Weg war es nicht, der ihn aus dem namenlosen Thale wieder zu höhern Stufen des Gebirges führte, aber hier und da zeigten sich Pfadspuren, ob vom Wilde oder von Menschen, wer konnte das wissen? Der kleine Bote verstand es, dem Pferde an steilen Parthieen einen bequemen Aufgang im Zickzack auszusuchen und die erste Terrasse war gewonnen. Dießbach wandte sich noch einmal im Sattel um, aber er konnte das einsame Haus, das schon von der Bergmasse verdeckt war, nicht mehr sehen, und welche Fragen er auch an den Knaben richtete, wurde ihm doch nur eine einzige befriedigend beantwortet, nämlich daß er Fritze heiße und der Mann im blauen Kittel, der ihm die Pelzmütze aufgesetzt, sein Vater sei. Ueber das blonde Mädchen geberdete er sich so albern, als ob man von einem Gespenst mit ihm rede; er starrte Guido mit allen Zeichen der Furcht an, und schüttelte zu alten Fragen, ob sie wirklich die Tochter der Alten sei, wie sie heiße, ob sie heut ausgegangen sei, nur immer konsequent den Kopf. Seine Frage, wie weit noch? wußte er niemals zu beantworten; noch immer zeigte sich keine gebahnte Straße, nur gelegentlich ein quer über den seinigen laufender Fußsteig und in fernen Gründen, zu denen sein Blick zufällig von einer höhern Kuppe blicken konnte, zuweilen ein Dorf mit seinen grauen Dächern. Endlich öffnete sich überraschend zu seinen Füßen ein breites Felsenthal, von einem wasserreichen, über Klippen schäumenden Waldstrome durchbraust, unten lag ein Hüttenwerk mit rothen Dächern, weiter hinaus ein weitläufiges Dorf mit ansehnlichen Häusern.

„Das ist Thale!“ rief er. Der Knabe zog seine Pelzmütze von dem störrigen Flachshaare und zeigte auf einen Fahrweg, der wenige Schritt von ihnen sichtbar wurde.

„Gut!“ sagte Dießbach zufrieden. „Jetzt weiß ich meine Straße zu finden. Hier, mein Kobold, nimm diese königliche Belohnung, und wenn Du Dir noch diesen Thaler verdienen willst, so sagst Du mir, wie die alte Frau bei Dir zu Hause und ihre Tochter heißt, und ob Euer Thal wirklich keinen Namen hat.“

Der Kleine nahm das zuerst ihm gebotene Geschenk, auf das er gerechte Ansprüche hatte, der Versuchung des zweiten, das ihn zum Bruch ausdrücklich eingeschärfter Befehle verlocken wollte entrann er durch eilige Flucht indem er in das nächste Gebüsch sprang und mit der Schnelligkeit einer wilden Katze die steile Felswand erkletterte, die offenbar nach dem „Hexentanzplatz“ führte. Guido war jetzt vollkommen orientirt, jenseits auf den Felsen lag der allgemein bekannte „Roßtrapp“, die Hufspur der Prinzessin Brunhild, als sie zu Roß das Bodethal übersprungen und ihr dabei die goldene Krone entfallen, welche noch im Bett des kochenden Waldstromes ruht.



IV.

Es war schon Hochmittag, als er in die Rinkenburg einritt.

Hier traf er zuerst auf Kuno, der im Begriff stand, den kleinen Kaleschwagen, mit welchem er gewöhnlich ausfuhr, zu besteigen Er zog aber, so wie er den einreitenden Bruder bemerkte, den Fuß vom Wagentritt zurück, befahl dem Kutscher, auszuspannen und ging Guido langsam entgegen, denn er hinkte und zwar schon seit früher Jugend.

„Friedrich!“ rief Guido mit lauter Stimme. Sein Husar stürzte aus dem Stalle, ihm das Pferd abzunehmen.

[540] „Sage mir in aller Welt,“ fragte der unterdessen herangekommene ältere Bruder, „wo hast Du Dich umher getrieben? Ich war eben im Begriff, nach Dir Erkundigungen einzuziehen.“

„Mich als Deserteur mit Steckbriefen zu verfolgen, nicht wahr?“ erwiederte Guido lachend. „Komm, ich werde Dir genauen Rapport abstatten. – Friedrich!“ Der Husar steckte den Kopf aus der Stallthüre. „Nimm Dich in Acht, die Pistolen sind noch geladen.“

„Hast du in unserer friedlichen Gegend Pistolen mitgenommen?“ fragte Kuno mit einem gewissen Lächeln, das den jüngern zuweilen erröthen ließ, zuweilen aber auch in Harnisch jagte, wie jetzt.

Wir sind gewohnt, Waffen zu tragen,“ erwiederte er pikirt.

Sie waren in das Wohnzimmer getreten, wo das Kaminfeuer flackerte. Cuno stellte sich seiner Gewohnheit nach mit den Händen auf dem Rücken vor die wärmende Gluth, und erwartete ohne weitere Aufforderung Guido’s Bericht. Man konnte keinen größern Contrast sehen, als dies in jeder Beziehung ungleiche Brüderpaar. Guido war nicht groß, aber schlank und sehr proportionirt gewachsen, von zartem, fast mädchenhaftem Teint und feinen Zügen; schönes, blondes Haar, dessen natürliches Gelock kaum von den Scheeren des ersten Haarschneidesalons der Residenz zu der glatten und kurzen Form, sie sie die Mode der vornehmen Welt und der Dienst vorschrieb, gebändigt werden konnte, umzog eine hohe Stirn und milchweiße Schläfe, durch deren Haut die blauen Adern schimmerten; auf der etwas übermüthig aufgeworfenen Oberlippe kräuselte sich der erste noch unentweihte Flaum, und die Hände und Füße, von untadelhaft aristokratischer Form, vollendeten die anziehende Erscheinung, deren einziger Fehler, daß sie nicht männlich genannt werden konnte, sich ja mit jedem zurückgelegten Jahre verbessern mußte. Kuno dagegen war hoch und massiv gebaut, eine seiner breiten Schultern offenbar stärker ausgebildet, als die andere, so daß er von strengen Schönheitsrichtern wohl bucklig genannt werden konnte; rabenschwarzes Haar, mit auffallender Nachlässigkeit behandelt, hing in reichen und glänzenden Strähnen, wie sie eben fielen, um einen Kopf, dessen ausdrucksvolle Physiognomie Jeden überraschen mußte, der Kuno von Dießbach zum ersten Male begegnete. Das Gesicht war dunkel gefärbt, wie es in dieser nordischen Gegend selten zu finden ist; es hatte keine schönen Züge, aber diese waren fesselnd, dabei markig ausgeprägt und gewöhnlich tief ernst, ohne jedoch finster zu sein. Schwarze Augen, in denen ein verhülltes Feuer glimmte, das aber gelegentlich auch in flammende Gluten auflodern konnte, erhöhte den eigenthümlichen Eindruck, welchen dies Antlitz machte; in diesen Augen, deren Blick die Kraft hatte, jedes fremde Auge auf sich zu ziehen und zu bannen, aber auch zu Boden zu drücken, wenn sie wollten, schien ein Räthsel zu liegen, dessen Lösung wohl keine erfreuliche war.

Jetzt hatten sie sich auch fest auf den Bruder gerichtet, der ihrer bis jetzt unbestrittenen Autorität sich beugte und seinen Bericht mit der Nachricht begann, die er von dem Schäfer aus Sanct Pankraz eingezogen hatte, nämlich daß der neue Oberamtmann, welcher Siebel oder Wiebelich hieß, mit Sack und Pack eingezogen und also jedenfalls, wie Kuno wissen wollte, alle Tage zu sprechen sei, daß aber kein Mensch wissen, wohin sich Stargau begeben habe, der übrigens ja schon viele Jahre fort sei.

Kuno hatte ihn ruhig angehört und nur bei den letzten Worten einen stärkern Rauch aus seiner Cigarre gezogen.

„Du hast Dich mit dieser Schäfernachricht begnügt?“ fragte er jetzt. „Bist nicht auf den Hof geritten?“

„Aufrichtig gesagt, Kuno, ich wußte nicht recht, wie ich meiner Nachfrage einen rechten Grund geben sollte. Was geht mich dieser Herr Stargau an?“

Kuno erwiederte nichts, sondern drehte sich um, warf den Rest seiner Cigarre in das Feuer, schürte und schlug dasselbe mit dem Poker, daß die Funken spritzten, und nahm dann seine frühere Stellung wieder ein.

„Er ist Dir wohl mit einer Schuld durchgebrannt?“ fragte Guido.

„Ja!“ antwortete Kuno kurz.

„Viel?“ fragte Guido.

„Mehr, als Du ahnst!“ sagte der Aeltere mit einer ganz eigenen Betonung, die nur dem unbefangenen Bruder verloren ging.

„Das ist ja fatal. Von einem Kornhandel wohl?“

„Frage nach dem Handel nicht, niemals, Guido! Nun sage weiter, warum bist Du nicht nach Hause gekommen?“

„Mama hat sich wohl um mich geängstigt?“ war Guido’s Gegenfrage.

„Ich weiß es nicht, sie war krank,“ sagte der Aeltere.

„Mein Gott, sie ist wohl noch krank?“ rief Guido besorgt.

Die Antwort wurde Kuno erspart, denn die Mutter trat selbst in demselben Momente ein. Sie war eine große, etwas magere Dame von kerzengerader Haltung. Ihr Gesicht mußte einst wunderschön gewesen sein, man konnte dessen Züge, wenn sie auch ein wenig scharf geworden waren, noch immer interessant finden, und Frau von Dießbach, wie sie gar kein Hehl hatte, kam dem günstigen Eindrucke mit allen Künsten der Toilette entgegen; sie legte mit feinster Geschicklichkeit Weiß und Roth auf und unter der geschmackvollen Haube trug sie einen tief schwarzen künstlichen Haarscheitel. Als sie eintrat, verbreitete sie wieder den ganz eigenthümlichen Parfüm, den man stets an ihr kannte. Sie bereitete ihn selbst und war sehr eifersüchtig auf ihr Geheimniß, denn sie hatte selbst auf direkte Bitten ihrer genauesten Bekannten weder das Recept mitgetheilt, noch überhaupt jemals auch nur einen Tropfen dieser duftenden Essenz in ein fremdes Taschentuch gespendet. Ob dieselbe recht angenehme sein, darüber waren die Meinungen getheilt, sie hatte einen besondern Wohlgeruch, aber für zartere Nerven schien sie auf die Dauer angreifend zu sein. – Ein Kleid vom schwersten schwarzen Seidenstoff, wie sie es auch im Hause trug, vom anerkannt ersten Modisten der Hauptstadt gefertigt, floß in gefälligen Falten um die hohe Gestalt und gab ihr ein würdiges Ansehen, blendend weiße Manschetten und ein gestickter Kragen waren ihr einziger Schmuck, sie trug weder Broche noch Armband und keinen Ring an ihren feinen, schlanken Fingern. So machte die ganze Erscheinung einen durchaus vortheilhaften Eindruck, der nur durch den starren Blick ihrer Augen zuweilen beeinträchtigt wurde.

Als sie ihren Liebling bemerkte, milderte sich wie immer dieser starre Blick und sie rief ihm schon von der Thüre zu:

„Nun, Guido, sage mir, wo bist Du umhergeschwärmt?“

„Ja, Mama, solchen Vorwurf verdient man sich, wenn man allzu solide ist. – Ich habe Dich verwöhnt.“

„Ei, Du selbst verwöhntes Kind, ich will Dir Deine junge Freiheit auch gar nicht beschränken. – Guten Morgen, Kuno. Wir haben uns heut noch nicht gesehen.“

Es lag ein Vorwurf ganz anderer Art in dieser Bemerkung. Kuno nahm ihn auf und erwiederte, daß er seinen Gruß und die Frage nach ihrem Befinden noch nicht habe anbringen können.

„Mir ist wieder ganz wohl,“ sagte sie leicht. „Du brauchst mich nicht so besorgt anzublicken, Guido, Du weißt, daß ein Unwohlsein immer sehr schnell an mir vorüber geht.“

„Ja, Du bist Dein eigener Arzt und hast Deine Geheimmittel, Mama. Nimm Dich in Acht, daß Du nicht einmal wegen unbefugten Prakticirens belangt wirst.“

Der Blick der Mutter nahm während der Rede wieder jenen starren Ausdruck an, der ihn für Fremde, die ihn nicht gewohnt waren, unheimlich machen konnte. Ihre Söhne waren aber längst damit vertraut und wußten, daß sie dann von andern Gedanken befangen wurde, die sie in Anspruch nahmen und nicht recht auf das hören ließen, was man zu ihr sprach. Diesmal schien letzteres jedoch nicht der Fall zu sein.

„Ich rathe Dir, ein Glas Ungarwein zu trinken, denn Du siehst übernächtig und angegriffen aus,“ sagte sie.

Guido eilte vor den Spiegel. Er fand die Beschuldigung einigermaßen bestätigt, schob die Schuld aber auf sein abenteuerliches Nachtquartier, wo er die einfachsten[WS 1] Toilettegegenstände habe entbehren müssen. Während er sprach und sich noch immer mit Aufmerksamkeit betrachtete, stockte auf einmal seine Rede, er blickte sich überrascht um, sah wieder scharf in den Spiegel und rief endlich: „Auf meine Ehre! Aber das ist das merkwürdigste Spiel der Natur, das je erlebt worden ist. Denkt Euch, ich habe heute früh ein Mädchen gesehen, das mir so wunderbar bekannt vorkam, und jetzt erst – unbegreiflicher Weise! – wie ich vor den Spiegel trete, fällt es mir auf einmal wie Schuppen von den Augen, als ob ich meine eigene Visage ganz vergessen hätte. Sie sieht mir ähnlich – aber so frappant, daß Ihr gar keinen Begriff davon habt. Steckt die Blondine in den Husaren-Attila oder mich in ihren schwarzweißen Ueberwurf, so sind die Zwillinge fertig!“

[541] „Wo war das?“ rief Kuno, rasch einen Schritt näher tretend, während sein dunkles Gesicht sich noch dunkler gefärbt hatte. Die Mutter heftete ihre Augen so fest auf Guido, daß ihr Blick ihm peinlich wurde, aber sie fragte nichts, sondern schien seine Erklärung, als sich von selbst verstehend, zu erwarten.

„Ja, wo war das? Weiß ich’s? In einem namenlosen Thale, hoch oben im Gebirge, zwischen Tannen und grauen Felsen, in einem alten verwitterten Hause, bei einer eben so alten verwitterten Hexe, die sich für ihre Mutter ausgab – vier, sechs Stunden vielleicht von hier, wer kann es messen!“

Kuno hatte ihm aufmerksam zugehört, doch kein Zug seines strengen Gesichts verrieth, was in ihm dabei vorging.

„Wie kamst Du dahin?“ fragte er. Die Mutter äußerte noch immer kein Wort, sondern setzte sich auf einen Lehnstuhl„ wo sie einen Moment ihre geradeauf gerichtete Haltung aufgab und sich zurücklegte, aber so wie Guido zu sprechen anfing, setzte sie sich wieder aufrecht und sah ihn starr an.

Guido berichtete nun sein ganzes Abenteuer, wobei er den Umstand, daß er sich verirrt hatte, nach Kräften zu verschleiern suchte, er hatte sich keine Mühe zu geben brauchen, seine Zuhörer legten auf ganz andere Dinge seiner Erzählung, und nur auf diese, Werth. Auch unterbrachen sie ihn nicht, und erst, als er geendigt hatte, trat Kuno zur Mutter, blickte ihr voll in das Gesicht und fragte. „So viel ich errathen kann, muß Guido in der Eremitage gewesen sein! Meinst Du nicht auch?“

„Ich glaube es fast,“ sagte Frau von Dießbach kalt.

„Und die alte Frau, welche er dort getroffen hat, kann niemand Anderes sein, als Deine Nina, die gewesene Kunstreiterin.“

Guido lachte fröhlich auf, er hatte nun auf einmal eine Fülle von Aufklärungen. „Ganz entschieden!“ rief er. „Sie würde noch heut, freilich als horrible Schönheit, im Circus von Renz oder Loisset Furore machen, ich sehe sie durch vierzig Reifen springen, wie das Wunderkind Ella, ohne, wie diese, in einem Abende sechs Mal vom Pferde zu fallen! Also die Eremitage heißt das romantische Haus – nun, eine Zeit lang kann es sich ein Eremit dort schon gefallen lassen, wenn er von der hübschen Blondine bedient wird, die ich nächstens auch im Circus den Fußstapfen ihrer Pseudo-Mama folgen zu sehen hoffe!“

„Hör’ auf zu witzeln, ich bitte Dich!“ sagte Kuno, aus dessen finster zusammengezogenen Brauen schwere Wolken lasteten, und sich wieder zu der Mutter wendend: „Was meinst Du, kann es eine Andere sein, als Deine schwarze Nina?“

„Ich weiß es nicht, aber es ist wohl möglich,“ antwortete Frau von Dießbach.

