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Eine deutsche Sprachinsel in Wälschtirol

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Textdaten
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Autor: Rudolf Baumbach
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Titel: Eine deutsche Sprachinsel in Wälschtirol
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 52, S. 843–846
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1873
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Luserna
mit Fußnote von Dr. I. von Zingerle
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[843]
Eine deutsche Sprachinsel in Wälschtirol.


Der Zufall oder das Schicksal führte mich im vergangenen Sommer nach Levico, einem kleinen, nahe bei Trient in Wälschtirol gelegenen Badeorte, und Verhältnisse, deren Erörterung nicht hierher gehört, bestimmten mich, daselbst mein Standquartier aufzuschlagen.

Glücklicher Weise bedurfte ich weder der eisenhaltigen Quelle, noch der Gesellschaft der langweiligen und gelangweilten Curgäste und konnte somit meine Aufmerksamkeit den Naturschönheiten der Umgebung zuwenden, den zerklüfteten, zum Theil mit Schnee gekrönten Bergen, den mit Wein, Maulbeer- und Obstbäumen bepflanzten Niederungen und den beiden Seen, welche Tags über wie Ultramarin, Abends im Strahl der sinkenden Junisonne wie flüssiges Gold gefärbt waren.

Es war an einem solchen Abend, als ich, von einer kleinen Gebirgswanderung zurückkehrend, eine gegen das rechte Ufer der Brenta steil abfallende Wand hinabkletterte. Der Fluß, welcher in seinem Mittel- und Unterlaufe ein ganz achtbarer Bursche ist, ist hier soeben erst aus dem See von Caldonazzo hervorgekommen und eilt über die weißen Kiesel seines Bettes, an dessen Rändern sich Alpenweiden, Rhododendronbüsche und andere Auswanderer des Hochgebirges angesiedelt haben. Die untergehende Sonne und mein Durst riefen mir die Worte des Dichters in’s Gedächtniß:

„Jedem Guten ist’s gegonnen,
Wenn des Abends sinkt die Sonnen,
Daß er in sich geht und denkt,
Wo man einen Guten schenkt.“

Aber ach, bis zu der rebenumsponnenen Laube des braven Signor Vicenzi, meines damaligen Wirthes in Levico, war es noch weit, sehr weit, und Brenta-Wasser – brrr! Meiner Standhaftigkeit sollte die Belohnung auf dem Fuße nachkommen. Nach einigen hundert Schritten, die ich, den Krümmungen des Flusses folgend, zurückgelegt hatte, sah ich unter mir eine Baumgruppe und ein Ziegeldach. Wo menschliche Wohnungen sind, giebt es gewöhnlich etwas zu trinken, und so auch hier. Noch zehn Minuten, und ich rastete auf einem breiten Steine, neben welchem ein kunstlos gefaßtes Brünnlein silberklar aus dem Felsen sprang. Es kam aber noch besser.

Eben als ich mich niederbückte, um zu trinken, schimmerten helle Frauengewänder durch das Grün, und wenige Augenblicke später setzte ein schlankes, schwarzlockiges Mädchen die zwei kupfernen Wassergefäße, die sie nach Landesgebrauch an einem schwanken Holze über die Schulter getragen hatte, vor mir und dem Brunnen nieder.

„Es ist heiß heute,“ begann ich, wie ich es noch von der Tanzstunde her gewohnt bin, die Unterhaltung.

„Sehr heiß, Signor.“

„Giebt’s hier in der Nähe keine Osteria oder so was dergleichen?“

„Nein, Signor.“

„Was ist das da unten für ein Haus?“

„Das Haus meines Vaters.“

„Ei, mia cara, könnte man da vielleicht für Geld und gute Worte etwas Anderes als Wasser zu trinken bekommen?“

„Wir haben Wein; aber ich weiß nicht, ob mein Vater welchen hergeben wird.“

„Wir wollen’s versuchen.“

Ich half ihr galant beim Wasserschöpfen und folgte ihr dann auf dem Fuße nach.

