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Eine Vision

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Textdaten
Autor: Rudolf Lavant
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Titel: Eine Vision
Untertitel:
aus: Der Wahre Jacob
Herausgeber:
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1892
Verlag: J. H. W. Dietz
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Erscheinungsort: Stuttgart
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Quelle: Scan
Kurzbeschreibung:
Der Wahre Jacob, Nr. 142, Seite 1165
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[1165]

Eine Vision.
Gedicht von Rudolf Lavant. - (Hierzu die Illustration auf Seite 1164.)

Im dunklen Wald; der schweigend sie umringt,
Liegt in der Winternacht die alte Schmiede.
Der nerv'ge Mann, der drin den Hammer schwingt,
Hat weder Lust noch Mut zu munt‘rem Liede,

5
Das man im Takte zu der Arbeit singt,

Denn seiner ernsten Seele fehlt der Friede,
Und düster sieht man seine Augen blitzen,
Wenn goldne Funken von dem Eisen spritzen.

Vom Feste fuhr nach seinem Schloß der Graf;

10
Ein Rad zerbrach auf ausgefahr'nem Wege.

Der Schmiede Leute weckt er aus dem Schlaf
Und heischt, daß Hand ans Werk man eilig lege,
Den Schaden bessernd, der den Wagen traf.
Rasch sind denn auch die ruß'gen Männer rege,

15
Bald kann die Pferde wieder vor man spannen

Und heil und risch rollt das Gefährt von dannen.

Und in den Schlummer sinkt der Wald zurück,
Aus dem ihn aufgeschreckt der Hämmer Schlagen.
Der düstre Blick des Schmiedes folgt ein Stück

20
Dem hengstgezog’nen, üppig-weichen Wagen,

Als sähe er ein nie erhaschtes Glück
An sich vorüber in den Nebel jagen,
Und es vollzieht vor seinem starren Schauen
Allmählich sich des Tages fahles Grauen.

25
Er murrt für sich: „Das war Sylvesternacht!

Tagaus, tagein muss ich den Hammer schwingen,
Doch Mühe hat das alte Jahr gebracht
Und Müh’ und Plage wird das neue bringen,
Und ob mein Feuer früh und spät entfacht ―

30
Nur kargen Lohn vermag ich zu erringen,

Bis mir dereinst nach arbeitsvollen Wochen
Das Mark verdorrt in alten morschen Knochen.

Es ist ein Unrecht, das gen Himmel schreit!
Ungleich bedacht hat das Geschick uns Beide.

35
Bei mir der Mangel und die Dürftigkeit

Und grobe Kost im rauhen, plumpen Kleide ―
Dort Ueberfluß und Goldgediegenheit
Und Glanz und Pracht und eitel Sammt und Seide!
Wie lange müssen diesen Kelch wir trinken

40
Und wird uns niemals die Erlösung winken?“


Da füllt der Wald sich wie mit Rosenduft
Durch eines Zaubers märchenhaftes Walten
Und vor ihn tritt, wie ein Gebild der Luft,
Die ernsteste und schönste der Gestalten,

45
Die man sich träumt in eine Felsenkluft,

Wo stille Wache gute Feen halten.
Die Palme sieht er in der Rechten winken,
Gesprengte Fesseln aber in der Linken.

Ein wunderbares, ein Verklärungslicht

50
Geht aus von diesem lieblich-ernsten Bilde,

Der Mund jedoch, der öffnet sich und spricht
Voll seelenvoller Innigkeit und Milde:
„Du armes Volk der Arbeit ― zage nicht!
Ich decke dich mit meinem Demantschilde

55
Und werde dich in bessern, schönern Tagen

Von jedem Leid befrei‘n, das du getragen!

Doch kann und wird es früher nicht geschehen,
Bis mich das Volk mit ganzer Seele rief,
Bis Alle, Alle fest zusammenstehen,

60
Die da geeint der Arbeit Adelsbrief.

Dann wird als Segen durch die Lande gehen
Ein ew‘ger Friede, wunderbar und tief!“
Und eh‘ ein Wort der Staunende gefunden,
War die Gestalt zerflossen und verschwunden.