„Möglich?“ rief Kuno wild, aber er mäßigte seinen Ton gleich wieder, als er seitwärts blickend des Bruders Verwunderung bemerkte. „Ich frage, wie ist es aber möglich, da die Eremitage doch verschlossen, ihr Schlüssel von meinen eigenen Händen in den Bodekessel geworfen und die Thüre vermauert worden ist? Wie kann das Weib eigenmächtig sich dort einnisten und eine förmliche Wirthschaft halten, da die Stätte doch ewiger Verlassenheit übergeben wurde?“

„Ich weiß es nicht,“ antwortete Frau von Dießbach mit eisiger Ruhe. „Es muß untersucht werden!“

„Das soll es!“ rief Kuno drohend, und seine Stirn wurde finster, wie die Nacht. „Ich bin seit langen Jahren nicht dort gewesen, man rechnete wohl darauf, daß ich jene Stätte nicht mehr betreten würde. Wäre ich doch nur ein einzig Mal hingekommen!“

„Deine Schuld!“ sagte die Mutter.

„Die Schuld?“ – rief Kuno mit einem heißen Athemzuge. „Nun,“ fuhr er gefaßter fort, „wir werden ja sehen. Wenn das Weib also nicht mit Deiner Bewilligung dort wohnt, sie hat doch Deine Erlaubniß nicht?“

„Meine Erlaubniß hat sie nicht, hätte ihr auch nichts helfen können, denn mir gehört der Grund und Boden nicht, Du bist der Gutsherr.“

„Das bin ich!“ versetzte Kuno, kreuzte die Arme über der breiten Brust, als wolle er die hochgehenden Wogen, welche sie aufschwellten, niederdrücken und trat wieder an den Kamin zurück.

Für Guido war die Scene ein unerklärbares Räthsel, er hatte nur einen stummen, staunenden Zeugen abgegeben. Daß zwischen der Mutter und Kuno, seinem Stiefbruder, kein gutes Verhältniß Statt fand, wußte er längst, aus manchem Zeichen. Aber so deutlich, wie heut, war ihre Spannung noch nicht hervorgetreten. Was mochte die Ursache sein? Gewiß nur Kuno’s schroffer Charakter, der auch der Mutter die schuldige Rücksicht versagte! Dann aber, welchen Zusammenhang hatten diese Anspielungen auf Verhältnisse früherer Zeit, von denen er auch nicht einmal eine Ahnung besaß? Hatte er, als Sohn des Hauses nicht ein Recht, hier Erklärungen zu fordern?“

„Sage mir, Mama,“ fing er an, „was hat es mit dieser Eremitage für eine Bewandtniß? Hat sich dort irgend etwas Schreckliches zugetragen, daß sie vermauert und ihr Schlüssel, wie der von Ugolino’s Hungerthurm, in den Strom geworfen worden ist? Ich hätte das in tiefer Einsamkeit gelegene Haus nicht für eine Stätte des Grauens, sondern eher für ein Asyl verborgener, beglückter Liebe gehalten.“

Kuno verließ in diesem Augenblicke, ohne ein Wort zu sagen, das Zimmer, und Frau von Dießbach stand so heftig auf, daß der Lehnstuhl eine Strecke zurückrollte. Aber kein Blick, keine Miene verrieth eine innere Bewegung, und der fein aufgetragene Carmin ihrer Wangen verdeckte jeden Wechsel der Farbe.

„Guido, geh’ Deinem Bruder nach,“ sagte sie. „Vielleicht habe ich ihn gereizt, er ist eine vulkanische Natur und kann meine Ruhe, die ich ihm entgegensetze, nicht immer ertragen. Frage ihn aber nicht über das, was wir eben besprochen haben – er würde Dir doch aus guten Gründen nicht Rede stehen – von mir, mein Kind, sollst Du erfahren, was Du wissen willst. Sieh zu, was er unternimmt, ich glaube, er will das arme Weib, das dort ein Obdach gefunden hat, vertreiben – darnach frage ihn geradezu – und sage mir, was er Dir antwortet. Aber laß ihn nicht merken, daß ich Dir den Auftrag gegeben habe. Ich schenke Dir mein Vertrauen und verlasse mich ganz auf Dich.“




V.

Frau von Dießbach war nun allein. Sie stand unbeweglich auf der Stelle, wo sie Guido entlassen hatte; ihr Auge sah in das Leere, ihre Arme hingen schlaff herab, doch das Haupt trug sie aufrecht, und nur ein leises Zucken ihrer feinen Lippen bekundete, daß sie im Innern nicht so unbewegt war, als ihr versteinertes Aeußere erschien. So stand sie wohl eine Viertelstunde und es war ihre Gewohnheit so, wenn sie ihren Gedanken nachhing. Ihre Sinne mußten aber dabei doch nicht ganz der Außenwelt verschlossen sein, denn das leiseste und fernste Geräusch ging ihr nicht verloren: es war, als sei ihr Gehör stets auf der Hut, um sich nicht in solchen Momenten von einem unberufenen Zeugen überraschen zu lassen.

Auch jetzt hörte sie ihres zurückkehrenden Sohnes raschen und elastischen Schritt, noch ehe er vom Hofe aus die Schwelle des Hauses betreten hatte, und sie setzte sich ruhig auf ihren gewohnten Platz am Fenster und nahm die Stickerei auf, an der sie gewöhnlich arbeitete. Als Guido eintrat, sah sie gleichmüthig aus. „Du bist erregt, mein Kind?“ fragte sie. „Kuno ist doch nicht unfreundlich gegen Dich gewesen?“

„Im Gegentheil! Ich gegen ihn! Wenn Du mich Dein Kind nennst, Mama, so machst Du mich glücklich, denn ich weiß Deine Liebe zu verstehen, aber wenn ein Anderer – und wär’s mein Bruder, der zwanzig Jahre älter ist, als ich! – sich herausnimmt mich wie ein Kind zu behandeln, so zeige ich ihm, daß ich für ihn und alle Welt kein Kind mehr bin!“

„Ich bitte Dich, Guido!“

„Nein, Mama. Ich bin Kuno sehr gut und achte seinen entschiedenen, männlichen Charakter, thue ihm auch zu Gefallen, was in meinen Kräften steht, aber wenn er mich blos als sein Werkzeug, als eine Maschine betrachtet, die blind und taub seinen Plänen dienen soll, ohne nur das Recht zu erhalten, einmal darnach zu fragen, so weise ich Arroganz mit gleicher Waffe zurück und erkläre mich, durch nichts mehr gebunden, zum freien Herrn meines Willens und – meiner Zunge.“

„Hat er Dich als ein solches Werkzeug gebrauchen wollen, mein armer Guido?“ fragte die Mutter sanft.

„Ja, Mama. Und ich würde nicht eine Silbe davon sagen, aber er hat mich selbst provocirt, mich mit einer wahrhaft dämonischen Laune geradezu aufgefordert, Dir zu erzählen, was ich ihm gestern in Sanct Pankraz auskundschaften sollte, während ich Dir [542] – verzeihe mir, Mama! – einen bloßen Spazierritt, höchstens bis Ballenstedt, vorgab.“

„Also diplomatische Aufträge, um sie nicht trivialer zu bezeichnen?“ frgte die Mutter lächelnd. Aber welch’ ein Lächeln war das! Hätte der Sohn in seiner Unbefangenheit nur Augen dafür gehabt!

„Recht, Mama. Gemeines Spioniren muß es genannt werden. Einem miserabeln bankerotten Oekonomen, wie ein Bluthund von San Domingo auf die Spur gesetzt, blos um ihn vielleicht lumpiger hundert Thaler wegen, die er ihm beim Kornschacher zu Dank schuldig geblieben, zu hetzen! Das ist gemein, empörend, und hätte ich das gestern gewußt, so würde ich eher meiner Kitty eine Kugel in’s Ohr gejagt haben, als nach Sanct Pankraz zu reiten.“

„Wen meinst Du eigentlich? Ich verstehe Dich nicht,“ sagte Frau von Dießbach und lüftete ihr Schnupftuch, aus welchem jener feine durchdringende Parfüm in stärkern Duftwogen strömte.

„Ich meine den ehemaligen Pachter Stargau,“ erwiederte Guido. „Nach ihm sollte ich Erkundigungen einziehen, wo er ein Ende genommen habe und was ich sonst über seine letzte Zeit in Sanct Pankraz in Erfahrung bringen könnte: ich glaubte, es wäre Theilnahme für den armen Mann, erst heut bin ich über die noblen Beweggründe meines Herrn Bruders aufgeklärt worden. Es ist schon nichts, daß ein Landedelmann Handel treiben muß, die Gesinnungen werden durch die ewige Geldspeculation verdorben.“

Frau von Dießbach nahm von dieser sonderbaren, aber ganz charakteristischen Ansicht keine Notiz, sondern sagte: „Wenn er Dir also doch Mittheilungen gemacht hat, worüber beklagst Du Dich denn?“ Ihr Ton klang einschmeichelnd, ihr Blick hatte etwas Lauerndes, sie wußte auf Guido immer ohne direkte Fragen zu wirken.

„Das interessirte mich am Wenigsten. Es thut mir leid, wenn Herr Stargau in’s Elend gerathen ist. Aber was geht es mich an? Ich wollte über die Eremitage und was sich dort zugetragen hat, Auskunft haben, über die ehemalige Kunstreiterin und ihre angebliche Tochter, die mir ähnlich sieht! Damit hat er mich schnöde abgewiesen – weißt Du, was er mir in den Bart geworfen hat? Du bist noch zu jung: dazu gehört nicht Porzellan, sondern Granit! Ich habe ihm aber meine Meinung über seinen geistreichen Vergleich gesagt!“

„Laß es gut sein, Guido. Du sollst Alles von mir erfahren. Kuno geht seine eigenen Wege und läßt sich nicht gern kreuzen. Natürlich hat er Dir über diese Wege nichts vertraut. – Aber er ist hart wie Granit – darin paßt sein Vergleich vollkommen. Gewiß ist er schon auf dem Wege nach dem Thale.“

„Das glaube ich nicht, Mama. Ihm scheint vor Allem sein Geld am Herzen zu liegen, womit ihm der Domainenpachter durchgegangen ist. Erst, glaube ich, will er sich nach dem erkundigen, wenigstens fragte er mich, wo ich gestern den Schäfer von Sanct Pankraz mit seiner Heerde getroffen, den ehrbaren Herrn Glupsch.“

„Den hast Du getroffen?“ rief Frau von Dießbach lebhaft – gedankenvoll setzte sie hinzu: „Das ist ein treuer Mensch.“

„Kennst Du ihn auch?“ fragte Guido. „Er sagte, daß er Dich kennt.“

Die Mutter sah eine Weile vor sich hin, dann blickte sie auf: „Hast Du schon etwas genossen, mein Sohn?“

„Wie wo, Mama? Ich rechne allerdings stark noch auf einige beaux restes von Eurem Diner, das ich leider versäumt habe. Die Dame vom Circus hat mich eben nicht üppig bewirthet.“

„Kannst Du Dich heut einmal mit einem Soldatenimbiß aus der Hand begnügen, wenn Deine Mutter Dich um Deine Gesellschaft bei einem Spaziergange bittet? Wenn Du es aber nicht gern thust und angegriffen bist –“

„Angegriffen, ich!“ rief Guido. „Ich bin Soldat, meine Herzensmama, und wär’ ich auch hungrig und müde zum Ausblasen, für Dich meinen letzten Athemzug, Mama!“

Die Mutter stand auf und schloß ihn zärtlich in ihre Arme. „Ich weiß es, Du bist mein gutes Kind und wirst mich niemals verlassen.“

„Mama!“ rief der Sohn, von dem Momente hingerissen. „Ich sehe, wie Du mit Kuno stehest. Warum bleibst Du hier? Warum ziehst Du nicht in meine Garnison, sie ist im Winter todt, man sieht dann nichts, als Schnee und Soldaten, aber im Sommer ist es dort um so reizender, und ich würde Dich auf den Händen tragen.“

„Das bin ich überzeugt,“ sagte sie. „Aber sprechen wir jetzt nicht davon. Ich gehe, für unsern Spaziergang und Deinen Appetit zu sorgen.“

„Und unterwegs erzählst Du mir vielleicht?“ – fragte Guido. Sie nickte ihm zu und ging hinaus.

Kuno hatte in der That seinen kaum ausgespannten Harttraber, den er vor der kleinen Kalesche immer selbst fuhr, wieder aufschirren lassen und nahm eben die Zügel aus der Hand des Knechts, als seine Mutter aus dem Fenster der Speisekammer nach ihm blickte. Ihre Lippen bewegten sich zu unhörbaren Worten: ein Segensspruch war es nach dem Ausdruck ihrer Mienen nicht.

Er fuhr wirklich über das freie Land in der Richtung nach der Stadt, lenkte aber bald in Feldwege, die ihn endlich zu der sich aus der Ebene erhebenden Hügelgruppe führten, an deren Fuß die stattlichen Gebäude des ehemaligen Klosters Sanct Pancratii lagen. Der hellste Sonnenschein verklärte sie und wob einen goldenen Schimmer um die graue viereckige Warte auf der Höhe, fliegende Herbstfäden wehten von jedem Baume der Ebereschenallee, in deren Zweigen viel Geflatter von Vögeln war. Kuno spähte mit scharfem Auge rings über die Flur nach der Heerde, deren Schäfer er gern gesprochen hätte, aber sie war nirgends zu erblicken und weidete wohl heut auf einer andern Trift. So verfolgte Dießbach denn den Weg nach Sanct Pankraz. Vor dem Thore der geschlossenen Umfassungsmauer hielt er still: „Steig ab, melde mich beim Oberamtmann an,“ befahl der dem Knechte, der hinter ihm saß. Dieser gehorchte, und blieb ungewöhnlich lange aus, doch wartete sein Herr, ohne das geringste Zeichen von Ungeduld zu verrathen.

„Der Herr Oberamtmann ist nicht zu Hause,“ klang endlich der Bescheid, „aber der Frau Oberamtmann wird es eine große Ehre sein.“

„Der Frau habe ich nicht gemeldet sein wollen,“ sagte Dießbach schroff und zog die Zügel an, um wieder umzukehren.

„Sie zieht sich expreß Ihretwegen an, gnädiger Herr“ – wandte der Knecht ein.

„Steig auf!“ befahl Dießbach, gab aber doch seinen unhöflichen Entschluß auf und fuhr in den Hof ein.

Wie anders sah es hier aus, als auf seiner eigenen Rinkenburg! Welch’ ein weiter Hofraum war von massiven, mit wahrer Verschwendung ausgestatteten Wirthschaftsgebäuden umschlossen, welch’ ein Schatz, den nur ein Landwirth zu würdigen verstand, lag vor den Ställen aufgethürmt – wir zagen, unsern feinen Leserinnen, die nicht vom Lande sind, zu sagen, aus welchem Stoff dieser Schatz bestand! Hoch mit Stroh bedeckt war ein anderer Theil des Hofraum, wo die reich gefüllten Scheunen lagen, und noch stand draußen ein wahres Feldlager von Fruchtschobern, weil die Scheunen den Segen nicht fassen konnten; in der Mitte des Hofes ragte ein runder großer Thurm mit vielen Mauerlücken und geblendeten Fenstern, auch etagenweisen Thüren, und seine Bewohner – viele Hunderte an der Zahl, aus allen Gattungen des Hausgeflügels – flatterten, liefen, pickten und lärmten, wie ihnen der Schnabel gewachsen war, auf dem Hofe umher. Hier war Reichthum und Fülle, die nicht ängstlich um jedes Korn, um jeden Halm zu sorgen braucht! Was mußte ein armer Oekonom aus dürftiger von der Natur ausgestatteten Gegend, wo man eine spärliche Nadelstreu in den Kiefernwäldern zusammenkratzt und dem magern Boden doch nicht zu Hülfe kommen kann, fühlen, wenn er einen solchen Hof betrat! Ein solcher schien der Mann im fadenscheinigen Rocke zu sein, der eben von einem jungen Mädchen mit einer Gabe bedacht wurde, als Kuno von Dießbach an dem eisernen Gitter vorfuhr, welches den Bezirk des Wohnhauses mit seinen Gartenanlagen von dem Hofe trennte. Er zog einen zerknitterten Hut, der fremde Mann, vor dem Mädchen, bedankte sich und fragte, so daß es Kuno hören konnte: „Also eine Condition für mich wissen Sie nicht? Ich habe die Oekonomie gründlich gelernt!“ Es klang wie eine Selbstironie, wenn man seine elende Erscheinung dabei betrachtete. Kuno’s Blick streifte über den Mann, während das junge Mädchen ihm eine bedauernde Antwort gab. Der Mann aber schwenkte den Hut auch vor Kuno: „Gehorsamster Diener, Herr von Dießbach.“

[551] „Sie sind’s?“ rief Kuno überrascht.