„Ein Kernmädel!“ sprach ich im Gehen zu mir selbst, und natürlich sprach ich’s deutsch, während ich mich vorher der italienischen Sprache bedient hatte.

Da dreht sich der Schwarzkopf halb nach mir um, zeigt zwei Reihen Mauszähne und fragt auf Deutsch: „Ist der Herr etwa gar ein Deutscher?“

„O Du Engel! Das versteht sich, und Du bist auch eine Deutsche?“

„Nur zur Halbscheid. Aber der Vater wird sich freuen, daß er einen deutschen Besuch bekommt.“

Wir langten bei dem Häuschen an. Der Vater, ein ziemlich bejahrter Mann, hieß mich sehr freundlich willkommen und gab seiner Marietta den Auftrag, Wein, Brod und Käse zu bringen. Der Wein war trinkbar, das Essen gut, und mein Wirth, dem ich sofort die Friedenspfeife in Gestalt einer Virginiacigarre überreicht hatte, war äußerst zuvorkommend und gesprächig.

„Ich bin Maurer,“ erzählte er, „das heißt, ich richte hier den Leuten Sparherde ein. Es hat Mühe gekostet, den Wälschen begreiflich zu machen, daß ihre alten, offenen Herdfeuer nichts taugen. Erstens nämlich verbrennen sie zu viel Holz, und zweitens schmecken die Speisen manchmal nach Rauch.“

„Sehr richtig! Sie scheinen mir ein einsichtsvoller Mann zu sein. Sind Sie in Deutschtirol daheim?“

[844] „Nein, ich bin ein Deutscher aus Pest (sic!). Ich bin aber schon vor vielen Jahren in’s Veronesische gekommen. Dort habe ich mich auch verheiratet, und erst seit dem Jahre siebenundsechszig wohne ich hier.“

„Allein mit der Tochter?“

„Mein Sohn ist auch hier; er ist aber jetzt auf Arbeit in Pergine. Mein Weib ist todt.“

„Mich wundert,“ fuhr ich fort, „daß die Marietta Deutsch spricht. Die Mutter war doch jedenfalls eine Wälsche?“

„Wie man’s nimmt. Sie war eine Cimbrische, eine aus den Sette communi. Haben Sie davon noch nichts gehört?“

Allerdings hatte ich über jene deutsche Sprachinsel auf italienischem Boden, sowie auch über eine zweite, die sogenannten dreizehn Gemeinden, deren Bewohner man früher irriger Weise für Nachkommen der von Marius zersprengten Cimbern gehalten hat, Mancherlei gehört und gelesen, verneinte aber wohlweislich die Frage, um die Ansicht meines Gastfreundes, der offenbar gern in seiner Muttersprache plauderte, zu vernehmen. Er erzählte:

„Vor vielen, vielen Jahren, noch lange vor der Franzosenzeit sind einmal die Cimbern (er sprach das C nach italienischer Weise wie dsch aus) nach Italien gekommen.“

„Wo kamen sie denn her?“

„Ich glaube aus Preußen oder da herum. Die Cimbern kamen also nach Italien und zwar mit Sack und Pack, mit Weibern und Kindern und wollten Rom einnehmen. Der heilige Vater –“

„Was? Wie kommen denn die Cimbern und der Papst zusammen?“

„Was weiß ich? Vielleicht – die Preußen sind lutherisch – vielleicht waren die Cimbern auch Lutherische und wollten – Sie werden mich schon verstehen …“

„Ah so, nur weiter!“

„Der heilige Vater also kam in große Noth. Da schickte er den General Marino mit der ganzen Armee gegen die Cimbern, und da wurden diese halt bei Verona geschlagen. Es soll dabei nicht mit rechten Dingen zugegangen sein, denn sonst, wenn Deutsche und Wälsche miteinander gerauft haben, sind die Wälschen jedesmal – huit!“ Er ergänzte seine Rede durch eine bezeichnende Handbewegung. „Die Ueberreste der Cimbern,“ fuhr er fort, „haben sich dann in den sieben und dreizehn Gemeinden niedergelassen und ihre Nachkommen reden noch bis auf den heutigen Tag die cimbrische Sprache.“

