Eine Vorlesung über und für Kinderwärterinnen und Erzieherinnen
Was immer der Mann für einen Beruf erwählt, er muß erst jahrelang darauf losstudiren und dazu lernen. Dagegen lernt das Weib für die wichtigste ihrer Lebensaufgaben, für die Erhaltung und Erziehung des Kindes in seinen ersten Lebensjahren, geradezu nichts oder höchstens Dummes und Schädliches von Groß- und Schwiegermüttern, von Tanten und Muhmen. Als ob der liebe Gott dem Weibe im Schlafe den Verstand für seinen Beruf gegeben hätte, und als ob Mädchen und Frauen bei ihrem kleinern Verstandesorgane (Gehirn) und bei ihrer zur Zeit noch äußerst mangelhaften Schulbildung nicht einer längeren und gründlichern Vorbereitung für ihren so äußerst wichtigen Beruf als der Mann bedürften!
Soll die Menschheit anders und besser werden, so muß man auf die Erziehung der Menschen in ihren ersten Lebensjahren sein Hauptaugenmerk richten, denn in diesen Jahren wird der Grund für das ganze übrige Leben gelegt, und alles Gute und Schlechte, was der Erwachsene thut, verdankt er seiner ersten Jugend. Die Unmasse der verschiedensten Aberglauben und Glauben, die Unzahl der Unarten und Laster stammt aus der frühesten Kindheit; Nichts davon ist angeboren, Alles anerzogen.
Man trenne sich doch ja endlich einmal von dem Gedanken, daß der Verstand beim Kinde später schon noch kommt und mit dem Verstande auch der Sinn für das Gute, die Tugend. Damit ist’s nichts. Vom ersten Augenblicke des Lebens an beginnt schon mit Hülfe der Eindrücke durch die Sinne und das Gefühl innerhalb des Gehirns die Entwickelung des Selbstbewußtseins, des Verstandes, des Gemüthes und Willens, und ganz allmählich schreiten bei richtiger Uebung und Gewöhnung diese sogen. geistigen Thätigkeiten und die damit innig verbundenen moralischen Eigenschaften ihrer Vervollkommnung zu, während sie bei falscher Anregung in Folge unpassender Eindrücke zum Bösen ausarten.
Das Hauptgesetz bei der geistigen und moralischen Erziehung des Menschen läßt sich mit wenigen Worten ausdrücken und lautet: man halte Alles vom Kinde ab, an was es sich nicht gewöhnen soll, und wiederhole dagegen beharrlich das, was ihm zur andern Natur werden soll. Man bedenke dabei stets, daß das Kind zunächst vorzugsweise durch Nachahmung lernt, ebenso Schlechtes wie Gutes, und deshalb sorge man für gute Vorbilder. Erziehen Eltern von mehreren Kindern das erste Kind nur recht gut, dann wird dieses den andern als gutes Vorbild dienen und den Eltern das so schwierige Geschäft der Erziehung sehr erleichtern.
Was die körperliche Behandlung des kleinen Kindes betrifft, so ist vor Allem auf die richtige Ernährung durch passende Nahrungsmittel, auf ordentliches Athmen in guter (reiner, warmer) Luft und auf naturgemäße Pflege der Haut und Sinne zu achten.
Nach diesen wenigen, aber die Hauptregeln der Erziehung enthaltenden Vorbemerkungen wenden wir uns nun zu den Kinderwärterinnen (Ammen, Muhmen und Kindermädchen). Sie sind es leider, die in den meisten Familien dem Kinde als Vorbilder und [264] Erzieher dienen müssen, denen das Kind ebenso seine guten wie schlechten Eigenschaften, und in den allermeisten Fällen auch seine Gesundheit wie Krankheit zu verdanken hat, weil sie es sind, mit denen das Kind die meiste Zeit umgehen muß. Würden die Mütter ihre Kinder überhaupt so wenig als nur möglich Wärterinnen anvertrauen, oder würden sie wenigstens in der Wahl und Beaufsichtigung derselben gewissenhafter zu Werke gehen, sicherlich würden sie, vorausgesetzt nämlich, daß die Mütter selbst verständig und zum Erziehen reif genug wären, an ihren Kindern weit mehr Freude erleben, als dies zur Zeit der Fall ist. – Furcht, Ekel, leichtes Erschrecken, Aberglauben, falsche Gemüthsstimmungen sind bei Kindern schlechte Angewöhnungen, die sich in der Regel, ebenso wie üble Gebehrden, durch Nachahmung von der Wärterin (oft freilich auch von den Eltern) auf das Kind übergetragen haben und in den späteren Lebensjahren nicht so leicht wieder abzugewöhnen sind, die sich übrigenn die Meisten auch gar nicht abzugewöhnen bestreben, da man dieselben als angeboren, ererbt, mit der Mutter- oder Ammenmilch eingesogen, als Folgen der Constitution (besonders der nervösen) oder des Temperamentes (zumal des reizbaren, sanguinischen, cholerischen) und deshalb als unabänderlich ansieht.