„Ja, leider! So kann’s einem armen Oekonomen gehen, wenn er Malheur hat. Herr Stargau ist nicht mehr hier, der würde sich meiner doch wieder angenommen haben. Wissen Sie vielleicht eine Condition für mich? Sie kennen mich doch auch?“

„Ich kenne Sie allerdings. Aber kommen Sie nach der Rinkenburg, das heißt nach Rinkleben, verstehen Sie? Nach dem Dorfe, dort erwarten Sie mich an Gasthofe.“

„Kann ich nicht hier auf Sie warten?“ entgegnete der Oekonom, „Ich habe mir die Füße durchgelaufen.“ Er zeigte seine zerrissenen Stiefeln.

„Mit mir fahren können Sie nicht,“ erwiederte Dießbach, die Stirn runzelnd.

„Na, so muß ich mich schon durchschlagen! Also beim alten Semmler, der lustige Wirth lebt doch noch?“

Dießbach machte eine unwillige Bewegung, die ihn deutlich gehen hieß.

„Recommando, Herr von Dießbach!“ sagte der zudringliche Mann und schwenkte nochmals seinen alten Filz, wobei ihm der Wind das dünne weißliche Haar von dem sonst kahlen Schädel strich. Dann ging er fort.

Das junge Mädchen hatte während des ganzen Gesprächs, von Kuno, der sie nicht kannte und für eine Dienende hielt, unbeachtet am Gitter gestanden. Als Kuno nun, auf die Schulter des abgesprungenen Knechts sich stützend, vom Wagen stieg, trat sie ihm entgegen und bat ihn mit einer gebildeten Stimme, näher zu treten, ihr Vater sei zwar nicht zu Hause, doch werde er jeden Augenblick erwartet.

„Verzeihen Sie, mein Fräulein,“ sagte Dießbach, indem er das junge Mädchen mit einer so rücksichtslosen Aufmerksamkeit betrachtete, daß sie vor ihm die Augen niederschlug.

Er folgte ihr dann in das Haus und Zimmer. Die Mutter war noch immer mit ihrer Toilette nicht fertig, und überließ getrost ihrer Tochter die Sorge, den Gast zu unterhalten. Dießbach wurde dadurch aber nicht so in Anspruch genommen, daß er die Einrichtung des Zimmers nicht hätte mustern können. Sie war reich genug, hatte Broncespiegel, Consolen von Marmor, Sopha und Sessel mit Plüsch überzogen, aber ein guter Geschmack in der Auswahl und Anordnung fehlte und die Polstermöbel sowohl, als der Kronleuchter waren mit Hüllen bedeckt, was wieder auf eine kleinliche Schonung deutete und von Kuno’s überstrenger Kritik gemein genannt wurde. Jetzt öffnete sich endlich die Thüre und die Frau Oberamtmann Siebeling rollte herein – wir können nicht anders von ihrem Gange sagen, denn sie war eine kleine, kugelrunde, ungemein bewegliche Frau. Ehe sie diese vollkommene Gestalt gewonnen hatte, mochte sie vielleicht ganz hübsch gewesen sein, ihre Gesichtszüge waren freundlich und hatten noch immer blühende Farben, die nur allzu leuchtend genannt werden mußten. Dem Gaste aus der Nachbarschaft zu Ehren, der ihr mit einer Visite zuvorkam, hatte sie sich in ein brillantes Kleid geworfen, und eine ganz neue Haube ausgesetzt, an welcher zum großen Schreck ihrer Tochter noch die Etikette aus dem Putzladen hing, die sie in der Eile vergessen hatte, abzuschneiden.

„Ich bitte sehr um Excuse, Herr Nachbar!“ redete sie den Gast an, dessen Figur sie mit einiger Verwunderung füllte. „Wo noch gar nichts eingerichtet ist, hat man alle Hände voll zu thun. Mein Mann wird sehr bedauern, daß er nicht schon seine schuldige Aufwartung bei Ihnen gemacht hat, wir sind ganz beschämt, Herr Baron, aber wir werden uns so bald als möglich die Ehre geben – darf ich nicht bitten? Agnes – ein Paar Weintrauben! Sie lieben doch Weintrauben? Wir haben prächtige frühe Sorten gefunden – gewiß haben Sie auch Wein auf der Rinkenburg, ich denke, die Lage muß gegen Mittag ganz schön sein – “

In dieser unhemmbaren Fluth plätscherten ihre Worte noch fort, während sie Platz genommen hatten, und dabei war sie so beweglich, daß sie trotz ihrer Fülle auf den kräftigen Springfedern des Sopha’s auf und nieder hüpfte, wie eine Marionette, und die verrätherische Firma mit dem Ladenpreise an ihrer Haube gleichfalls in tanzender Bewegung blieb. So ernst Kuno war, konnte er doch ein Lächeln nicht unterdrücken. Die Tochter hatte sich entfernt und kam erst nach einer geraumen Weile mit einer Fruchtschaale voll köstlicher Weintrauben zurück.

„Hast Du auch recht reife schneiden lassen, Agnes?“ rief die Mutter. „Langen Sie zu, Herr Baron – oder Ihnen lieber aussuchen, ich kenne die Sorten besser – hier diese! Sehen Sie, die hat der Fuchs geleckt und da sehen Sie auch schon Stiche von den Wespen – wie war doch Dein hübsches Verschen, Agnes? Die schlechtsten Weintrauben sind es nicht, die sich die Wespen aussuchen – oder so etwas?“

„Da kommt der Vater!“ rief Agnes, welche glühend erröthet war. Dießbach stand auf.

Durch den Thorweg rasselte im scharfen Trabe ein offener Wagen, mit zwei starken, schönen Braunen bespannt.

[552] „I, wen bringt er uns denn da mit?“ fragte die Frau Oberamtmann, mit dem Gaste an das Fenster tretend.

Es war ein Bekannter aus früherer Zeit, der hier in dem benachbarten Ballenstedt von seinem Gelde lebte, ein reicher Kapitalist ohne bestimmte Beschäftigung, der aber dafür ein wahres Conversationslexikon über alle Verhältnisse der Gegend war, die er in seinen unbeschränkten Mußestunden schon Jahre lang gründlich studirt hatte. Oberamtmann Siebeling war heut in Ballenstedt Geschäfte halber gewesen und hatte den alten Bekannten aufgesucht, der seine Einladung gleich auf denselben Tag gefaßt und angenommen hatte.

Dießbach erkannte ihn auf den ersten Blick; wer hätte sechs Meilen und mehr in der Runde Herrn Egelmann nicht gekannt? Daß er gerade heut und hier mit ihm zusammen treffen mußte, war ihm unangenehm, doch verrieth er das nicht, sondern nannte den Frauen, die ihn Beide nicht kannten, seinen Namen.

„Egelmann? Deine Pathe, Agnes!“ rief die Mutter. „Ja, Herr Baron, das ist ein alter Freund meines Mannes, den er auf viele Meilen weit zu Gevatter gebeten hatte, als dies kleine Wurm getauft wurde – er konnte nicht kommen, steht aber mit im Kirchenbuche – verzeihen Sie, Herr Baron, wenn ich meine Schuldigkeit als Wirthin thue –“

„Ich werde Sie begleiten,“ sagte Dießbach. – Agnes blieb zurück.

„O!“ brummte der Oberamtmann halblaut noch auf dem Wagen zu seinem Freunde, als er hinter seiner Frau die auffallende, ihm fremde Gestalt erblickte. „Wen haben wir denn hier?“

„Stille!“ raunte ihm Egelmann zu. „Das ist der Herr von Dießbach von der Rinkenburg. Kennst Du ihn noch nicht und seine Frau Mutter? Da kann ich Dir Geschichten erzählen!“

Sie stiegen aus und der Oberamtmann begrüßte Dießbach mit jener ungezwungenen Offenheit, welche Landbewohnern eigen ist und etwas Wohlthuendes hat; er war ein praktischer Mann von wenig Formen, das bemerkte Dießbach gleich nach den ersten Worten, durch welche er sein Hiersein erklärte.

„Mit mir über eine Angelegenheit sprechen?“ erwiederte Siebling. „Kommen Sie. Keine Umstände. Geniren muß man sich auf dem Lande nicht. Lache nur, Du alter Komplimentarius!“ wandte er sich an seinen Freund Egelmann, der bis jetzt vergebens gesucht hatte, seine Verbeugung bei Dießbach anzubringen, und in diesem mißglückten halben Versuchen unendlich komisch aussah.

Jetzt schien Dießbach den langen, spitzköpfigen Mann erst zu bemerken. „Ah, Herr Egelmann!“ sagte er mit frostiger Vornehmheit, während er gegen Siebeling frank und zuvorkommend gewesen war.

„Gehorsamster Diener, mein Herr von Dießbach!“ verneigte sich nun Egelmann. „Wohl auf? Und auch die Frau Mutter, wenn ich mir unterthänigste Nachfrage erlauben darf? Der Herr Bruder sind auch hier, ich habe ihn neulich gesehen, als er durch Ballenstedt ritt, um unserm gnädigen Herzog die Aufwartung zu machen. Roth und goldene Schnüre und die prachtvolle, von Gold starrende Zipfelschabracke mit dem Stern, und die schöne Pelzmütze – alle Fenster wurden aufgerissen und die Mädchen hätten Sie hören sollen: schlank wie eine Tanne gewachen –“ hier erschrak der höfliche Mann und biß sich auf die Lippe, denn konnte das der verwachsene Bruder nicht für eine malitiöse Anspielung auf seine eigenen unglückliche Figur halten?

„Wir glauben’s Dir!“ sagte Siebeling. „Die Mädchen sind auf buntes Tuch wie toll. Kommen Sie, Herr von Dießbach – Sie haben mit mir zu reden. Nimm meinen alten Egelmann unter Deine Flügel, Frau, bring’ ihn zu Agnes, daß sie ihren Pathen kennen lernt!“ Er reichte Dießbach seine große, wetterbraune Hand, welche nur bei feierlicher Gelegenheit mit Handschuhen belästigt wurde und führte ihn in seine eigene Stube, aus welcher ihnen trotz der vielstündigen Abwesenheit des Bewohners noch ein durchdringender Tabacksgeruch entgegen strömte. Vom Lehnstuhl, der an einem altfränkischen Schreibschranke stand, sprang ein krummbeiniger Dachshund und fuhr den Fremden mit heftigem Gebell an, wurde aber von seinem Herrn mit einem Fußtritt zur Ruhe gebracht und aus der Stube geworfen.

„Setzen Sie sich!“ sagte Siebeling und kehrte den Lehnstuhl nach dem Gaste. „Ohne Umstände! Eine Cigarre gefällig? Es spricht sich besser.“

Dießbach dankte und hatte seinen Entschluß gefaßt. Jetzt, wo dieser Herr Egelmann im Hause war und jedenfalls gleich nach seiner (Kuno’s) Entfernung den Inhalt seines Gesprächs mit dem Oberamtmann erfahren mußte, jetzt konnte Dießbach nicht besprechen, was ihn eigentlich hergeführt. Er hatte daher schon einen andern Grund gefunden.

„Sie werden es vielleicht von Ihrem Standpunkte aus nicht begreifen, wie ich zu der Anfrage komme, die ich Ihnen thun will,“ begann er. „Es verlautet in der Gegend, daß die alte Warte hier oben abgetragen, und ihre Quadern anderweitig als Baumaterial benutzt werden sollen. – ist das begründet?“

„Ja wohl, Herr von Dießbach. Es ist genehmigt worden.“

„Auf Ihren Vorschlag, Herr Oberamtmann?“

„Ja. sie wollten Anfangs nicht recht d’ran, aber endlich sahen sie doch ein, daß es vernünftig ist. Was soll das alte Krähennest oben stehen, das gar keinen Nutzen mehr hat?“

„Sie nehmen die Sache nur von der praktisch-ökonomischen Seite und darin mögen Sie Recht haben. Aber sie hat wohl noch eine andere. Es ist doch von Interesse, Denkmäler der Vorzeit zu erhalten, und abgesehen davon, verliert die ohnehin flache und reizlose Gegend dadurch einen Schmuck, der ihr Charakter verleiht, ein Merkmal, weithin sichtbar, einen Ruhepunkt für das Auge.“

„Einen Schmuck?“ wiederholte Siebeling, der nur das eine Wort herausgriff, da ihm sonst Alles ziemlich unverständlich war. „Nun, ich dächte, das alte viereckige graue Ding wäre häßlich genug.“

„Es würde allen Grundbesitzern, deren Familien schon von Alters her hier ansässig gewesen sind, gewiß sehr schmerzlich sein, wenn dies Monument einer gewaltigen Vorzeit vertilgt würde.“

„Ja, ja, aus einer Zeit der Gewalt mag’s sein. Ich habe mir sagen lassen, daß hier oben ein Raubritter gehaust, dessen Nest die Bürger abgebrannt haben – die Warte allein soll stehen geblieben sein. Nun begreife ich aber nicht, Herr von Dießbach, was die jetzigen Grundbesitzer – ?“

„Wir verständigen uns nicht, Herr Oberamtmann, wenigstens nicht von der ideellen Seite. Lassen Sie uns die materielle betrachten. Wenn nun die Bausteine, die Ihnen die Warte liefern kann, taxirt würden, und der Adel der Gegend zahlte Ihnen den Betrag?“

Siebeling lacht laut. „Davon ließe sich eher reden. Ich kann freilich nicht glauben, daß sie so – nehmen Sie mir’s nicht übel, was ich sagen wollte. Aber wenn Sie so viel Geld übrig haben, daß Sie es um nichts und wieder nichts wegwerfen können, so möchte sich die Sache vielleicht machen.“

„Ich werde mit Ihnen weiter Rücksprache darüber nehmen, sobald ich kann,“ sagte Dießbach aufstehend. „Bis dahin wird hoffentlich das Abtragen noch nicht angefangen werden.“

„O nein, vor nächstem Frühjahre baue ich nicht,“ erwiederte Siebeling.

„Unter Ihrem Vorgänger Stargau war auch schon einmal die Rede davon,“ warf Dießbach hin.

„O der!“ sagte Siebeling. „Der fing viel an und führte nichts aus. Nun hat er die Folgen.“

„Wie so? Wissen Sie etwas von ihm? Es geht ihm wohl schlecht?“ fragte Dießbach, die Handschuhe anziehend, im Tone jener Gleichgültigkeit, die nur fragt, ohne wirklichen Antheil zu fühlen.

„Kann nicht anders sein. Ich weiß gar nichts von ihm, er hat sich wohl ganz aus dem Staube gemacht. Verdenk’s ihm nicht; was soll er hier, wo er sonst die erste Violine in der ganzen Gegend gespielt, mit Vieren lang gefahren, ein halb Dutzend Oekonomen hinter sich, wenn er auf’s Feld ritt, immer offene Tafel und große Herren bei sich! Und nun ein Bettelmann – die Leute würden ihn nur auslachen.“

„Leben Sie wohl, Herr Oberamtmann. Auf Wiedersehen!“

Der Oberamtmann drückte ihm kräftig die Hand und verhieß ihm seinen baldigen Gegenbesuch.



VI.

Egelmann hatte es kaum erwarten können, bis sein alter Freund zur Familie zurückkehrte, die Eröffnungen, die er über Dießbach’s Familienverhältnisse zu machen hatte, drückten ihm fast das Herz ab, doch versparte er sie, weil er gern vor einem vollzähligen Auditorium vortrug, und begnügte sich nur mit allerlei [553] geheimnißvollen Anspielungen, welche Frau Siebeling vor Neugier zittern ließen. Als nun der Oberamtmann endlich eintrat, hatte der ballenstedter Krösus vorerst einige Vorwürfe zu bestehen.