„Aha,“ sagte ich, als der Mann eine Pause machte, „jetzt erinnere ich mich, daß ich in der Schule einmal etwas über jene Begebenheit gehört habe. Es ist freilich schon lange her, aber wenn mir recht ist, so waren es damals zwei Völkerschaften oder gar drei, die in Italien einbrachen; Teutonen müssen auch dabei gewesen sein. Weiß man nicht, was aus Denen geworden ist?“

„Das kann ich nicht sagen.“

Die schöne Marietta, welche neben ihrem Vater Platz genommen hatte, stieß ihn mit dem Ellenbogen an und bemerkte halblaut: „Vielleicht die Luserner.“

„Das kann sein,“ nickte der Vater. „Das Mädel ist nicht auf den Kopf gefallen. Sie ist auch im Kloster gewesen,“ fügte er hinzu, indem er auf seine Tochter einen Blick voll väterlichen Stolzes warf.

„Wer sind denn die Luserner?“ fragte ich.

Der Maurer deutete mit der Hand nach dem Gebirgsstock, an dessen Abhang ich vorhin müde und durstig herumgeklettert war, und sagte. „Luserna ist ein Dorf droben auf dem Berge. Es führt keine Fahrstraße dahin; sie müssen Alles auf dem Kopfe hinauftragen. Und droben wohnen Leute, die sprechen eine Sprache, welche Niemand versteht. Es ist nicht Deutsch, es ist auch nicht Wälsch, und Cimbrisch ist es auch nicht, aber es ist doch eher Deutsch als Wälsch, was sie sprechen. Und seit ein paar Jahren haben sie auch eine deutsche Schule. Da sollten Sie einmal hinauf gehen.“

„Kennen Sie den Weg?“

Er verneinte, wußte auch sonst nicht viel über Luserna zu berichten. Es war im Gespräch jene Pause eingetreten, die ein Gast, der sich nicht lange aufhalten kann, gern benutzt, um sich zu entfernen. Zudem klapperte die Tochter des Hauses in der Küche etwas laut mit den Tellern und Löffeln, als wollte sie andeuten: Jetzt wird genachtmahlt, und jetzt kommt bald Einer, der auf die Stadtherren gar nicht gut zu sprechen ist. Ich nahm daher von meinem Wirth und seiner Tochter mit gebührendem Dank Abschied und steuerte meinem provisorischen Heim zu mit dem festen Vorsatz, den Lusernern sobald als möglich einen Besuch abzustatten.

Der Entschluß war wie so mancher andere leichter gefaßt als ausgeführt. Denn wen ich auch um den zu nehmenden Weg befragte, Jeder antwortete mir mit Achselzucken, und der einzige des Weges Kundige, den ich endlich ermittelte, konnte seiner Seidenraupen halber nicht abkommen. Er gab mir den Rath, bis zum nächsten Gerichtstag zu warten, da würden vielleicht Luserner Bauern nach Levico kommen, denen ich mich dann bei ihrer Heimkehr anschließen könnte. Hierauf gab er mir noch die tröstliche Versicherung, daß der Weg ohne Führer nicht wohl zu finden sei, und beschrieb mir denselben in der bekannten Weise: Zuerst rechts, dann links, dann geradeaus etc. Den Gerichtstag und das sehr fragliche Erscheinen eines Luserners konnte und wollte ich nicht abwarten, und so beschloß ich denn allein mit Hülfe meiner Karte die Tour zu unternehmen.

An einem der nächsten Tage, noch vor Sonnenaufgang, war ich auf den Beinen, überschritt die Brenta, begann den steilen Abhang zu erklimmen und erreichte nach einer langen Wanderung in der Irre, auf welcher ich genöthigt war, nicht weniger als zehn Runsen mit Lebensgefahr zu überspringen, das Dorf Lavarone, um von dort meinen Weg nach Luserna fortzusetzen.

