Eine Secte und ihr Letzter
[172] Eine Secte und ihr Letzter. Eine Viertelstunde vom Markte Schlanders im Vintschgau (Südtirol) liegt hart am Etschufer das Dörfchen Göflan, ein Haufen armseliger Hütten, zu dessen Gemeinschaft auch noch einige an den Halden des Mittelgebirges verstreute Einzelhöfe zählen. Einer dieser letzteren beherbergt zur Zeit noch den letzten Repräsentanten einer kleinen Secte, welche vor ungefähr fünfundzwanzig Jahren sich von der katholischen Kirche lossagte und mit der eisernen Festigkeit, die den tiroler Landmann in allen seinen Entschlüssen und Handlungen kennzeichnet allen Anfechtungen Trotz bot, bis man sie schließlich, da sie gar keinen Versuch machte, sich neue Anhänger zu erwerben ruhig gewähren ließ. Einen besondern Namen hat diese Secte, welcher nur eine einzige Familie angehörte nie geführt; die Göflaner nannten sie „die Lutherischen auf dem Wipenhofe“. Wie mir ein alter Bauer erzählte, hatte einst ein Geistlicher ein Mädchen aus dieser Bauernfamilie verführt und hierdurch diesen Leuten einen solchen Abscheu vor seinem Stande eingeflößt, daß sie einen feierlichen Schwur thaten, die Kirche nie mehr zu besuchen, weder Messe zu hören noch zu beichten oder zur Communion zu gehen. Sie haben diesen Schwur auch ehrlich gehalten. Alle Versuche von geistlichen und auch weltlichen Behörden blieben fruchtlos, und als endlich selbst der Bischof von Trient, der sich die Mühe nahm, zu dem einsamen Berghofe emporzuklimmen, von den entschlossenen Leuten ziemlich derb abgefertigt worden war ließ man sie in Ruhe. Mit ihren Nachbarn lebten sie stets in gutem Frieden und erwarben sich, wie mir versichert wurde, die allgemeine Achtung und Zuneigung. Sie hielten übrigens die katholischen Dienstboten, welche auf dem Hofe lebten, strenge zum regelmäßigen Kirchenbesuche an, obgleich sie selbst, ihrem Vorsatze getreu, nie die Schwelle der Kirche überschritten. Sonntags beteten sie gemeinschaftlich stundenlang.
Das Haus, in dem diese merkwürdigen Leute, die jetzt alle bis auf einen Mann gestorben sind, lebten, bietet außer einer ungewöhnlichen Reinlichkeit nichts Besonderes dar. Die große Stube im Erdgeschoß ist, wie landesüblich, mit einer Unmasse von grell gemalten Heiligenbildern behängt und unterscheidet sich nicht im Mindesten von den Räumen anderer tiroler Bauernhöfe. Nur der sonst unvermeidliche kleine Weihbrunnkessel neben der Thür fehlte hier natürlich, da die Leute, um Weihwasser zu holen, ja hätten in die Kirche gehen müssen.