„Sage mir, machst Du Geschäfte mit dem Manne, oder willst Du sonst Vortheil von ihm ziehen?“

„Wie so? Wie so, Alterchen? Ich habe noch nichts mit ihm gemacht – der sitzt in der Wolle, der braucht nichts.“

„Nun, was katzenbuckelst Du denn vor ihm? Du bist Dein eigener Herr, lebst von Deinem Gelde, brauchst keinen Menschen und Niemand hat Dir was zu sagen und doch machst Du einen krummen Buckel, wie ein Neujahrsgratulant. Schäme Dich, Kerl!“

„Ei, man hat auch Lebensart. Aber es hat noch eine andere Bewandtniß – man muß dem Teufel ein Licht anstecken,“ setzte er geheimnißvoll hinzu.

„Stecke Dir nur erst eine Pfeife an! Agnes! Das bietet ihm nicht einmal eine Pfeife an – nicht wahr, keinen Tabaksrauch mehr vertragen, seit Du von der hohen Schule gekommen bist? Ich wollte, ich hätte etwas Klügeres gethan als das Mädel in die Pension zu geben!“

„Aber, Mann!“ rief Frau Siebeling. „Bildung ist doch die Hauptsache, und auch ein Landwirth weiß sie heut zu Tage zu schätzen. Laß lieber Herrn Egelmann erzählen, warum er den Baron einen Teufel nennt – etwas graulich kann er Einem mit seinen Augen schon machen, ich habe mich ein paar Mal vor ihm gefürchtet.“

„Ja, verehrteste Frau Oberamtmann, da sollten Sie erst seine Mutter sehen! Das ist eine große, stattliche Dame, sieht aus, wie eine Fürstin, und doch überläuft Einem ein kalter Schauder, wenn man in ihre Nähe kommt.“

„Sagen Sie!“ rief Frau Siebeling dringend und rückte sich in angenehmster Erwartung, etwas recht Schauerliches zu hören, in ihrer Sophaecke zurecht.

„Aber – wir sind doch ganz unter uns?“ fragte Egelmann, indem er sich nach der Thüre umsah. „Es kann uns doch von draußen Niemand belauschen?“

„Kein Mensch!“ versicherte Frau Siebeling dringend.

Herr Egelmann steckte seinen spitzen Kopf zwischen die Gruppe der gespannten Zuhörer und wisperte. „Sie hat ihren Mann vergiftet!“

Frau Siebeling schnellte vor Entsetzen hoch auf, der Oberamtmann brummte.

„’St! Ganz stille!“ flüsterte Egelmann. „Natürlich darf man davon nicht reden – wo kein Kläger, ist auch kein Richter, wer kann’s ihr beweisen? Eine Obduction, will sagen, eine Oeffnung der Leiche hat nicht Statt gefunden, der plötzlich verstorbene Mann ist ebenso plötzlich beerdigt worden, es hieß, wegen der Sommerhitze, und nun ist schon zwanzig Jahre Gras darüber gewachsen, aber die Sache hat ihre Richtigkeit, in der ganzen Gegend war nur eine Stimme darüber, und die besten Bekannten haben sich von der schrecklichen Frau zurückgezogen.“

„Das ist ja entsetzlich!“ seufzte der Oberamtmann.

„Alter,“ sagte Siebeling, „ich finde es viel schlimmer, daß solche Beschuldigung ohne Beweise aufkommen kann. – Was ist der Grund? Hat Jemand die Zeichen von Vergiftung gesehen? Wie ist er gestorben? Was hat die Leiche für Spuren gezeigt? Dienstboten können nur das Geträtsch unter die Menschen gebracht haben, und die arme Frau weiß am Ende gar nicht, daß man ihr eine solche Scheußlichkeit zur Last legt.

„Erlaube doch, Alter, ich will Euch ja Alles erzählen,“ – sagte Egelmann. „Der alte Dießbach war ein ganzer Herr, so recht, was man einen Cavalier nennt. Wenn Ihr sein vollkommenes Ebenbild sehen wollt, hier war es vor einer Viertelstunde – natürlich ohne den Auswuchs an der Schulter, denn der alte Herr war gewachsen wie ein Eichbaum. Die gnädige Frau, wenn ich vorher sagte, daß sie wie eine Fürstin aussieht, so meine ich damit nicht, daß sie von vornehmer Geburt war, im Gegentheil, sie ist die Tochter eines Seidenhändlers.“

„Deshalb mögen sich wohl die Herrschaften nach dem Tode ihres Mannes von ihr zurückgezogen haben,“ äußerte Frau Siebeling. „Sie thun der armen Frau Unrecht, bester Herr Egelmann, und ich möchte sie schon sehen. Wie müssen doch bald unsere Visite auf der Rinkenburg machen, nicht wahr, Männchen?“

„Laß ihn doch erst ausreden,“ sagte der Oberamtmann. „Wie lebten sie denn zusammen?“

„Na, darüber hörte man so Allerlei. Der alte Herr war schon einmal verheirathet gewesen, eine ganze Portion von Jahren älter als sie, aber er hielt ihr, obgleich er sie doch aus Liebe geheirathet hatte, den Daumen auf das Auge, sie durfte im Hause nicht viel mitsprechen. Nun war sie aber schlau und wußte doch immer auf krummen Wegen zu erreichen, was sie wünschte, und ihre rechte Hand dabei ein Frauenzimmer, das sie mitgebracht hatte, denken Sie sich, ein Frauenzimmer, das bei einer Kunstreiterbande gewesen war.“

„I pfui!“ rief Frau Siebeling. „und das duldete der Mann?“

„Ja, das hatte vielleicht auch seine eigene Bewandtniß, man ist nicht recht dahinter gekommen. Kann sein, daß es übrigens pures Mitleid war und er nur die unglückliche Creatur aus ihrem Elende gerettet und bei sich aufgenommen hat. Es war ein resolutes Weib und ihrer Herrschaft blind ergeben, wie man’s nicht so leicht wieder findet. – Sehen Sie, die Ehe hatte so eine lange Reihe von Jahren gedauert, gnädige Frau waren auch nicht mehr die Jüngste, als auf einmal in der Gegend ein Gemunkel ging – werde nicht ungeduldig, Alter! wer kann dafür – ein Gemunkel, sag ich, daß sich Herr Stargau um sie niedlich mache.“

„Stargau?““ rief der Oberamtmann. „Unser Stargau?“

„Ja, derselbige. O, verehrteste Freundin, den hätten Sie damals sehen sollen. Es war nur ein kleines Männchen, aber sehr angenehm von Exterieur, feine Manieren, cordial mit den Vornehmsten, bei den Damen insinuant, ich sage Ihnen, sie rissen sich nach ihm –“

„Pfui!“ sagte Frau Siebeling wieder und warf einen Blick auf ihre Tochter, welche schweigend mit gesenkten Augen zuhörte.

„Allerdings pfui, das meine ich auch,“ bestätigte Egelmann. „Absonderlich, wenn man verheirathet ist und einen erwachsenen Stiefsohn hat. Die Sache galt denn bald in der ganzen Gegend für richtig, und wie die Menschen nun einmal ohne Grundsätze sind, sie verdachten’s der Frau nicht, die doch am Ende mit ihrem alten, grämlichen Manne nicht glücklich sein konnte. Der war denn auch, wie es immer in der Welt geht, der Einzige, der nichts davon merkte, bis an sein Ende oder vielleicht, bis kurz vor seinem Ende, denn es hieß, er habe das Paar einmal in einem heimlichen Lauscheplätzchen im Gebirge, wo die Dießbach’s ein Sommerhaus haben, überrascht und – das sei eben sein Ende gewesen, lebendig hat er das Haus nicht wieder verlassen. Eine Kalteschaale, hieß es, sei ihm dort mit Gift eingerührt worden

„Siehst Du? Siehst Du, Euer Altweibergeklatsch, des Nächsten Ruf und Ehre zu zerreißen?“ rief der Oberamtmann hitzig und schlug auf den Tisch, daß die Frauen zusammenfuhren. „Mag’s mit dem Stargau wahr sein oder nicht, wer weiß das von der Kalteschaale? Der Mann hat auf die Hitze und den Aerger sich den Tod getrunken, da braucht kein Gift drin gewesen zu sein!“

„O nein, braucht nicht!“ erwiederte Egelmann kaltblütig. „Aber da war ein gewisser Staub hier, ein toller Kerl, dem der Stargau zu seinem Unglück zu viel anvertraute, die Schlüssel zum Kornboden und zu Allem ließ, die Kassenabschlüsse übertrug, kurz sein Factotum. Dem hat es Stargau in einer bösen Stunde einmal selbst gesagt, und von dem weiß ich’s –“

„Und von Dir die ganze Gegend!“ rief der Oberamtmann mit zornrothem Angesicht.

Egelmann zuckte die Achseln. „Glaube doch nicht, daß ich – dieser Staub hat es auch Andern erzählt, warum nicht?“

„Aber was denn? Wie ist es denn zugegangen?“ forschte Frau Siebeling eifrig.

Genaues hat man darüber nie erfahren, auch Stargau hat darüber nur in einer Anwandlung von Gewissensbissen, nicht allzu lange ehe es mit ihm hier auf die Neige ging, so ungefähre Andeutungen gegen seinen Staub gemacht, die sich dieser, ein pfiffiges Haus, erst ausgelegt hat. Kurz, der Dießbach ist nach dem Trunke gleich krank geworden, und weil blos seine Frau und die schwarze Nina, so hieß die alte Bereiterin, bei ihm gewesen, ohne ärztliche Hülfe nach einer halben Stunde verstorben. Sie haben ihn dann eingeschlossen, kein Mensch hat zur Leiche gedurft, nicht einmal der Tischler, der zum Sarge Maaß nehmen wollte, die schwarze Nina hat Alles besorgt, und wie er hat hineingelegt und begraben werden sollen, ist ihm das Gesicht zugedeckt gewesen, und der Pfarrer [554] hat nicht einmal am offenen Sarge die Leichenpredigt halten dürfen, sondern erst in der Erbgruft, wo er hingefahren worden ist bei verschlossenem Deckel. Das Sommerhaus im Gebirge aber ist zugemauert worden und noch bis aus diesen Tag hat kein Mensch wieder einen Fuß hinein gesetzt.“

Er schwieg und sah seine Zuhörer nach der Reihe an, des Eindrucks gewiß, den er hervorgebracht hatte. Alle schwiegen ebenfalls, es waltete eine lange Stille im Zimmer.

„Und was noch?“ fragte endlich der Oberamtmann mit gerunzelter Stirn.

„Ja, Alterchen, was willst Du noch wissen? Der Mann war todt, ein paar Monate darauf wurde noch ein Söhnchen geboren, das war der bildhübsche Husar, der seinem Vater und Bruder so gar nicht ähnlich sieht –“

Wem sieht er ähnlich?“ fragte Frau Siebeling rasch, aber ihr Mann ballte schon wieder die Faust, um vor Aerger über die boshafte Insinuation auf den Tisch zu schlagen.

„Seiner Mutter, verehrteste Freundin, nur seiner Mutter,“ antwortete Egelmann beschwichtigend. „Wenigstens glaube ich es, denn wem sollte er sonst ähnlich sehen? Es giebt jedoch Exempel von Beispielen, daß Kinder ihren Großeltern ähnlich werden, und so könnte es wohl möglich sein, daß der schöne Husar seinem Großpapa, dem Seidenhändler –“

„Hör’ auf, ich bitte Dich!“ unterbrach ihn der Oberamtmann mit dröhnender Stimme, indem er aufstand und seinen Stuhl heftig zurückstieß. „Von der ganzen dummen Geschichte will ich kein Wort mehr hören, uns geht sie nichts an. Ich kann’s nicht leiden, wenn man andere Menschen mit Koth wirft – das thun Gassenbuben, Egelmann. – Ist es nicht Zeit zum Abendbrot, Frau? Sind die Knechte schon herein? Ich bin selber ganz verdreht im Kopfe geworden.“

Damit war die Sitzung aufgehoben, und Frau Siebeling, welche gern noch mehr über die interessante Geschichte gehört hätte, durfte nicht wagen, Herrn Egelmann zu weitern Mittheilungen zu veranlassen. Dieser war sehr betreten, daß er den Unwillen seines alten Freundes auf sich gezogen hatte – wie mußten ihm auf dem Heimwege nach Ballenstedt die Ohren klingen! Hätte er nur hören können, was der Oberamtmann über ihn äußerte!

„Was ist aus diesem Menschen geworden!“ rief er einmal über das andere. „Der soll mir wieder kommen!“

Kuno von Dießbach war unterdessen in finsterer Stimmung den Bergen zu gefahren. Mochte er ahnen, daß nach seiner Entfernung durch Egelmann, den er wohl kannte, die düstere Vergangenheit seines Hauses zur Sprache kommen werde? Gleichviel! Er trotzte ihr, er war ja auch im Begriff, sie wieder herauf zu beschwören. Licht mußte er hineintragen, und wenn er durch die Fackel, die er anzuzünden im Begriff stand, das ganze Haus in Brand setzen sollte! Lange genug hatte er die schwüle Luft geathmet, endlich mußte er es zur Entscheidung bringen!

„Sind das nicht Schafe dort drüben?“ fragte er auf einmal den Knecht, der hinter ihm saß, mit der Peitsche nach einem grauen Strich auf der Flur in ziemlicher Entfernung zeigend.

„Das wird der alte Klupsch sein, der dort hütet – er nimmt immer die Grenzraine mit,“ sagte der Knecht.

Kuno hatte eigentlich im Sinne gehabt, den Schäfer Klupsch zu sprechen, jetzt gab er es aber auf und eilte nach Hause zu kommen; im Wirthshause des Dorfes wartete ja Einer auf ihn, der ihm viel wichtiger war. Er fand ihn auch schon am Eingange der ersten Häuser, wo er die Hände auf dem Rücken, lungernd auf und ab ging und tiefsinnige Betrachtungen über seine schadhaften Stiefeln anzustellen schien, denn er blickte vor sich nieder und hob den Kopf nicht eher, als bis Dießbach’s Wagen ganz in seiner Nähe war. Da schwenkte er wieder lustig seinen alten Filz und ging ihm entgegen.

Kuno ließ halten, stieg ab und befahl dem Knecht, nach dem Schlosse hinaufzufahren, er werde zu Fuß nachkommen. „Nun, Herr Staub,“ wandte er sich dann zu dem schiffbrüchigen Oekonomen, „Ihnen scheint es schlecht gegangen zu sein.“

„Es geht mir noch schlecht, Herr von Dießbach,“ erwiederte der Mann. „Wenn Sie mir doch eine Condition verschaffen könnten?“

„Warum haben Sie denn Ihre gute Stelle in Sanct Pankraz aufgegeben?“ fragte Dießbach.

Staub zwickerte schlau mit den Augen. „O, stellen Sie sich doch nicht, Herr von Dießbach, als ob Sie nicht wüßten, daß ich nicht meine Stelle, sondern daß meine Stelle mich aufgegeben hat – gemein ausgedrückt, daß ich fortgejagt worden bin.“

„Man sprach davon,“ erwiederte Dießbach kalt, „ich konnte es indessen immer nicht glauben. Sie besaßen Stargau’s volles Vertrauen, und da er doch auch seine schwachen Seiten hatte, so war es mindestens unklug von ihm, sich mit Ihnen, der alle seine Verhältnisse kannte, zu überwerfen. Es macht Ihnen alle Ehre, daß Sie sich nicht an ihm gerächt haben.“

Staub zuckte die Achseln und sagte: „Was hat man davon? Freilich eben so wenig von der Großmuth! – Wollen Sie mir eine Condition verschaffen, gnädiger Herr?“

„Ich könnte vielleicht für Sie sorgen,“ versetzte Dießbach. – „Warum sind Sie denn eigentlich wieder in unsere Gegend gekommen, die Ihnen vielleicht unangenehme Erinnerungen weckt?“

„O nein, sehr angenehme! Was habe ich hier fidel gelebt! Nun, ich wußte nicht, daß Stargau schon so rasch um die Ecke gegangen ist, ich dachte ihn noch zu finden, und er war der Mann nicht, Einem lange etwas nachzutragen oder gar einen armen Kerl im Peche sitzen zu lassen –“

„Sie stellen ihm da ein gutes Zeugniß aus!“ bemerkte Dießbach mit einem finstern Blicke.