Lavarone, ein kleines Bergnest, gehört zu jenen zahlreichen Ortschaften Südtirols, welche, ehemals deutsch, nunmehr völlig verwälscht sind. In einigen dieser Gemeinden weisen nur noch die Bezeichnungen der Berge, Thäler, Höfe und Familiennamen darauf hin, daß die Bewohner einmal Deutsche waren. Andere Ortschaften bieten Gelegenheit, den Proceß der Verwälschung zu studiren, welche dank der Lauheit der Regierung, den Agitationen der mit dem Nachbarlande liebäugelnden Italianissimi und der Romanisirungssucht der Geistlichkeit recht erfreuliche Fortschritte macht.* Allerdings hat man seit einigen Jahren begonnen, durch Gründung deutscher Schulen in den bedrohten Gemeinden der Verwälschung entgegenzuarbeiten, ob aber die getroffenen Maßregeln genügend sind, den verfahrenen Karren wieder flott zu machen, erscheint höchst fraglich.

Eine der wenigen Gemeinden, oder sagen wir lieber gleich die einzige, die in dem Kampf um die Muttersprache siegreich geblieben ist, ist Luserna, ehemals ein Glied in einer langen Kette deutscher Colonien, jetzt eine vereinsamte Sprachinsel.

Ich will den Leser mit den Details der letzten Strecke meiner Wanderung nach Luserna nicht ermüden. Nach dreistündigem Marschiren bergauf und bergab gelang es mir, meinen jugendlichen Führer, den ich in Lavarone gedungen hatte, der aber des Weges völlig unkundig war, glücklich an Ort und Stelle zu bringen, als die ersten Tropfen eines Gewitterregens niederfielen.

Das Dorf liegt am Rande des Gebirgsstockes, fast viertausend Fuß über dem Asticothale, hart an der Grenze von Oesterreich und Italien. Scheinbar senkrecht fällt der Berg nach dem genannten Thale ab, und wer von Schwindel frei einen Blick in die Tiefe sendet, erblickt unten die Kirchen und Wohnungen der Menschen wie weiße Gänseblümchen auf grünem Anger.

Die Häuser des gegen siebenhundert Köpfe zählenden Dorfes haben eine von der landesüblichen verschiedene Bauart; sie ähneln vermöge ihrer stark geneigten Dächer den thüringischen Bauernhäusern; ihr Aeußeres ist sauber, wie es auch die Dorfgassen sind.

Gleichzeitig mit mir zog eine Schaar Frauen in das Dorf ein, welche, gewaltige Bündel Gras auf dem Kopfe tragend, sich vor dem herannahenden Unwetter flüchteten. Es waren mächtige, blondhaarige Gestalten; sie hatten ein Ansehen, wie wohl die [845] germanischen Weiber der Vorzeit es gehabt haben mögen, die, auf der Wagenburg stehend, ihre Männer durch Beifall und Drohungen anfeuerten, die römischen Legionen zu durchbrechen.

Sie blickten mich neugierig an, hatten aber als Erwiderung meines „Grüß Gott“ nur ein wälsches „buona sera“. Einigermaßen verblüfft über diese Antwort, ging ich weiter.

Vor der Thür eines Hauses spielten flachsköpfige, bausbackige Kinder das Spiel, welches in meiner Heimath „Ringelringelreihe“ heißt. Hier sangen die Kinder:

„Rigna, regna,
pult un toschela*
de katz in gart,
der hunt en schatten.“

Als mich das kleine Volk wahrnahm, stockte das Spiel, und alle gafften mich an. Ich fing den Buben heraus, welcher mir der unternehmendste zu sein schien, und fragte ihn: „Wo wohnt denn der Herr Curat?“

Tiefes Schweigen. Endlich sagte ein kleines Mädchen erklärend: „Ar muanet en Pfaff“. Der Curat oder der „groasse Pfaff“ wie ihn die Luserner nicht etwa in verächtlichem Sinn nennen (der Cooperator heißt „kluaner Pfaff“), kam glücklicher Weise des Weges. Nach stattgehabter Begrüßung erklärte er sich gern bereit, mir über die interessante Gemeinde, welcher er vorstand, die erwünschte Auskunft zu ertheilen, und geleitete mich nach dem Wirthshaus.