Eine mürrische oder traurige, mundfaule, brummige Kindermuhme wird ganz gewiß aus ihrem Pflegling, der ja seiner Pflegerin Alles nachmacht, kein freundlich-lächelndes, jauchzend-zappelndes Kind erziehen, wie dies ein redseliges, heiteres, mit dem Kinde scherzendes und tanzendes, singendes Kindermädchen thut. Freundlichkeit in der Stimme und Miene, im Blick und überhaupt im ganzen Benehmen gegen das Kind ist deshalb ein Haupterforderniß einer guten Wärterin, denn diese Freundlichkeit übt den größten Einfluß auf die Entwickelung des Gemüthes im Kinde aus. – Eine Wärterin, die vor Spinnen, Raupen, Würmern, Mäusen und dergl. Thierchen unter den Gebehrden des Schreckens oder Ekels Widerwillen zeigt, wird sehr bald auch im anvertrauten Kinde diesen unverständigen Widerwillen erzeugen; ebenso wie die Furcht vor Gewitter, Finsterniß, Alleinsein u. dgl. recht leicht dem Kinde durch seine Umgebung angewöhnt werden kann. – Es ist ferner für die Entwickelung des musikalischen Gehörs und der Liebe zur Musik gar nicht egal, ob ein Kind von einem jungen, melodisch und reinsingenden Trinchen, oder von einer alten, heiser und mißtönig krächzenden Trine gewartet wird, ob es öfters einen alten verstimmten Klimperkasten oder ein gutes Instrument spielen hört.
Sehr gefehlt wird von den Erziehern und Wärterinnen kleiner Kinder während der Entwickelung und Ausbildung der Sprache, die ja nur durch das Nachahmen des gehörten Vorgesprochenen zu Stande kommt. Anstatt durch deutliches und richtiges Vorsprechen, sowie durch gleichzeitiges Vorzeigen der eben genannten Gegenstände, Laut und Vorstellung in inniger Verbindung mit einander dem Gehirne ordentlich einzuprägen, verunstaltet man die meisten Worte und lehrt dem Kind ein Kauderwälsch, welches sich nur schwer wieder abgewöhnen läßt. – Ebenso werden leider nur zu häufig kleinen Kindern durch ungebildete Dienstleute schlechte Redensarten und Heucheleien beigebracht, die anfangs sogar von den Eltern dem klugen Kinde als possirliche angerechnet werden, später aber, wenn das Kind allmählich verständiger wird, zu groben Fehlern heranwachsen.
Der häufigste Grund zur Verziehung des Kindes, vorzugsweise zur Entwickelung des Eigensinnes, wird durch das Herumtragen, Schaukeln, Wiegen und Einsingen gelegt, weil diese Bewegungen im Kinde allmählich ein Behaglichkeitsgefühl erzeugen, welches, wenn es nicht befriedigt wird, dasselbe zum Schreien veranlaßt. So entwickelt sich nach und nach beim Kinde die Gewohnheit, durch Schreien die Erfüllung seiner Wünsche zu erzwingen, und es kommt dann, wenn die Eltern und Wärterinnen so schwach sind, diesem Eigensinn des schreienden Kindes nachzugeben, recht bald dahin, daß das Kind bei jeder Verweigerung seines Willenn trotzt, starrt, bis zum Steckenbleiben schreit und unbändig wird, was schwache Eltern wohl gar noch für krampfhaft erklären und vom Arzte mit Medicin wegcurirt haben wollen. Jetzt soll nun erst mit Schlägen eine Unart aus dem Kinde vertrieben werden, die in Folge der früheren verkehrten Erziehung (Gewöhnung) sich bilden mußte. Verdienten nicht weit mehr die Eltern als das Kind diese Schläge?