„Ja – bis auf die letzte Geschichte, wo er es mit meinen Rechnungen etwas zu genau nahm, kann ich nicht über ihn klagen. Sie sehen sehr unwillig aus – mit Ihnen ist das freilich ein anderer Fall.“

Dießbach warf ihm einen stolz zurückweisenden Blick zu, der aber auf den Frechen seinen Eindruck ganz verfehlte, im Gegentheil machte sich auf seinem Gesichte ein lauerndes Lächeln bemerkbar. „Gnädiger Herr, Sie werden mir’s nicht verdenken – ich bin kein Schaf, bin vielmehr, wie man sagt, mit allen Hunden gehetzt. Sie wollen etwas von mir wissen und gehen dabei, Euer Gnaden verzeihen mir die pöbelhafte Rede, wie die Katze um den heißen Brei. Fragen Sie doch geradezu, und wenn Sie für mich sorgen wollen, so bin ich Ihr Mann. Was hilft das lange Sondiren – auf diese Weise lasse ich mir nichts herausspinnen.“

Bei diesen Reden überfiel den stolzen Gutsherrn plötzlich eine brennend heiße Scham, daß er sich so weit erniedrigt habe, von dem verlorenen Menschen durchschaut zu sein. Er mußte einlenken um jeden Preis, sollte auch darüber das glühende Verlangen, das ihm keine Ruhe mehr ließ Tag und Nacht, ewig ungestillt bleiben. „Herr Staub,“ sagte er mit frostiger Gelassenheit, die er nur mühsam fest hielt, „ich will allerdings von Ihnen etwas wissen, und wenn ich nicht geradezu fragte, so war es nur aus Schonung für Sie selbst. Wenn ich Ihnen eine Stelle verschaffen soll, so ist es gewissermaßen eine Bürgschaft, die ich für Sie leiste. Ich bin es mir selbst schuldig, daß ich sicher gehe, um meine Verwendung bei Ehren zu erhalten. Also rund und klar die Frage: Können Sie über die Zeit Ihrer Entfernung aus hiesiger Gegend gute Zeugnisse aufweisen?“

Staub hatte zuerst etwas ganz Anderes erwartet und sah Dießbach, als er diese Wendung nahm, zweifelhaft an, indessen hatte sich dieser zu sehr in der Gewalt, als daß es ihm nicht gelungen wäre, Jenen wenigstens für den Moment zu täuschen. Da es nun so kam und ihm gewissermaßen das Messer an die Kehle gesetzt wurde, faßte er einen desperaten Entschluß und setzte, wie er als leidenschaftlicher Spieler oft genug gethan, Alles auf eine Karte. „Ich habe als freier Mann gelebt,“ sagte er, „von wem hätte ich also ein Zeugniß gebraucht? Meine Paßkarte kann ich Ihnen zeigen, sie ist in Richtigkeit für das laufende Jahr, ohne eine solche ließe mir ja die löbliche Polizei nicht eine Stunde die eigene Wahl meines Aufenthalts. Wollen Sie aber ein Zeugniß für mich durchaus haben, so wenden Sie sich an Ihre Frau Mutter, die wird mir schon eins ausstellen.“

[563] Dem Dießbach war es bei dieser grenzenlosen Frechheit, als werde er von dem Stich einer giftigen Schlange getroffen, doch ließ er sich von seinem Gefühl nicht überwältigen, sondern fragte mit dem Schein der Verwunderung:

„Meine Mutter? Weiß meine Mutter um Ihre Schicksale?“

„Bitte gehorsamst – erkundigen Sie sich nur nach mir. Ich will nicht vorgreifen.“

„Das Zeugniß meiner Mutter würde allerdings jedes andere aufwiegen,“ sagte Dießbach, konnte aber in diesem Augenblicke doch das Beben seiner Lippen nicht beherrschen, und Staub’s spähendes Auge hatte es gleich bemerkt. Er rieb sich vergnügt die Hände und rief:

„Gnädiger Herr, Ihre Frau Mutter kann mich nicht im Stich lassen, denn was Sie auch von meiner Großmuth und Verschwiegenheit denken mögen, Alles hat seine Grenzen.“

„Was soll das heißen?“ rief Dießbach heftig.

„Daß ich Stargau’s intimster Vertrauter gewesen bin und folglich Ihrer Frau Mama –“

Er konnte nicht vollenden, denn Kuno’s Seelenkraft war endlich erschöpft, der Vulkan, der in seiner Brust getobt hatte, ließ sich nicht länger in seinem Ausbruche hemmen. Alle Selbstbeherrschung in der ungezähmten Leidenschaft verlierend, der in diesem Momente Alles gleichgültig war, wenn er auch Vernichtung über sich und sein Haus heraufbeschwor, faßte er den Elenden, der es wagte, ihm das in’s Angesicht zu sagen, mit nerviger Faust bei der Brust, warf ihn zu Boden, und rief mit donnernder Stimme:

„Das ist Dein letztes Wort, Nichtswürdiger!“

Staub regte sich nicht, er lag auf seinem Gesicht, alle Glieder schlaff gelöst, wie ein Sterbender.

Schon hatte Kuno in seiner blinden Wuth den Fuß gehoben, um ihn schwer auf den Nacken des Elenden zu setzen, als der Anblick seines bewußtlosen Opfers ihn zur Besinnung brachte. Er athmete hoch auf, als wolle er die Felsenlast, die ihm auf der Brust lag, abwälzen, beugte sich schnell über den Gefallenen und wandte ihn um. Staub hatte allerdings von dem Schreck des jähen Anfalls, wie von dem harten Niederwerfen, das Bewußtsein verloren, Blutstropfen entquollen seiner Stirn - aber er schlug eben die Augen wieder auf und heftete sie mit einem trübseligen, angsthaften Blicke auf den, der über ihm stand. Durch und durch eine feige Natur, wo seine Feigheit gewaltsam abgefertigt wurde, war er auf einmal wie verwandelt.

„Lieber gnädiger Herr!“ stammelte er in demüthig bittendem Tone.

Kuno half ihm, ohne ein Wort zu sagen, aufstehen, reichte ihm sein Taschentuch, sich das Blut zu stillen, zog seine Börse und gab ihm, noch immer schweigend, ein funkelndes Goldstück. Es war für Staub die größte Erniedrigung, aber seine Seele war über dergleichen Gefühle längst hinweg. Gebettelt auf allen benachbarten Gutshöfen, wie er schon seit zwei Tagen hatte, war ihm der Anblick des Goldes ein Balsam, der ihn augenblicklich Mißhandlung und Schmerz vergessen ließ, selbst seinen Vortheil, und er konnte nichts thun, als sich in kriechender Weise bedanken.

„Wehe Ihnen,“ sagte Dießbach, „wenn Sie je wieder eine solche Anspielung wagen sollten – gleichviel, gegen wen! Ich will nicht den Unwissenden spielen: ja, Herr, ich kenne die ehrlose Verleumdung, gegen welche sich, wenn sie heimlich die Runde läuft, und nicht offen an das Tageslicht tritt, kein Mensch, auch vom reinsten Charakter, schützen kann. Diese Infamie ist das Werk Ihres alten Herrn und Genossen, und Sie haben sich willig dazu hergegeben, sie zu verbreiten. Danken Sie Gott, daß ich den Moment, der Sie jetzt in meine Hand gab, nicht benutzt habe, den Wurm zu zertreten, der es gewagt hat, sein Gift auf mein Haus zu spritzen. Aber ich schwöre Ihnen, daß keine Entfernung, nicht dreifache Riegel Sie vor der Vernichtung schützen sollen, wenn je wieder auch nur die leiseste Andeutung davon über Ihre Lippen kommt.“

Die furchtbare Drohung, unterstützt durch Kuno’s mächtige Gestalt und die flammende Wetternacht seines Auges, ließ Staub zittern. Er legte betheuernd die Hand auf die Brust.

„Demungeachtet,“ fuhr Dießbach gemäßigter fort, will ich Sie nicht im Elende lassen, da ich Ihnen einmal Hoffnung gemacht habe. Sie können hier in Rinkleben nicht bleiben, aber halten Sie sich in der Stadt noch einige Tage auf, bis Sie von mir gehört haben. Ich werde Sie im goldenen Ringe aufsuchen lassen.“


VII.

Es war spät, als Kuno den Schloßberg erstieg er hatte sein heißes Blut erst noch durch eine weite Wanderung abkühlen, hatte Vieles erwägen und prüfen, alte Pläne verwerfen und neue fassen müssen, ehe er vor das Antlitz seiner Mutter treten konnte: nicht als Sohn, sondern als Richter, zu welchem er sich aufgeworfen hatte. – Sie war nicht daheim, er hörte, daß sie Nachmittag, bald nachdem er weggefahren sei, mit seinem Bruder einen Spaziergang [564] unternommen habe, der nach ihrem Ausbleiben sehr weit ausgedehnt worden sein mußte. Kuno war zufrieden damit, sie heut nicht mehr zu sehen – noch war nicht Alles reif und er konnte so vollenden, was er im Sinne hatte. Er zog sich auf sein Zimmer zurück, ließ sich, als man ihm die Heimkehr der Beiden meldete, bei der Abendmahlzeit mit Unpäßlichkeit entschuldigen, und öffnete auch Guido seine Thüre nicht, als dieser vor Schlafengehen kam, sich nach seinem Befinden zu erkundigen.

„Ich liege schon zu Bett,“ rief er ihm zu, „Mir wird Morgen wieder ganz wohl sein.“

Mit dem frühesten Strahle des Tageslichts verließ er, ein Doppelgewehr über die Schulter geworfen, von seinem Jagdhunde begleitet, die Rinkenburg. Am Thore warf er noch einen Blick nach den Fenstern des Hauptgebäudes, vor denen seines Bruders, der gern lange schlief, waren noch die Windrouleaux herabgezogen; hinter der Gardine des Schlafkabinets seiner Mutter glaubte er aber ihre Gestalt im weißen Nachtkleide zu bemerken: er wußte, daß sie immer sehr früh aufstand.

Hinter der Schloßhöhe gleich, in dem Querthale, das die Reihe der Vorhügel von den ersten Stufen des Gebirges scheidet, führte eine grüne Schlucht mit einem Fußpfade in die Berge hinein. Kuno verfolgte den letzteren, der ziemlich breit ausgetreten war, weil er zu den Blochhauern oben im Tannenhorst ging; von ihm trennten sich aber bald mehrere andere, die zu Hämmern und Hüttenwerken in anderen Theilen des Gebirges führten; es gehörte Sicherheit dazu, sich hier nicht zu verirren, Kuno war aber nie zweifelhaft über die Wahl, und befand sich zuletzt auf einer schmalen Spur, die sich nur, weil sie einst hartgetreten war, durch ihren kürzeren Graswuchs auszeichnete. Wie lange war Kuno diesen Pfad nicht gewandelt und, so schien es wenigstens, kein Mensch sonst!

Immer beschwerlicher wurde der Steig, immer enger und klippenreicher die Schlucht, zuletzt verschwand alles Grün von den Seitenwänden, die nun blos nacktes, zerklüftetes Gestein boten. Endlich war der obere Ausgang erreicht, eine schmale Felsspalte, kaum für einen Mann zu passiren und durch überhängende Blöcke, die dem Einsturz zu drohen schienen, obenein gefährlich. Wenn Kuno sich dachte, daß all diesen Beschwerden und Gefahren einst ein zarter Fuß getrotzt haben sollte, so war das bittere, feindselige Lächeln, das auf seine Lippen trat, wohl erklärlich. Er bückte sich und trat durch das Felsenthor in’s Freie. Vor ihm lag sein Ziel, der Kessel des dunkeln, einsamen Thales, in welchem das Haus mit den drei Erkern lag, das sein Großvater, wie er wußte, für seinen Jagdaufenthalt gebaut und die Eremitage genannt hatte. Hochklopfenden Herzens spähte Kuno nach Zeichen, ob es wirklich bewohnt sei, aber keine Rauchsäule kräuselte sich von seinen drei Schornsteinen in den klaren Morgenhimmel hinauf, kein menschliches Wesen Wesen ließ sich sehen, keine sonstige Spur von Leben bemerken: Alles war still und todt, wie er es noch gestern nicht anders erwartet hätte, ehe Guido mit seinem Abenteuer ihm das Gegentheil bewiesen.

Er näherte sich dem Hause – sein Hund stand und witterte, fing auch zu knurren an, und Kuno begrüßte diese Zeichen schon mit einer wilden Freude. Das kurze Gebell, welches das Thier anschlug, stillte er durch strengen Zuruf und eilte der Thür zu, die allerdings nicht mehr vermauert, sondern mit ziemlich neuem Holz wieder eingehängt war. Doch fand er sie verschlossen; vergebens klopfte und rief er; Niemand gab ihm Antwort, kein Laut regte sich im Innern des Gehöftes; offenbar war es in diesem Augenblicke ganz verlassen.

„Sind sie gewarnt worden?“ blitzte es in Kuno’s Geiste auf, und ein Gedanke ließ ihn beben. Hätte er doch gestern statt des unfruchtbaren Ausfluges nach Sanct-Pankraz seinen Fuß lieber ohne Säumen hierher gelenkt! Wenn aber auch die neuen Bewohner der Eremitage gewarnt waren, so brauchten sie deshalb ihr Asyl nicht auf immer verlassen zu haben, sie waren dem Sturme wahrscheinlich blos ausgewichen und kehrten, wenn sie ihn vorüber glaubten, zurück. Vielleicht beobachteten sie ihn in diesem Moment aus irgend einem sicheren Versteck und hohnlachten, wie er so rathlos vor der verschlossenen Thüre stand. Er hatte aber Geduld und konnte warten. In seiner Waidtasche trug er reichlichen Mundvorrath für sich und seinen Hund. Während er noch auf diesen, der mit halbgespitzten Ohren fortgesetzt witterte, herabsah, setzte das Thier auf einmal wüthend an und ließ sich nicht mehr halten. Kuno eilte ihm nach, da es um die Mauerecke schoß und gleich darauf sich ein grimmiges Doppelgebell hören ließ – er fand seinen Hund im Kampfe mit einem andern, der stark und zottig wie ein Wolf anzusehen war. Schon riß er das Gewehr von der Schulter, um seinen Hund von den Zähnen des stärkern Gegners, der ihn in das Genick gepackt hatte, zu befreien, als ein gellender Pfiff erscholl, der fremde Hund augenblicklich losließ und vor Dießbach ein alter, hagerer Mann stand, den er auf den ersten Blick für den Schäfer Klupsch aus Sanct-Pankraz erkannte.

„Was habt Ihr hier zu suchen?“ fuhr er ihn aufgeregt an.

„Halten zu Gnaden“ – antwortete der Schäfer, vor dem ihm wohlbekannten Herrn den Hut ziehend – „ich habe einen Richtweg genommen –“

„Wißt Ihr nicht, daß ich keinen Weg hier dulde?“

„Es steht keine Tafel draußen,“ antwortete der Schäfer, ohne sich einschüchtern zu lassen.

„Ich weiß aber, was Ihr hier sucht – und Ihr sollt mir’s gleich gestehen. Ihr habt Euren gewesenen Herrn hier aufgesucht – leugnet es nicht, ich weiß, daß er hier wohnt.“

„Nun, wenn Sie es wissen, gnädiger Herr,“ erwiederte der ehrliche Schäfer, der keine Ahnung hatte, daß er nur in eine Falle gegangen war, „warum schimpfen Sie mich denn aus?“

Dießbach bedurfte Zeit, um sich von der Gewalt dieser Gewißheit, die ihm so plötzlich geworden war, nicht übermannen zu lassen: einem Andern, als dem einfachen Alten, der ihm hier gegenüber stand, wäre der Seelenkampf nicht entgangen, den er in diesem Augenblicke bestand. Der Schäfer wartete aber geduldig und beschwichtigte nur immer seinen Hund, der mit glühenden Augen den unausgefochtenen Strauß wieder anzufangen lechzte.

„Ich will nicht,“ sagte Dießbach endlich nur vor Aufregung bebender Stimme, „daß mein Haus zu einer Schmiede böser Anschläge werde – was kann Euch herführen, da Ihr mit Stargau nichts mehr zu theilen habt, wenn er Euch nicht selbst hergerufen hat, um Ränke zu spinnen zum Nachtheil Anderer, die er um das Ihrige gebracht?“

„Sie doch nicht, gnädiger Herr,“ versetzte der Schäfer.

„Mich nicht!“ antwortete Dießbach stolz. „Das versteht sich von selbst. Aber Andere. Was habt Ihr also vor mit ihm? Ich bin im Recht, darnach zu fragen.“

„Das sind Sie, gnädiger Herr,“ sagte der Schäfer, indem er sich die grauen Haare zurückkämmte. „Aber fragen Sie nur Herrn Stargau selber. Ich kann Ihnen weiter nichts sagen.“

„Wann kommt er zurück?“ fragte Kuno rasch.