Das war das deutsche Dorfwirthshaus, wie es im Buch steht; die hölzernen Tische und Stühle, der breite Ofen, die tickende Schwarzwälderin im Winkel, Alles war vorhanden bis auf die grellbunten Bilder, welche die Leidensgeschichte der heiligen Genoveva darstellen. Der Wirth hieß mich in seinem Idiom, welches ich aber bei aller Aufmerksamkeit nicht ohne die Erklärung des geistlichen Herrn verstand, willkommen und brachte herbei, was Küche und Keller boten: Wein, Brod, Polenta, Käse und als Hauptgericht eine geräucherte Wurst, auf deren Besitz er sich nicht wenig einzubilden schien. Es kamen auch die Honoratioren, nämlich der Herr Doctor aus Lavarone, der, auf deutschen Universitäten gebildet, natürlich der hochdeutschen Sprache mächtig war, und zwei junge Schullehrer, beide gebürtig aus Luserna und gegenwärtig in der Vacanz, da in den Gemeinden, wo sie wirkten, nur im Winter Schule gehalten wird.

Meine Wißbegierde hinsichtlich der Luserner sollte indessen nicht sofort befriedigt werden, vielmehr mußte ich meine Pflicht als Zugereister erfüllen und berichten, wie es draußen in der Welt hergehe, dazu prasselte der Regen, rollte der Donner, und vom Kirchthurm tönte das Wettergeläute, mit dem der rechtgläubige Tiroler das Gewitter zerstreuen zu können vermeint. Als sich nach einer Stunde der Himmel aufgeheitert hatte, entfernte sich der Arzt, nicht ohne mir mit süßsaurem Lächeln die Versicherung gegeben zu haben, solch ein gesunder Ort wie Luserna existire nicht noch einmal in der Welt – seit Weihnachten kein einziger Krankheitsfall!

Der Curat schlug einen Gang durch das Dorf vor, und jetzt fand ich Gelegenheit, die Leute sprechen zu hören, aber sie thaten es mit einer gewissen Schüchternheit, die sich leicht erklärt, wenn man bedenkt, daß der Luserner Dialekt den Umwohnern häufig Gegenstand des Spottes ist. Bei dem Gang durch das Dorf fiel mir die fast gänzliche Abwesenheit der Männer auf, und ich erhielt auf meine hierauf bezügliche Frage die Antwort, daß die Mehrzahl der Männer den Sommer über als Maurer und Straßenarbeiter ihr Brod in der Welt suchen, um im Winter mit ihren Ersparnissen heimzukehren. „In den Armen der Mannen liegt der Reichtum des Landes,“ sagt daher der Luserner. Die Feldarbeit wird von den Frauen besorgt, und von arbeitsfähigen Männern bleiben nur einige Handwerker und wenige andere zurück, die mit dem Vieh und der Bereitung des Käses zu schaffen haben. Ich besuchte die Käserei, welche eine wichtige Erwerbsquelle der armen Gemeinde bildet, und war durch die allenthalben herrschende Reinlichkeit angenehm überrascht.

In der Wohnung des Pfarrers angekommen, wurde ich in die daselbst besinnliche Schulstube geführt, und wenn diese auch nicht in allen Stücken dem in Wien ausgestellten Modell einer österreichischen Zukunftsmusterschule glich, so entsprach sie doch weit mehr als manche andere Dorfschule den Anforderungen, die man an eine solche stellen muß.