Wie das trotzige Schreien eines Kindes zum Erzwingen des Gewünschten, sodann die Bildung des widerwärtigsten Eigensinnes und selbst Jähzornes die Folge eines anfangs scheinbar ganz unschuldigen Gebahrens des Kindes und Nachgebens von Seiten der Erzieher ist, ebenso entwickeln sich die schimpflichen Laster des Heuchelns, Lügens und Stehlens meistens aus einem „niedlichen“ Gethue den Kindes, wofür es nämlich die Erzieher ansehen. Ja als schon recht klug und verständig bewundern sie das Kind, wenn es sich, allerdings oft auf recht komische Weise, verstellt, oder eine scherzhafte Unwahrheit sagt, oder mit List Etwas unrechtmäßig an sich bringt. Aber diese den Eltern gar nicht selten große Freude bereitenden Thaten im ersten Kindesalter sind es, welche mit dem Kinde zu Unthaten heranwachsen, die durch die Schule nicht mehr zu tilgen sind und den Eltern später das Herz brechen. Jedoch sind solche Eltern stets weit entfernt, sich selbst die Schuld an der Verworfenheit ihrer erwachsenen und der erduldeten falschen Erziehung wegen mehr beklagens- als verdammenswerthen Kinder zuzuschreiben; sie betrachten das Nichtgerathensein eines Kindes als ein unverdientes Unglück oder die Lasterhaftigkeit wohl gar als ein unabänderliches Angeborensein.
Einem Kinde eine gute Erziehung zu geben, ist übrigens dann gar nicht so schwer, sobald man dasselbe von frühester Jugend an zum Gehorchen gewöhnt hat. Freilich läßt sich der Gehorsam dem Kinde nur durch die konsequenteste und gleichförmigste Behandlung beibringen. Man verbiete nicht zuviel und Unerhebliches, überhaupt Nichts, was man nicht wirklich hindern kann, und niemals im Scherze oder mit Lachen, oder im Zorne mit heftigen Gebehrden, sondern ruhig und mit wenigen Worten. Was dem Kinde einmal befohlen wurde, muß es vollziehen und jedem Verbote muß es sofort Folge leisten; was sich das Kind nicht angewöhnen soll, aber doch thut, darf demselben nicht blos manchmal (wie es gerade die Laune der Mutter und Erzieherin mit sich bringt), sondern muß stets, wenn es geschieht, verboten werden, bis ihm endlich dieses unrechte Thun und Treiben ganz unmöglich wird. Den Gehorsam des Kindes zu erbitten und zu erschmeicheln oder wohl gar durch Versprechungen und Belohnungen zu erlangen, ist ein großer Fehler bei der Erziehung. Ueberhaupt versehen es die meisten Mütter darin, daß sie über ein ganz unschuldigen Gebahren des Kindes, wie über das zufällige Beschmutzen der Kleider und das Zerbrechen von Gegenständen, über lautes und lebhaftes Benehmen des Kindes während eines Besuches etc., lange Strafpredigten, oft in großem Zorne, halten, während sie wirklich unmoralische Vergehen stillschweigend zulassen. Man trifft’s in Familien wohl auch, daß stolze Mütter den Wärterinnen gar nicht erlauben, dem unartigen Sprößlinge Etwas zu verbieten, sodaß dieser recht bald in der Heuchelei so weit kommt, daß er unter den Augen der Eltern artig zu sein sich bestrebt, während er an den Dienstleuten sein Müthchen kühlt und so zu einem inhumanen, seine Untergebenen maltraitirenden, also verächtlichen Menschen heranwächst.
Kurz, zum Guten wie zum Schlechten wird beim Menschen der Keim in seiner ersten Jugendzeit gelegt (nicht etwa mit auf die Welt gebracht), uno dabei helfen die Wärterinnen getreulich mit.
Darum muß diesen, wie nächstens noch weiter besprochen werden soll, weit mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden, als dies zur Zeit geschieht.