„Ich weiß gar nichts, bin auch eben gekommen – und habe mich gewundert, daß Niemand zu Hause ist.“

„Nicht einmal die Alte!“ sagte Kuno. „Und das junge Mädchen auch!“

„O!“ versetzte der Schäfer treuherzig. „Der Kleinen bin ich unten begegnet, sie ging mit dem Jungen nur auf der andern Seite der Schlucht und was sie mir zurief, habe ich nicht recht verstanden: aber so viel hörte ich, daß ich bis zum Abend warten soll.“

„Ich kann diese Zusammenkünfte nicht dulden!“ sagte Dießbach. „So lange der Mann sich still und verborgen hielt, konnte man ein Auge zudrücken – nun er sich aber bemerklich macht, soll es nicht heißen, daß ich sein Hehler gewesen bin. Geht also in Gottes Namen nach Hause, Schäfer, ich werde auf ihn warten, und ihm die Wohnung aufkündigen.“

„Ach, gnädiger Herr, das werden Sie doch nicht thun!“ rief der Schäfer. „Wo soll er denn hin?“

„Das ist nicht meine Sache, ich will die Schande nicht mit ihm theilen, wenn er hier von seinen Gläubigern ergriffen wird. Ihr seid nicht zum ersten Male hier.“

„Zum ersten Male, so lange er hier ist, gnädiger Herr!“ betheuerte der Schäfer. „Er schickte mir erst gestern den Jungen, den Fritze.“

„So! und demnach kennt Ihr die Alte, wie Ihr sagt, und auch das junge Mädchen?“

„Ja, die! Die sind ja schon lange hier, ich sage nicht, daß ich noch nimmermehr hier gewesen bin, nur den Herrn Oberamtmann – Herrn Stargau, wollte ich sagen – habe ich hier noch nicht gesehen.“

„Nichts als Winkelzüge!“ entgegnete Dießbach finster. „Geht Eure Wege, rathe ich Euch, und laßt Euch nicht wieder hier betreffen.“

[565] „Schon recht, gnädiger Herr,“ sagte der Schäfer in der bedächtigen und zähen Manier seines Volksstammes. „Sie können mir Ihren Grund und Boden verbieten und ich muß gehen, aber sehen Sie, dort drüben läuft die Gränze, und wenn ich mich auf dem königlichen Revier hinsetze und dort bleibe, so lange ich will, so kann mir das Niemand verwehren. Guten Morgen, gnädiger Herr.“ Er rief seinen Lustig und ging mit langen Schritten in der bezeichneten Richtung davon.

Dießbach biß sich auf die Lippe, verschmähte aber, den Alten aufzuhalten. Stargau hatte also wirklich hier eine geheime Zuflucht gefunden, und die ehemalige Vertraute seiner Mutter war bei ihm, auch das junge Mädchen, von dem er zuerst durch Guido gehört! ein dunkles Räthsel für ihn, vor dessen Lösung er zitterte! Und außerdem noch mehr Menschen, wie es schien, eine ganze Kolonie von Geächteten! Fester umklammerte er den Schaft seines Doppelgewehrs, das er noch immer in der Hand trug, dann riß er sich gewaltsam aus dem unheimlichen Brüten los, in welchem ihn viel böse Geister heimsuchten, warf die Flinte über die Schulter und sah sich nach einem Ruheplatze um, wo er unbemerkt die Heimkehr der entwichenen Bewohner dieser verfehmten Stätte erwarten konnte. Er fand einen solchen hinter dem Felsenthore, nicht allzu weit entfernt. Wenn sie ihn vielleicht aus einem Verstecke belauscht hatten, so mußten sie, da er denselben Weg zurückging, den er gekommen war, an seine Heimkehr glauben – daß er wiederkommen werde, früh oder spät, daß für sie keine bleibende Stätte hier mehr sei, konnten sie freilich wissen, und so blieb nur anzunehmen, daß sie, eiligst aufgescheucht, keine Zeit gehabt, Anstalten für einen gänzlichen Abzug zu treffen und wahrscheinlich den heutigen Abend und die Nacht benutzen würden, um diesen zu bewirken. Versäumte Kuno also diese Gelegenheit, so war sie ihm unwiederbringlich verloren.

„Was aber, was dann?“ fragte er sich. „Wenn du ihn nun vor dir siehst, den Mörder deiner Ehre? Was gedenkst du zu thun?“ Er hatte sich diese Frage schon mehr als einmal gestellt, ihre Beantwortung aber immer auf das Unbestimmte verwiesen. Heut sah er sich zur Entscheidung gedrängt, er mußte vorher wissen, was er thun wollte, er durfte sich nicht von der Gewalt des Augenblicks treiben lassen - kalt und fest wollte er sein Richteramt, zu dem er sich aufgeworfen hatte, wahrnehmen.

Das war nun bedacht und zur vollen Gestaltung gereift. Eine gewisse Ruhe kehrte in ihm ein, nun er zum Entschlusse gekommen war, er glaubte sich und seiner Ehre, zugleich aber auch seinem Gewissen ein Genüge zu thun, wenn er ihn ausführte.

„Armer Guido!“ sprach er für sich. „Deinen lichten Jugendhimmel muß ich trüben – wie schmerzlich wird es Dir sein, Dein höchstes Ideal in Staub und Graus sinken zu sehen.“

Mit Guido’s Bilde stellte sich zugleich wieder das des unbekannten jungen Mädchens dar, er wußte, daß Nina, wie sich die Kammerfrau seiner Mutter bis in ihr Alter hatte nennen lassen, keine Tochter gehabt, und daß, wenn sie auch nach der Trennung von seiner Mutter noch einmal geheirathet haben sollte, ein Kind dieser Ehe noch nicht erwachsen sein konnte. Wer war also dies junge Mädchen, das sie für ihre Tochter ausgab und das Guido so ähnlich sah? – Stunde auf Stunde verging, Kuno saß geduldig in seinem Hinterhalt; er sah dem Zuge der Wolken nach und folgte dem Sonnenlichte auf den Bergen, zu seinen Füßen schlief der Hund, der zuweilen im Traume jagte. Länger wurden die Schatten, der Herbstwind strich empfindlich kalt durch das Felsenthor, die Sonne verschwand hinter der westlichen Kuppe, und braune Dämmerung wob allmälig ihre Schleier um die Gegend: im dunkeln Thale waltete bald die Nacht.

Jetzt konnte Kuno sicher sein, daß sein Nahen nicht mehr bemerkt werde, daß wohl auch die entwichenen Bewohner der Eremitage zurückgekehrt seien. Er trat in das Felsenthor und sein erster Blick sah unten im Hause ein hell erleuchtetes Fenster. Da lachte eine wilde Freude in ihm auf und er stieg hastig hernieder, so schnell es ihm sein lahmer Fuß irgend erlaubte.

„Entlarven will ich sie ja nur, sie zwingen, ihrer eignen Ehre Genugthnung zu thun!“ sprach er mit bitterer Lust, als er sich seinem Ziele so nahe sah. „Wenn ich ihn in meiner Gewalt habe, dann will ich ihn zu ihren Füßen schleppen und sie zur Anerkennung zwingen, dann aber soll sie es gut machen und mit ihm hinausgehen in die Ferne, wo Niemand uns kennt, die sie geschändet, und hat sie dem Elenden einst ihr Herz geschenkt, soll sie ihm jetzt –“

Da unterbrach ein harter Fall, den er that, seine Gedanken - in der wachsenden Dunkelheit war er mit seinem lahmen Fuße an einem scharfen Steine gestrauchelt, und ehe er sich halten konnte, zu Boden gefallen; er wollte sich aufraffen, sein Auge flog, wie das eines Adlers, der fürchtet, ihm könne die Beute entrinnen, thalwärts: er bemerkte, daß sich noch mehr Fenster in verschiedenen Erkern der Eremitage erleuchteten, dorthin hatte er die gerade Richtung, allerdings die gefährlichste, eingeschlagen. Rasch wollte er aufspringen, da gab das Geröll unter seinen Füßen nach, setzte sich mit wachsender Geschwindigkeit in Bewegung und riß ihn nun gar halsbrechenden Sturzes mit sich in die Tiefe. Laut heulend sprang ihm der Hund nach. All seine wilden Entwürfe waren auf einmal vernichtet.

Bewußtlos lag er unten auf einem Vorsprunge, mehre Klafter hoch über der Sohle des Thalgrundes. Wenige Schritt noch und keine Rettung wäre für ihn gewesen, denn unter dem Vorsprunge starrten zackige Klippen empor, die ihn unfehlbar zerschmettert haben würden. Aber das Geschiebe hatte sich schon vorher in seinem Falle gemäßigt, seine Kraft an einem waagrechten Rasenwalle, der sich um die Thalwand zog, gebrochen, und so blieb der verunglückte Mann, wenn auch schwer verletzt und besinnungslos, doch vor dem Aergsten bewahrt, liegen. Ein Glück, daß auch sein Gewehr sich im Falle nicht entladen und ihn tödtlich verwundet hatte.

In der Eremitage war allerdings wieder Leben erwacht. Ein wirthliches Feuer prasselte in der Küche und die alte Frau, welche wir schon kennen, war geschäftig, eine stark gewürzte Suppe zu kochen, während in der Ecke am Herde der Schäfer Klupsch saß, welcher also, wie er es dem Herrn von Dießbach rundweg erklärt, auf die Rückkehr der Bewohner gewartet hatte und mit mehr Glück, als dieser.

„Wenn wir den morgenden Tag noch für uns haben,“ sagte die Alte, „so ist Alles gewonnen. Heut sind wir sicher, aber morgen müssen wir in aller Frühe fort, denn er giebt so leicht nichts auf, was er sich in den Kopf gesetzt hat, ich kenne ihn schon von Klein auf, er war ein tückischer Junge.“

„Ja, auf Sie mag er einen besondern Zahn gehabt haben,“ versetzte der Schäfer, „da er Ihr doch seinen lahmen Fuß verdankt. Nun, nun, sehen Sie mich nicht so böse an, Sie hat mir’s ja selber gesagt.“

„Konnte man ihn halten? Er biß und schlug ja um sich, wie ein Satan - den konnte der Stärkste nicht auf dem Arme erhalten, es war ein Unglück, daß er gerade auf die Steine fiel und dann einen ungeschickten Chirurgus kriegte.“

„Jemand würde sich auch nicht gegrämt haben, wenn er nicht den Fuß, sondern den Hals gebrochen hätte!“ sagte der Schäfer.

„Meint Er meine gnädige Frau? Sie ist seine Stiefmutter! Wo soll die große Liebe herkommen, wenn der Junge sich immer bös gegen sie benommen hat!“ – Der Schäfer brummte etwas in den Bart.

„Lassen wir die alten Geschichten, ich weiß, Er hat immer etwas gegen meine Herrschaft –“

„Ja, weil sie meinen armen Herrn auf dem Gewissen hat – und wohl noch mehr!“ setzte er murrend hinzu.

Die Alte stieß mit dem Topfe, den sie eben vom Feuer nahm, so ungeschickt an, daß sie beinahe die ganze schon fertige Suppe verschüttet hätte. „Ich wollte Ihm rathen,“ sagte sie mit heiserer Stimme, „Sein Maul zu halten. Was meine Herrschaft mit Seinem Herrn gehabt, das geht Ihm nichts an – Er hat sich oft getraut, drein zu reden, wär’ ich Sein Herr gewesen, ich würde Ihm das gelegt haben. Jetzt ist nichts mehr zu ändern, also beruhige er sich, und wenn der Mond aufgegangen ist, mache Er, daß Er fort kommt und besorge Er den Wagen, wie Ihm aufgetragen ist.“

Der Ton einer hochmüthigen Herrendienerin, welchen die ehemalige Zofe der Frau von Dießbach angenommen hatte, verfing aber gar nicht bei dem alten Schäfer. „Sie spricht sehr einfältig,“ erwiederte er. „Wenn Sie Ihrer Herrschaft so getreulich abgeredet hätte, wie ich meinem armen Herrn, so brauchte er jetzt nicht bei Nacht und Nebel wie ein Dieb davon zu schleichen. Ihrer Frau zu Gefallen thue ich’s nicht, daß ich Helfershelfer bin, aber mein Herr hat mich einmal rufen lassen und ich will nicht, daß es noch mehr Unglück giebt: wir haben so schon genug!“ Er stand auf und sein Hund, der unter der Bank gelegen hatte, sprang gleich hervor, dieselbe beinah umwerfend.

„Erst doch einen Löffel warme Suppe?“ lud ihn die Alte ein.

[566] „Ich danke von Ihr für Alles!“ erwiederte der Schäfer trocken. Die alte Frau konnte kaum mißverstehen, warum er, von ihrer Hand bereitet, nichts annehmen wollte, und sie hätte am Liebsten seine Idee gleich zur Thatsache gemacht. Doch leuchtete sie ihm mit verstellter Freundlichkeit hinaus.

Im Hausflur trat ihm, mit dem Licht in der Hand, ein Mann entgegen, klein und zierlich von Figur, was ihn jünger erscheinen ließ, als er wirklich war, mit einem angenehmen Gesicht, dessen Züge, wenn auch sehr verfallen, etwas Vornehmes hatten. „Hast Du Deinen Hund bei Dir, Klupsch?“ fragte er den Schäfer. „Wahrhaftig, da ist er. Was heult nur draußen so schauerlich? Es ist, als ob ein Todesfall prophezeit würde.“

Der Schäfer horchte an der offenen Hausthüre. Im Thale ließ sich in der That das Geheul eines Hundes hören, es klang in Unterbrechungen, aber so kläglich und auch so wild, daß es Grauen erregen konnte.

„Wollen zusehen, Herr Stargau,“ sagte der Schäfer, der gleich an Dießbach dachte. „Lassen Sie mir eine Laterne anstecken.“

Sein Wunsch war schon erfüllt, das junge blonde Mädchen, Nina’s angebliche Tochter, hatte aus eignem Antriebe bereits die große Stalllaterne angezündet, mit welcher sie, ein Tuch über den Kopf geworfen, erschien.

„Bleib hier, Pauline,“ sagte Stargau – (denn es war wirklich der Vielbesprochene) – mit einem zärtlichen Ausdrucke. „Für Dich ist das nicht.“

„Für mich wohl,“ versetzte das junge Mädchen entschlossen. So schritten alle Drei in das dunkle Thal hinaus, und ein kleiner Bube, der aus irgend einem Winkel im Flur hervorkroch, schloß sich ihnen noch an. Das Geheul des Hundes, von heftigem Gebell unterbrochen, diente ihnen zum Führer.

„Dort oben ist es!“ sagte der Schäfer. „Es muß Einem ein Unglück zugestoßen sein.“

„Hier geht es aber nicht hinauf!“ warnte Pauline. Sie leuchtete vor, und kannte jeden Stein und Strauch so genau, daß sie ihre Begleiter bald auf die Platte des Vorsprungs brachte, wo ihnen Dießbach’s Hund bellend entgegen sprang: der Schäfer hatte den seinigen unterwegs schon an den Strick genommen.

„Wahrhaftig! Ein verunglückter Mensch!“ rief Stargau.

Pauline war vorausgeeilt. Die Laterne auf einen Stein setzend, kniete sie zu dem Gestürzten nieder, der, nach seinem leisen Aechzen zu urtheilen, noch Leben hatte, und in diesem Momente wirklich, wie schon einige Mal das Bewußtsein ihm gleich der Fluth und Ebbe geschwankt, von Neuem die Augen aufschlug. Der volle Lichtschein lag auf Pauline’s lieblichem Antlitz – Kuno zuckte zusammen vor dieser Erscheinung und schloß die Augen wieder, die Besinnung erlosch ihm wie ein Meteor.

„Um Gottes willen! Das ist ja –“ rief Stargau, aber der Schäfer ließ ihn nicht ausreden.

„Stille!“ raunte er ihm zu. „Kein Wort!“ Bleiben Sie im Schatten –“ und er bückte sich, dem Gefallenen zu helfen, nachdem er seinen Hund nachdrücklich beschwichtigt und an den nächsten Baum gebunden hatte.

„Ein paar Gliedmaßen gebrochen – wir müssen ihn hinunter schaffen, dort renke ich ein, was ich kann. Fassen Sie nur das Kopfende an, Herr Stargau – und Sie, Jungfer, leuchten.“

„Klupsch,“ sagte der gewesene Oberamtmann von Saint-Pankraz leise unterwegs – „nun brauchst Du uns keinen Wagen zu morgen zu schaffen. Wir bleiben hier.“



VIII.