Hier, bei einer Tasse Kaffee und einer Cigarre, erhielt ich endlich die gewünschte Auskunft über die Luserner, und es möge das Ergebniß dieser Mittheilungen, ergänzt durch eigene Beobachtung und später gesammelte Notizen, hier Platz finden.

Die Einwohner von Luserna stammen von Deutschen ab, welche wahrscheinlich im dreizehnten Jahrhundert im Trentino und im angrenzenden Gebiete von Verona angesiedelt wurden. Sie rühmen sich nicht, wie die Bewohner der oben erwähnten sieben und dreizehn Gemeinden, daß sie Nachkommen der Cimbern seien, sondern sie leiten ihre Abstammung von einem aus Lavarone gebürtigen Bauern, Namens Nicolaus, ab, der hier oben das erste Haus gebaut habe. Merkwürdiger Weise haben auch fast alle Luserner den Familiennamen Nicolussi, dem man der Unterscheidung halber noch einen zweiten hinzufügt. Ihr Dialekt weicht von dem sogenannten cimbrischen ab, mehr noch von dem, welcher in Deutsch-Tirol gesprochen wird, und gewisse Anzeichen lassen auf eine Verwandtschaft mit dem schwäbischen Dialekt schließen. Am meisten fiel mir eine Anzahl von alten Wörtern auf, die aus dem Neuhochdeutschen und zum Theil selbst aus der conservativeren Volkssprache verschwunden sind, wie zum Beispiel: achel, Tannennadel; kutta, Schwarm (kutta van pain, Bienenschwarm); strel, Kamm; frischum, Widder; ort, Grenze; sof, Fett; hülbe, Pfütze; köden, sagen; mechlen, heirathen; prüste, schwach; lenz, faul, und viele andere. Selbstverständlich ist im Laufe der Jahrhunderte eine Anzahl italienischer Wörter in die Sprache eingeschmuggelt worden, aber der Luserner hat sie sich mundgerecht gemacht. Namentlich Körperteile (korb, Leib; petto, Brust etc.) und Geräthe tragen jetzt wälsche Bezeichnungen. Der Luserner ißt von seiner platte; er räumt die Asche aus dem Ofen mit einer palett und raucht aus einer pipa; statt rauchen sagt er piparn, aber er conjugirt weiter: du piparest, ar piparet, wiar piparen u. s. f. Er zählt nicht, sondern er zontaret; er denkt nicht, sondern er pensaret, und wenn der Bursch nach langer Trennung seine Auserwählte wiedersieht, so fragt er sie: „Amarest du mi no?“ Auch Zusammensetzungen aus beiden Sprachen kommen vor, zum Beispiel gebetliber (Gebetbuch), miserjung (miserabler Junge) und mehrere andere. Dem Einflusse der italienischen Nachbarschaft sind schließlich gewisse Redewendungen und Eigenthümlichkeiten des Satzbaues zuzuschreiben, so wie der Umstand, daß der luserner Sprache der Genitiv mangelt; er wird wie in den romanischen Sprachen durch die Präposition „von“ gebildet.

Rechnet man zu diesen hier nur kurz angedeuteten Eigenthümlichkeiten des Dialektes noch der Luserner Vorliebe für tiefe Vocale, das oa, und ua, das a, welches in den Endungen das stumme e, des Hochdeutschen häufig vertritt, ferner die meist hart ausgesprochenen Consonanten und einen das n in der Endung oft vertretenden Nasenlaut, so wird man es begreiflich finden, daß die Sprache der Luserner wie eine völlig fremde an mein Ohr schlug und daß ich mich jedesmal freute, wenn aus dem Sprachchaos ein Wort herausklang, welches mich daran mahnte, daß ich unter Deutschen sei. So zum Beispiel bezeichnete man meinen Führer, der sich nicht getraute allein nach Lavarone zurückzukehren, als „hasenfuasz“, und das kleine, etwas eigensinnige Töchterchen des Gastwirthes wurde ebenso zur Ruhe gebracht, wie ich vor dreißig Jahren von meiner Wärterin, nämlich mit der Drohung: „Asz kümt dar Wau!“

Ueberhaupt fand ich unter den mir mitgetheilten auf Aberglauben beruhenden Gebräuchen und Sagen so Manches, was mich an meine Landsleute im Norden erinnerte. Den Mondphasen (beiläufig bemerkt haben auch die Luserner ihren Mann im Monde) werden dieselben Einwirkungen auf das Wachsthum der Haare, Nägel etc. zugeschrieben, wie bei uns. Zur Vertreibung der Warzen wendet man die bekannten sympathetischen Mittel an, als Abzählen, Messen u. dgl. Die Schwalbe bringt dem Hause, an dem sie nistet, Glück, wie das vierblättrige Kleeblatt Dem, der es findet. Der Hase, welcher dem Wanderer über den Weg läuft, bedeutet nichts Gutes, und das Käuzchen gilt auch in Luserna als Todesverkünder. Verliert bei mir daheim das Kind einen Milchzahn, so wirft es denselben in ein Mausloch und spricht dazu: „Mäusle, Mäusle, da hast du ein beinernes Zähnle. Gieb mir dafür ein eisernes!“ Dasselbe geschieht auch [846] hier, nur daß kein eiserner, sondern nur bald ein neuer Zahn erbeten wird.

In den Sagen, Märchen und Spukgeschichten der Luserner spielen der Teufel, den sie michel oder selander nennen, und auch die Hexen, vor deren Tücke man namentlich die kleinen Kinder hüten muß, eine große Rolle. Ob die Hexe identisch ist mit dem „will weib“ (unter dem „wille freule“ versteht man das Wiesel), kann ich nicht sagen.

Mit Entziehung der Ruhe im Grabe werden nicht nur die Bösen, wie zum Beispiel die Grenzsteinfrevler, bestraft, sondern auch jene Beerdigten, in deren Gewändern ein Geldstück zurückgeblieben ist. Auffallender Weise findet sich in Luserna auch der Vampyraberglaube, und das Tollste dabei ist, daß nicht ein Abgeschiedener das Geschäft des Blutsaugens übernimmt, sondern die Seele eines lebenden Menschen, bei dessen Taufe irgend ein Formfehler begangen worden ist.

Ob die Luserner, wie es mir versichert wurde, dergleichen Spuk nur als Stoff für die Unterhaltung in den langen Winternächten betrachten, oder ob sie wirklich an ihre Teufel, Hexen und Vampyre glauben, wage ich nicht zu entscheiden. Wie jedes Land sein Abdera hat, heiße es nun Schilda, Lalenburg oder Wasungen, so auch unsere Sprachinsel. Hier heißen die närrischen Käuze, die den Ochsen auf die Stadtmauer zogen, „Karauner“, und wer die Schwänke der Schildbürger kennt, der kennt auch die Karaunerstreiche.

Noch sei der eigenthümlichen Flunkerei gedacht, mittelst welcher die Luserner Mütter gewisse lästige Fragen der Kinder beantworten. Wenn in Deutschland ein Kind an die Eltern die Frage richtet: „Wo kommen denn eigentlich die kleinen Kinder her?“ so denuncirt die Mama gewöhnlich den Storch, und wenn die ungläubige Range darauf erwidert: „Aber der Herr Lehrer hat in der Naturgeschichte nichts davon gesagt,“ dann legt sich der Papa in’s Mittel, räuspert sich und spricht höchst weise: „Wo die Kinder herkommen, das ist ein Naturgeheimniß, welches die Gelehrten noch nicht ergründet haben.“ Ich hoffe mir den Dank unzähliger Eltern zu verdienen, indem ich ihnen mittheile, wie die Luserner Eltern sich in einem solchen Falle helfen. „Die Kinder,“ sagen sie, „bringt die Frau Klafter, die am Bach von Ueasn wohnt; sie hat die Kinder in großen Fässern und füttert sie mit Lehm.“ Wenn es donnert, so sagt man in Luserna nicht wie in manchen Gegenden Deutschlands: „Die Engel spielen Kegel,“ sondern: „Die Frau Klafter spült ihre Fässer aus.“

So viel über der Luserner Sprache und Sage.