Auf der Rinkenburg war Frau von Dießbach nach ihrer Gewohnheit schon wach, noch ehe das Frühroth den Osten säumte. Sie hatte viel schlaflose Nächte, aber eine schlimmere, wie die heutige, glaubte sie noch nicht durchlebt zu haben. Kuno’s Ausbleiben marterte sie. Nach Allem, was vorgegangen war und wie sie den energischen, unversöhnlichen Charakter ihres Stiefsohnes kannte, mußte sie von ihm Schritte fürchten, die zum Aeußersten führen konnten. Wie gern hätte sie gestern Abend nach Guido ausgeschickt, um diese qualvolle Ungewißheit zu beendigen, aber sie hatte seine junge Seele schon genug beschwert und konnte ihm noch nicht Alles sagen. „Schlaf suß, mein Liebling!“ flüsterte sie. „Du armes Kind ahnst nicht, was Dir noch zu tragen bevorsteht.“

Sie hatte sich von der Eremitage, wo sie allerdings mit Guido gewesen war, Botschaft bestellt, sobald diejenigen, denen sie eine neue Freistatt, wenn auch in der Ferne und Fremde bereitet hatte, abgereist sein würden: das sollte nach der Verabredung vor Tagesanbruch gechehen, sie wollte dann auch reisen, wozu sie in der Stille bereits Anstalten getroffen hatte, um Jene unterwegs noch einmal, zum letzten Mal! zu sehen. Der Tag war angebrochen, jetzt mußten sie schon fort sein, und der Bote mit der Meldung davon konnte bald eintreffen. Frau von Dießbach warf ihre Mantille um und ging in das Freie, den herbstlichen Thau und die Morgenkälte nicht achtend. Sie hatte sich nicht getäuscht, dort stieg der Knabe bereits die Schlucht herab und setzte sich in raschen Lauf, sobald er ihrer ansichtig wurde. Welche Kunde ward ihr jetzt! Ein Augenblick hatte Alles umgestaltet. Kuno lag, lebensgefährlich verletzt, in der Eremitage, unter der Pflege und Obhut der Menschen, die er hatte, womöglich, vernichten wollen, von ihm war vor der Hand nichts zu fürchten – und er lag ja lebensgefährlich darnieder, vielleicht raffte ihn der Tod hinweg. – – Die starren Augen der Dame verglasten sich mehr und mehr bei diesen Gedanken, der Knabe stand und sah ihr in das Gesicht, und fing an, sich vor ihr zu fürchten.

„Nein, nein!“ rief sie plötzlich. „Auch das muß noch geschehen. Dann aber dann!“ – Sie hob ihre feine, weiße Hand zum Himmel, der vom Sonnengolde durchleuchtet war. – „Geh, mein Sohn!“ sprach sie jetzt zu dem Knaben. „Ich komme heute nicht, aber morgen gewiß. Sie sollen ihn gut pflegen – es ist doch ein Arzt gerufen worden? Oder wer hat ihn verbunden und für ihn gesorgt?“

„Der Schäfer von Pankraz,“ war die Antwort, und sie befriedigte die bewegte Frau vollkommen. Der Knabe trat den Rückweg in das Gebirge, sie nach dem Schlosse, an, wo sie sich gleich in das Zimmer ihres Sohnes begab, den sie aus einem festen Schlafe weckte.

„Guido – Dein Bruder hat einen unglücklichen Fall gethan – er liegt gefährlich verletzt in der Eremitage –“

„Was? In der Eremitage und – Dein –“

„Alle sind noch dort!“ unterbrach sie ihn schnell. „Sie pflegen ihn, sie sammeln glühende Kohle auf sein Haupt! Doch wie ungerecht bin ich! Hätte ich zu ihm das Vertrauen haben können, wie zu Dir, hätte ich mein Herz erschlossen – Alles wäre vielleicht anders – mich trifft allein die Schuld.“

„Mama, ich werde mich gleich anziehen und nach der Eremitage eilen.“

„Nein, mein Sohn,“ sagte Frau von Dießbach sanft, „lassen wir den heutigen Tag vorübergehen, wir können dort nichts helfen, nur stören, ich muß mir Alles erst reiflich bedenken.“

„Aber – wenn er Pauline sieht, wird ihm da nicht die Aehnlichkeit mit mir –“

„Nein, nein! Er sieht sie nicht, oder – ohne Bewußtsein. Das Fieber ist jedenfalls eingetreten und die Krisis folgt ihm –“ hier hielt sie inne und sagte dann leiser, mit gepreßter Stimme: „die Alles entscheiden muß!“

Bei diesem Beschlusse blieb es und Guido mußte sich gedulden. Eine Verlegenheit von anderer Seite, auf welche Frau von Dießbach nicht vorbereitet war, überkam sie im Laufe des Tages. Kuno hatte die Bewirthschaftung des Gutes bis in die kleinesten mit einer Selbstständigkeit und Thatkraft geführt, daß er Keinem seiner Leute auch nur die geringste Bestimmung dessen, was geschehen sollte oder zu thun war, ja nicht einmal eine Einsicht in den Betrieb gestattet hatte, so daß nun kein Mensch wußte, woran er war. Man wandete sich mit Anfragen an Frau von Dießbach, welche sie nicht beantworten konnte. Denn sie verstand gar nichts von der Wirthschaft und hatte sich auch bei Lebzeiten ihres Mannes, seinen Wünschen sehr entgegen, gar nicht darum bekümmert, nicht einmal um das eigentliche Hauswesen, die Wirkungssphäre der Frau. Da sie zu Allem, was in dies Fach schlug, weder Geschick, noch Lust, sondern eine entschiedene Abneigung gezeigt hatte, war es ihrem Manne endlich lieber gewesen, das Ganze in Dienstbotenhände zu geben, und so war es geblieben bis auf diesen Tag. Aber die Gutsökonomie hatte er selbst betrieben, wie nach ihm, seinem Vorbilde getreulich folgend, sein ältester Sohn, und weil dessen strenge Leitung nun fehlte, drohte die ganze wohleingerichtete Maschine in Stocken und verderbliche Unordnung zu gerathen. Wie wollte sich aber Frau von Dießbach helfen? Sie hatte keine Verwandten [567] und in der ganzen Nachbarschaft keinen Freund mehr, der ihr seinen Rath gegeben hätte: Herr Egelmann hatte ganz Recht, Alles hatte sich, seit der furchtbare geheime Verdacht auf ihr ruhte, von der „schrecklichen Frau“, wie sie allgemein in der Gegend hieß, zurückgezogen.

Da kam ihr noch an demselben Tage ein Beistand, auf den sie nicht gerechnet hatte. Der Oberamtmann Siebeling mit Frau und Tochter machte ihr seinen Besuch. Er hatte durch den heimkehrenden Schäfer gehört, welcher Unfall dem Nachbar zugestoßen war und sich durch den dringenden Wunsch seiner Gattin bestimmen lassen, die beschlossene Visite gleich heute auszuführen. Der Eindruck, welchen Frau von Dießbach in ihrer einfachen und ruhigen Erscheinung auf den ehrlichen Mann, dessen offene Seele keine Beobachtungsgabe besaß, machte, war durchaus kein unangenehmer: nach seinen Begriffen konnte sie so nicht sein, wenn dies böse Gerede wahr gewesen wäre, und je mehr sie ihm leid that, desto unwilliger wurde er auf das alte Weib, wie er seinen Egelmann titulirte, dem er der Verläumdung wegen alle Freundschaft, ja allen Verkehr aufkündigte. Mit einer wahren Herzlichkeit bot er der Dame, wenn sie in der Verwaltung ihres Gutes etwa Rath brauche, seinen Beistand an, und dies freundliche Entgegenkommen, dessen sich die Geächtete – sie wußte wohl, daß sie es in der Gesellschaft [568] war! – seit Jahren nicht mehr erfreut hatte, that ihr wohl. Sie nahm sein Erbieten an und fragte ihn gleich über Manches, das ihr heute vergeblich zur Entscheidung vorgelegt worden war, um seine Meinung, die er ihr so praktisch und verständlich sagte, daß sie ihn nicht allein begriff, sondern auch davon Gebrauch machen konnte. Er versprach ihr, von Zeit zu Zeit, bis ihr Sohn wieder hergestellt sein würde, selbst nachzusehen, Beide waren im angelegentlichsten Gespräch, und Frau Siebeling, die auf dem Sopha fast unbeachtet auf und nieder hüpfte, fing an, eifersüchtig zu werden. Da trat Guido ein. Er widmete sich, nachdem er den Oberamtmann begrüßt und von dessen ökonomischer Faust einen zermalmenden Händedruck verschmerzt hatte, ausschließlich den Damen, und wußte sowohl Frau Siebeling’s Herz schnell genug durch seine Artigkeit zu gewinnen, als auch bei der schweigsamen Agnes – schweigsam, weil sie sich ihrer Umgebung entfremdet fühlte! – Saiten anzuschlagen, welche in ihrem Innern lang verstummte Goldklänge weckten und sie in die lebhafteste Unterhaltung über ihre höchsten Interessen: Literatur, Musik, Kunst verwickelten. Ihr Auge strahlte, sie war wie verklärt.

In Siebeling’s Wagen, als sie wieder fortfuhren, brach ein Streit aus. Auf die wohlwollenden Aeußerungen, welche der Oberamtmann über Frau von Dießbach that, hatte es seine Gattin doch nicht lassen können, ihren Gefühlen, die nur augenblicklich durch die angenehme Unterhaltung mit Guido beschwichtigt waren, Worte zu geben.

„Du wirst Dich auch von dem entsetzlichen Weibe bestricken lassen, wie es dem armen Stargau ergangen ist!“ rief sie. „Der hatte nicht einmal Frau und Kind, wie Du, und war also Niemand Rechenschaft schuldig, Du aber –“

„Bist Du unklug geworden?“ entgegnete er laut lachend.

„Ja, lache nur, das ist schon die rechte Höhe, wenn man über seine Frau lachen kann. Ihr Männer seid wie blind, Ihr seht nichts, Ihr merkt nichts. Ich hatte sie gleich weg, so wie ich ihre Augen sah und dann die Wohlgerüche, die sie verbreitete, das war schon reines Gift, und ich werde Gott danken, wenn es mir nichts schadet.“

Er verwies ihr ernsthaft diese Reden, konnte sie aber eines Bessern nicht überzeugen. Sie bat ihn dringend, sein übereiltes Versprechen zurückzunehmen und die Rinkenburg nicht wieder zu besuchen, und ließ nicht ab, bis er zuletzt böse wurde.

„Wenn ich ein Versprechen gebe, so steht das baumfest, und keine Albernheit kann mich dazu bringen, mein Wort zu brechen. Dir habe ich es auch noch nicht gebrochen und werde es nicht brechen. Ob Du Dich nicht schämst vor der Agnes da!“

Agnes hatte mit peinlichen Gefühlen dem Wortwechsel zugehört, der sie aus schönern Gedanken gerissen hatte,

Es war noch früh am andern Morgen, als Guido, den heute Niemand zu wecken gebraucht, schon zum Gange gerüstet vor seiner Mutter erschien. Sie war in einer unruhigen Stimmung, wie sie von innern Kämpfen erregt wird, das konnte selbst ihrem Sohne unterwegs nicht entgehen und er fragte sie darum.

„Ich habe Dir Viel vertraut, mein Kind,“ sagte sie, ohne ihn anzusehen – „Deine Liebe wird sich von mir wenden –“

Mit einer an Leidenschaft grenzenden Heftigkeit unterbrach er sie: „Meine liebe Mama! Und ständest Du vor mir, eine Verbrecherin, ich würde Dich lieben und mit Dir sterben, das schwöre ich Dir!“

„Schwöre nicht, Guido!“ sagte sie bebend, und hatte den Muth nicht mehr, den Strom seiner Betheuerungen zu unterbrechen, die Kraft nicht, ihren Entschluß, den sie kürzlich gefaßt, auszuführen. Gewiß, er sollte Alles wissen, der Schleier, der noch das letzte düstere Geheimniß, das sie ihm vorenthalten, verhüllte, sie wollte ihn mit eigner Hand vor dem Lieblinge ihres Herzens hinwegziehen, aber in diesem Augenblicke vermochte sie es nicht.

So gelangten sie an das Ziel ihrer Wanderung. Man hatte sie aus den Fenstern der Eremitage kommen sehen, und Guido bemerkte zuerst, wer ihnen freudig entgegeneilte: „Da ist Pauline!“ rief er der Mutter zu.

Das junge Mädchen, heute nicht mehr in der landesüblichen Tracht der ärmern Bergbewohnerinnen. sondern im einfachen Kleide der höhern Stände, nahte Frau von Dießbach mit herzlichem Blick und küßte ihr die Hand, diese umarmte sie und Guido schlang seinen Arm um ihre schlanke Taille, während er ihr freundlich guten Morgen bot.

„Was macht der Kranke?“ fragte die Mutter.

„Heute ist er schlimmer – “ antwortete Pauline – „er hat ein heftiges Fieber und phantasirt.“

„Wer bewacht ihn?“ – fragte Frau von Dießbach schnell.

„Der Vater und Nina abwechselnd,“ erwiederte Pauline. „Mir erlaubt es der Vater nicht. Jetzt ist Nina bei ihm. Der Arzt war gestern hier.“

An der Hausthür stand Stargau und trat ihnen nur ein paar Schritte entgegen. Er sah beim Tageslichte noch viel verfallener aus, und seine kleine Figur ungemein dürftig. Mit einer Befangenheit, die er in den Tagen seines Uebermuths nie gekannt hatte, erwiederte er den Gruß der Frau von Dießbach, und neigte sich vor ihrem Sohne, der schon eine merkwürdige Gewalt über sich erlangt hatte, diesem Manne auch nur so zu begegnen. Aber er that es um seiner Mutter willen!

Im Zimmer setzte sich diese, welche von dem Gange mehr angegriffen schien, aks man sonst an ihr gewohnt war, und winkte den Andern, ein Gleiches zu thun. „Was habt Ihr beschlossen?“

„Vorerst abzuwarten –“ sagte Stargau. „Es hat keine Gefahr vor der Hand. Wenn er auch zum Bewußtsein kommt, so muß er doch erkennen, wem er seine Lebensrettung verdankt – und ich sollte meinen, daß ihn das bewegen wird, seine rachsüchtigen Pläne aufzugeben.“ .

„Nicht eher,“ entgegnete Frau von Dießbach, ihren Kopf in die Hand stützend, „als bis er Alles im Zusammenhange weiß, – besser, wenn es ihm niemals verschwiegen geblieben wäre! – Ich will ihn sehen!“ setzte sie rasch hinzu, indem sie aufstand.

„Jetzt?“ rief Stargau. „Jetzt ihm Mittheilungen machen? Das ist ganz unmöglich – er liegt besinnungslos in wilden Phantasien.“

„Dennoch muß ich ihn sehen! Niemand begleite mich: ich will allein sein!“ Sie verließ mit diesen Worten, denen nicht zu widersprechen war, das Zimmer und auch Stargau, dem Guido’s Gegenwart peinlich, schlich bald hinaus. So blieben die beiden jungen Leute, die einander so ähnlich sahen, obgleich Guido mehrere Jahre älter war als Pauline, allein zusammen: sie hatten sich kennen gelernt vor kaum zwei Tagen und waren doch schon so vertraut, so innig gegen einander! Guido’s Abneigung, welche er gegen ihren Vater fühlte – denn Stargau’s Kind war sie und hatte ihn oft genug in Guido’s Beisein Vater genannt – übertrug sich nicht auf sie. Diese Abneigung, natürlich an sich, hatte sich gesteigert, seit er Stargau persönlich kennen gelernt – freilich urtheilte er hier nur nach dem äußeren Eindruck, aber er fragte sich fort und fort: wie ist es möglich, daß dieser Mann die Neigung meiner Mutter gewinnen konnte? – Denn er wußte so weit Alles. Sie hatte sich neben der alten und furchtbaren Buße, die sie trug, diese neue auferlegt: sich vor ihrem Sohne zu demüthigen, ihm ihre Schwäche zu bekennen, ohne alle Entschuldigung, auf die Gefahr hin, sein Herz – ihr letztes, einziges Gut! – zu verlieren. Ohne Entschuldigung hatte sie ihm auf dem Gange gebeichtet, die Mutter dem Sohne! sonst würde er vielleicht anders über jene Möglichkeit, wie Stargau ihr Herz gewinnen konnte, geurtheilt haben. Jetzt war es ihm unerklärbar. Wie oft tritt uns aber ein solches psychologisches Räthsel im Leben entgegen: der geheimnißvolle, nie zu ergründende Ursprung der Liebe spottet aller Erklärungen. Und Frau von Dießbach hatte Stargau geliebt, sie liebte ihn noch, wie kalt auch ihr Aeußeres selbst gegen ihn war und ihr Wille ein unnatürliches Verhältniß gestaltet hatte. Ehe sie mit Guido heute den Rückweg antrat, hatte sie noch ein langes Gespräch unter vier Augen mit ihm, und er küßte ihr beim Abschiede feuchten Blickes die bebende Hand.