Diese Sprachinsel nun besaß bis vor sechs Jahren nur eine italienische Schule, die auch heute noch neben der deutschen besteht. Das Verdienst, die letztere in’s Leben gerufen zu haben, gebührt keinem Anderen als meinem geselligen Gastfreund, dem Curaten Franz Zuchristian. Anfangs nur auf seine eigenen Kräfte angewiesen, erhielt er, nachdem die Erfolge seiner rastlosen Thätigkeit für die Lebensfähigkeit der deutschen Schule ein glänzendes Zeugniß abgelegt halten (die Schule wurde im vorigen Winter von hundertdreißig Kindern besucht), endlich von Seiten der Regierung eine jährliche Unterstützung, die er in der uneigennützigsten Weise zum Besten der seiner Obhut anvertrauten Kleinen verwendet.

Möge der edle „Pfaff“ noch lange der Gemeinde Luserna erhalten bleiben!

Der Tag, der mir so Mannigfaltiges geboten, wurde, wie es sich von selbst versteht, beim Läuten der Becher zu Grabe getragen. Auch das lange Sitzenbleiben ist eine germanische Eigenthümlichkeit, die sich auf der vereinsamten Sprachinsel in ihrer ganzen Reinheit erhalten hat.

Außer dem Curaten fanden sich bei der Abendsitzung im Wirthshaus auch die beiden obengenannten Lehrer ein, und der eine brachte leider ein Buch mit, welches den Titel führt: „Lusernisches Wörterbuch“ und Dr. Ignaz von Zingerle zum Verfasser hat – leider sage ich, denn selbstverständlich brachte ich das Buch später in meinen Besitz, und gegenwärtig, da ich dies niederschreibe, liegt es nicht weit von mir und folglich die Versuchung, mich mit fremden Federn zu schmücken, sehr nahe.

Der rothe Tirolerwein, den der Wirth in großen Krügen unermüdlich herbeischleppte, wurde durch heitere Gespräche gewürzt. Der Curat hatte in seiner früheren Eigenschaft als Feldpater manches lustige Stückchen erlebt, das er jetzt zum Besten gab, und ich meinerseits erzählte allerhand Streiche, die ich und Meinesgleichen dereinst auf der Alma mater verübt hatten. Zu später Stunde trennten wir uns, als ich aber am anderen Morgen mein Bündel geschnürt hatte, kamen die Herren noch einmal, um mir Lebewohl zu sagen.

Mit herzlichem Dank schied ich von dem geistlichen Herren, die beiden Lehrer aber ließen es sich nicht nehmen, mich ein paar Stunden weit zu begleiten, bis ich den Weg nicht mehr verfehlen konnte. So erreichte ich denn die sogenannte neue Straße, welche allerdings auch sehr beschwerlich war, aber doch keine salti mortali nöthig machte, und gelangte in einigen Stunden nach Levico, wo die geputzten Badegäste mich mit spöttischen Blicken musterten und mir ihr Bedauern ausdrückten, daß ich den gestrigen Ball im Curhaus versäumt habe.

Dr. Baumbach.




[844] * In Roncegno war im vorigen Jahrhundert noch ein deutscher Geistlicher angestellt; in Pergine wurden noch in diesem Jahrhundert deutsche Predigten gehalten, während gegenwärtig daselbst fast Niemand mehr der deutschen Sprache mächtig ist. Der Gebrauch derselben wurde in manchen Gemeinden den Kindern von den Seelenhirten verboten, ja, in Terragnuolo ging ein Priester, Namens Slosser, so weit, den in deutscher Sprache Beichtenden die Absolution zu verweigern.

(Dr. I. von Zingerle.)

[845] * Polenta und frischer Käse.