„Wenn Kuno nach dem Ausspruche des Arztes ohne Gefahr Alles hören kann, dann an seinem Lager – nicht eher und nirgends anders!“ sagte sie mit einer Festigkeit der Stimme, welcher das Zucken ihrer Lippen widersprach.

„Und – muß ich auf ewig der Hoffnung einer ungetrennten Vereinigung entsagen, da ich doch feierliche Rechte habe?“

„Auf ewig!“ antwortete sie.

„Warum, Anna warum?“ rief er mit schmerzlicher Frage.

„Du wirst es hören!“ wiederholte sie. „An Kuno’s Lager, nicht eher und nirgend anders!“

Mehrere Tage vergingen darüber. Der Wundarzt aus der Stadt, welcher gerufen worden war, hatte gegen den Verband, [569] selbst gegen die Art und Weise, wie die gebrochenen Glieder geschient worden waren, als rohe Empirie eines Schäfers, die nicht den Anforderungen der Chirurgie entsprach, mancherlei Einwendungen erhoben, aber doch nicht gewagt, sie zu ändern, weil er insgeheim deren Zweckmäßigkeit anerkennen mußte; den allgemeinen Zustand zu beurtheilen, gestattete er aber keinem Andern, als sich selbst, und der war gefährlich und mußte gefährlich sein. So schilderte er ihn stets auf der Rinkenburg, wo er nach jedesmaligem Besuche Bericht abstattete. In der Stadt aber übertrieb er die Gefahr noch, und der Oberamtmann Siebeling kam deshalb heftig mit ihm zusammen, denn er wußte es von seinem Schäfer besser, da er ihn noch ein- oder zweimal zur Eremitage geschickt hatte, um sich durch eignen erfahrenen Augenschein von dem Befinden des Kranken zu unterrichten. Er sagte dem wichtig thuenden Manne zur Belustigung aller Frühstücksgäste in der Weinstube seine Meinung so deutsch, daß dieser schon erbost zum nächsten Rechtsanwalt lief, um ihn wegen Injurien zu verklagen.

Siebeling fuhr von hier nach der Rinkenburg, wo er, seinem Versprechen gemäß, die obere Leitung der Wirthschaft übernommen hatte. Seine Frau war bei kälterm Blute darüber beruhigt, besonders da Guido auf seinem prächtigen Pferde, vor Glanz und Schönheit strahlend, wie ein junger Gott, seinen Besuch in Sanct- Pankraz gemacht und sein Benehmen gegen Agnes ihr urplötzlich einige Hoffnung gegeben hatte, daß aus den jungen Leuten „etwas“ werden könnte. Vor ihrem Manne verschwieg sie aber diese Hoffnung aus guten Gründen sehr sorgfältig.

An einem Kreuzwege stellte sich dem Oberamtmann ein fremder, ältlicher Mensch entgegen, der ihn bei Namen grüßte und sich als einen armen Oekonomen ankündigte, der „Schon gut!“ unterbrach ihn Siebeling. „Wenn Sie mich kennen, so kommen Sie auf den Abend zu mir. Ich habe jetzt keine Zeit.“

„Fahren Sie nach der Rinkenburg? Wollen Sie mich mitnehmen? Ich habe auch Oben bei der gnädigen Frau zu thun.“

„Kommen Sie nur erst zu mir!“ sagte Siebeling verdrießlich. „Ihr bringt unsern ganzen Stand als Ökonomen in Mißkredit durch Euer - Fechten, nehmen Sie mir’s nicht übel. Lassen Sie Dießbach’s unmolestirt – ich werde für Sie thun, was ich kann.“

„Aber gerade – dort brauchen sie einen Inspector, da der Herr den Hals gebrochen hat –“

„Wer sagt Ihnen das?“ fuhr Siebeling heftig auf.

„O, das wissen Sie als nächster Nachbar nicht einmal?“ lachte der Fremde. „Dort wird doch Alles geheim gehalten, alte Gewohnheit, gute Ursach! Ich weiß es aber aus zuverlässiger Quelle, komme eben von Ballenstedt, wo mir ein alter Freund und Bekannter –“

„Egelmann?“ schrie Siebeling ganz erhitzt.

„Kennen Sie ihn? Allerdings derselbe. Nehmen Sie mich also getrost mit, ich versuche mein Heil und habe vielleicht bei der gnädigen Frau noch eine ganz besondere Empfehlung.“

„Nun, so steigen Sie auf, in’s Teufels Namen! Nur damit ich Ihnen unterwegs sagen kann, daß Ihnen das alte miserable Weib, der Egelmann, wieder eine niederträchtige Lüge aufgebunden hat. Offeriren Sie sich meinetwegen auch als Inspector, das geht mich nichts an.“ Staub, denn es war Niemand Anderes, hatte gleich bei dem ersten Wort den Wagen flink erklettert und hörte gelassen zu.

„So!“ sagte er dann. Für meine Angelegenheiten wäre es besser, wenn er den Hals gebrochen hätte, indessen muß es auch so gehen.“

Er hatte sich auf der Rinkenburg wirklich kaum durch den Oberamtmann, den er darum bat, bei Frau von Dießbach melden lassen, als er bedeutet wurde, eine kurze Weile zu verziehen, er werde sogleich angenommen werden. Siebeling warnte die Dame, sich nicht, ohne daß er die Zeugnisse dieses Herrn Staub gesehen habe, mit ihm einzulassen, und ging dann, in der Wirthschaft nachzusehen, während dieser Zeit wurde Staub in das Zimmer der Frau von Dießbach geführt. Als die Dame ihm, dem abgeschabten Lump, so vornehm und ruhig entgegen trat, überfiel ihn doch eine gewisse Verlegenheit, und die schönen Vorsätze, wie er seinen Vortheil wahrnehmen soll, zerrannen, wie Schnee an der Sonne.

„Es ist mir sehr lieb, Herr Staub,“ begann Frau von Dießbach, ihr Auge fest auf ihn richtend, „sehr lieb, Sie wieder in hiesiger Gegend zu wissen. Ich werde Sie in einer Angelegenheit, die ich Ihnen später nennen werde, um einen Dienst bitten, den Sie mir gewiß gern erweisen werden.“

„Befehlen Sie über mich, gnädige Frau,“ sagte Staub, dem sich eine reiche Aussicht zu eröffnen schien.

„Später, Herr Staub,“ erwiederte sie. „Wissen Sie den jetzigen Aufenthalt Ihres früheren Prinzipals?“

Aha! dachte Staub. Den soll ich ihr ausfindig machen! – „Ich glaube, ihn zu wissen –“ erwiederte er unbedenklich, obgleich es erlogen war. Denn Frau von Dießbach hatte dafür Sorge getragen, daß der Wundarzt aus der Stadt, wenn er die Eremitage besuchte, weder Stargau, noch Paulinen zu Gesicht bekam, überhaupt keine Ahnung von ihrer Anwesenheit erhielt, sonst freilich, da er Stargau von Alters her kannte, wäre letztere bald stadt- und landkundig geworden.

„Wenn das der Fall ist,“ sagte Frau von Dießbach auf die Behauptung des gewesenen Inspectors, „so rechne ich vor der Hand auf Ihre, durch eignes Interesse gebotene Verschwiegenheit. Sie werden übrigens bald von diesem Zwange erlöst werden. Einstweilen erlauben Sie mir, Ihnen eine Erleichterung Ihrer Lage zu gewähren –“ sie reichte ihm eine kleine Summe, welche sie schon bereit gelegt hatte. Er nahm sie ohne Umstände und bedankte sich, von delikater Behandlung dieses Hauptpunktes für ihn im Leben war er längst kein Freund mehr. Nachdem er hierauf angegeben hatte, daß er im goldenen Ringe in der Stadt zu finden sei, wurde er entlassen.

Es verging indessen noch mehr als eine Woche, ehe die Stunde der Erlösung schlug. Auch für Frau von Dießbach war es eine solche, wenn gleich in einem ganz andern, furchtbaren Ernst in sich tragenden Sinne. Sie hatte schon vor Jahren über sich selbst zu Gericht gesessen, den Stab über sich gebrochen, das Urtheil vollstreckt an sich selbst – und was sie jetzt noch zu thun gedachte, war nur der Schlußact, den sie bis hierher in grauenhafter Consequenz verschoben hatte.

Durch den Arzt war ihr die Kunde geworden, daß Kuno außer Gefahr, jeder Leibes- und Seelenbewegung vollkommen gewachsen sei. Guido hatte ihn schon oft in den letzten Tagen besucht, und in einer milden Stimmung gefunden, die nur nach einem Anlaß suchte, um sich in einer Herzensergießung zu äußern, wie man sie bei diesem verschlossenen, starken Charakter noch vor Kurzem für unmöglich gehalten hätte. Aber Guido, von der Mutter dringend gebeten, hatte einen solchen Anlaß geflissentlich vermieden, sich auch nie lange aufgehalten, sondern die wenige Zeit seines bald ablaufenden Urlaubs benutzt, um oft in Sanct-Pankraz zu sein, wo ihn der Oberamtmann schon mit ganz bedenklichen Augen ansah, und seine Frau mehr als einmal anforderte, der Kinderei, wie er es nannte, ein Ende zu machen. Sie war indessen weit entfernt davon, und hoffte ihn mit der Zeit, trotz seiner oft ausgesprochenen Ansichten, für eine Verbindung ihrer Tochter mit dem jungen Offizier zu gewinnen. Er war jedoch keineswegs der Mann, sich zu fügen, das hätte sie wissen sollen.

Kuno lag, halb angekleidet schon, auf seinem Bett, die Sonne schien freundlich durch sein Fenster und beleuchtete die markigen Züge des Ruhenden mit einem ihren strengen Ausdruck mildernden Schimmer. Die Alte hatte ihm die Ankunft seiner Stiefmutter gemeldet: er erwartete sie. Als die Thüre wiederum geöffnet wurde, richtete er sich, auf den gesunden Arm gestützt, halb empor und grüßte die Eintretende, welche in ihrer gewohnten Haltung, sorgfältig gekleidet wie immer, die Schwelle überschritt. Aber sie kam nicht allein, und Kuno’s Brauen zogen sich zusammen: mit ihr erschien Stargau, kamen Guido und Pauline, zuletzt folgte die gewesene Dienerin seiner Mutter. Es war, wie eine Versammlung zu besonderer Feierlichkeit, denn Frau von Dießbach trat allein dem Kranken näher, während sich die Andern im Halbkreise reihten.

„Ich komme zu Dir, mein Kuno,“ begann Frau von Dießbach mit einer tonlosen Stimme, die auch im Fortsprechen wenig Klang gewann, „um von Dir Abschied zu nehmen – von Euch Allen hier! Unterbrecht mich nicht, und wenn ich geendigt habe und hinweg gehe, folge mir Niemand als meine treue Dienerin: es ist mein ernster Wille!“ Sie winkte gebieterisch, als Guido dennoch sprechen wollte, aber sie vermied das Auge ihres Lieblings, dessen flehender Blick ihr die Kraft geraubt haben würde.

Was ich Euch zu sagen habe, ist zermalmend schwer – aber es darf nur kurz sein, denn meine Stunden sind gezählt –“ hier schien ihr ein Moment die Stimme zu versagen, doch überwand sie [570] schnell den Schauder, der ihr durch die Glieder rieselte und fuhr fort: „Wisset, ich bin die Mörderin meines Gatten!“

Vor dieser entsetzlichen Selbstanklage entrang sich jeder Brust der Anwesenden ein banger Schreckenslaut – aber Frau von Dießbach richtete sich höher auf und sprach: „Nicht in dem Sinne, wie es die Welt versteht! Meine Hand, wie mein Wille, ist schuldlos an dem, was mir die allgemeine Stimme der Welt heimlich und vernichtend zur Last gelegt hat – aber dennoch habe ich meinen Gatten getödtet durch Gift im Geiste, bis er es nicht mehr ertragen konnte. Hier, hier auf derselben Stelle, die jetzt mein Fuß entweiht, hat er geendigt – durch eigene Hand! Was ihn so weit getrieben hat, darf ich nicht wiederholen: selbst Dir, mein Guido, habe ich es bekannt, und nur Du allein, Du meine arme unschuldige Pauline, Du ahnst nicht, was Deine Mutter, ehe sie Dir das Leben gab, verschuldet hat. – Doch,“ fuhr sie mit erhöhter Stimme fort, „wenn ich auch dem Manne, dem ich Treue geschworen, und der mich trotz seiner strengen Behandlung mit einer Leidenschaft liebte, welche er durch seinen freiwilligen Tod bekundet hat, wenn ich ihm auch im Herzen meine Treue gebrochen – was die Welt erst einen Treubruch nennt, dessen war ich unschuldig, Gott ist mein Zeuge! Als aber keine Schranke mehr zwischen mir und Demjenigen stand, dem ich trotz meiner Gelübde mein Herz geweiht – “ hier traf ein Blick voll alter Innigkeit auf Stargau, der erschüttert vor ihr hätte auf die Knie sinken und sie um ihre Verzeihung anflehen mögen – „da reichte ich ihm die frei gewordene Hand in heimlicher Ehe, vor Gottes Altar durch kirchlichen Segen verbunden. Ja, Kuno, hier lege ich Dir die Urkunde auf Dein Bett, daß Du die Schande von meinem Haupte nimmst, wenn ich geschieden hin, und einen Zeugen, der unserer Vermählung beigewohnt, habe ich Dir auch bestellt, er wird morgen vor Dir erscheinen. – Wir lebten heimlich verbunden, denn ich hatte den Muth vor der Welt nicht, zu bekennen, was frühere Verläumdung bestätigt haben würde – und als mein zweiter Gatte die Gegend verließ, folgte ich ihm auf weiten Reisen und vergaß im Rausche eines kurzen Glücks Alles, was ihm vorangegangen war. Ueber Deine Geburt vor Allem, meine innige Pauline! Aber – in mir erwachte es bald wieder und mit fürchterlicher Macht des Gewissens wuchs es täglich drohender, vernichtender in mir an, ließ mir kein Ruhe mehr, trieb mich wieder heim zur Stätte, wo ich Gott und dem Gatten meine Gelübde gebrochen, wo ich ihn – gemordet hatte. Mich überraschte es nicht, daß ich der Welt gebrandmarkt erschien, sie hatte ja Recht! Ich legte mir als Buße auf, den Fluch der Mörderin zu tragen – das habe ich gethan bis jetzt – ich trennte mich freiwillig von Mann und Kind – ich erduldete von Dir, Deines Vaters vollkommenem Ebenbilde, jedes Zeichen der Abneigung und des Verdachtes! Was ich sonst noch über mich und mein Leben – sie unterbrach sich selbst, als sie die Hand und das Auge ihrer alten Dienerin voll flehentlicher Beschwörung erhoben sah. „Genug von mir! Vor Kurzem erst, nachdem ich jede Kunde von meinen Entfernten unmöglich gemacht, kehrten sie, meinem Willen entgegen, hierher zurück; dort, mein Gatte, meine Tochter und die treue Frau, welcher ich die Pflege ihrer Jugend überlassen hatte – und nun, Kuno, sage mir, was Du thun willst."

„Mutter, Mutter! Frieden über uns Alle!" rief Kuno.

„Amen!" sagte Frau von Dießbach. – „Lebt denn wohl, ich gehe, einsam zu sterben – denn ich erlebe das heilige Fest der Weihnacht nicht mehr. – Bestürmt mich nicht, stillt Eure Bitten und Thränen, hier ist keine Ungewißheit, keine Wahl: meine Tage sind längst schon gezählt, fragt auch weiter nicht, betet für mich, und laßt mich in Frieden scheiden. Meine Buße wird bald erfüllt sein, mein Segen bleibt Euch zurück! Dir, mein Gemahl, habe ich die Zukunft sichern können, unser Kind lege ich an Deine Brust – Du, meines ersten Gatten Sohn, fluche meinem Andenken nicht! Und, Guido, mein geliebtes Kind, das seinen Vater durch mich verloren und nie gekannt hat – ihre Stimme brach, Guido sank heiß weinend an ihr Herz; sie liebkoste ihn stumm und legte segnend ihre Hände aus sein Haupt. Dann raffte sie ihre Kraft wieder zusammen:

„Frieden über uns Alle!" sagte sie feierlich und wandte sich zum Scheiden.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: einfachste