Eine Schatzkammer deutschen Humors
Wer sich lebhaft vergegenwärtigen will, welch ein nationales Gut Deutschland an den „Fliegenden Blättern“ besitzt, die jetzt das Jubelfest ihres halbhundertjährigen Bestehens, den Beginn des hundertsten Bandes in jugendlicher Frische feiern, der möge nur den Versuch machen, sie aus den Erinnerungen seines Lebens wegzudenken, von den vielen heiteren Stunden an, wo man daheim und auf Reisen die wohlbekannten rötlichen Bogen stets zuerst zur Hand nimmt, bis in ferne Jugendzeiten zurück, wo man Verwandte, die sie hielten, mit Vorliebe besuchte, um nach den notdürftigsten Begrüßungsworten sofort über den Stoß der „Fliegenden“ herzufallen! Die Lücke würde gar zu groß sein und durch keines der anderen Witzblätter gefüllt werden, denn was den „Fliegenden Blättern“ das eigenartige Gepräge und den bleibenden Wert verleiht, das ist eben die Vermeidung der politischen Satire mit ihren dem Tage dienenden und rasch vergänglichen Effekten. Abgesehen von den Jahren, da die Wellenkreise der Revolution alles erfaßten, hielten sich die „Fliegenden Blätter“ stets und halten sich noch abseits von Politik, – auf dem großen Gebiet der menschlichen Thorheiten und Schwächen, die bekanntlich im Laufe der Zeiten nur das Kleid wechseln. Deshalb ist die Betrachtung der ältesten Nummern heute noch eben so ergötzlich wie im Jahre 1844, wo sie von dem Münchener Freundespaar, dem Xylographen Kaspar Braun und dem Verleger Friedrich Schneider, ohne alle Reklame in die Welt gesetzt und sofort von ganz Deutschland aufs beifälligste begrüßt wurden. Spiegelte sich ja doch in ihnen der echte Münchener Humor, die Verbindung von harmloser Lustigkeit und treffender Satire, begleitet von einem romantisch-poetischen Hauch, welcher sich schon in der bis zum heutigen Tag unveränderten Titelvignette deutlich ausspricht und, obgleich jetzt nicht mehr so stark betont wie in jenen vormärzlichen Zeiten, doch durchaus nicht aus dem Zusammenhang des Ganzen entschwunden ist.
Wie viele Dahingegangene steigen vor dem innern Auge auf beim Durchblättern jener alten Bände! Da ist zuerst Kaspar Braun selbst, der höchst talentvolle Zeichner und Holzschneider, welcher im Anfang die Illustration des Blattes so ziemlich allein besorgte und nur an technischer Bildung, nicht an komischer Kraft hinter seinen berühmtesten späteren Zeichnern zurücksteht. Eisele und Beisele, die unsterblichen Reisenden, sind sein Werk, [27] Wühlhuber und Heulmaier, sowie die köstlichen Charakterfiguren aus dem Jahr achtundvierzig mit abgerissenen Hosen und wilden Demokratenbärten, deren einer dem mitleidig mit Brot und Wurst nahenden Wohlthäter die tiefempfundene Antwort giebt: „Hunger hawwe mer keen, edler Volksfreund, awwer Dorscht, viel Dorscht!“
Nach Franzosien, nach Franzosien, |
Nach Neuyorkien, nach Neuyorkien | ||
Nach dem Rheine, nach dem Rheine |
Teutscher Wein und teutsche Eichen! | ||
Dahin, Alter, werd ich ziehn! | |||
Aus Eichrodts „Wanderlust“. |
Das hochreaktionäre Ministerium Reigersberg nahm derartige Scherze übel und ließ mehrmals das Blatt mit Beschlag belegen. Hierauf erschien darin an erster Stelle eine ernsthafte Erklärung, welche die Verlegung der „Fliegenden Blätter“ „ins Ausland“ verkündigte, da durch die wiederholten Konfiskationen die rechtzeitige Versendung zu sehr beeinträchtigt werde.
Und siehe! die ganze Gesellschaft der Titelzeichnung trug Turbane, ebenso alle im Blatt dargestellten Figuren: die „Fliegenden Blätter“ waren in die Türkei ausgewandert. Ein Bild zeigt den Redakteur Braun als Türken krank im Bette liegend, während ihm ein heilkundiger Anhänger des Propheten den betreffenden Artikel des Preßgesetzes in Gestalt eines großen Knödels eingiebt. Dann veranschaulicht Pocci in einer von Mutwillen sprühenden Bilderfolge die Uebersiedlung des Staatshämorrhoidarius mit Bureau und Akten nach Stambul; der leichtsinnige Jüngling Federmayer hat sein Haupt mit einem Fez geschmückt, während sein Chef unter einem Riesenturban würdevoll zur ersten Audienz beim Sultan schreitet etc. etc. Die „Fliegenden Blätter“ hatten die Lacher auf ihrer Seite und hinfort unterblieb die Konfiskation.
Anfang der fünfziger Jahre erschien auch die „Wanderlust“ von Ludwig Eichrodt, der mit einem an Scheffel mahnenden Humor das damalige Auswanderungsfieber lyrisch verwertete, von Braun mit köstlichen Humor illustriert. Scheffels erste Gedichte stehen gleichfalls, wenn auch ohne Namen des Autors, in jenen Jahrgängen. Besonders ergötzlich sind die nachmals nicht in „Gaudeamus“ aufgenommenen Abenteuer des Bruder Straubinger. Der seiner Zeit viel citierte Vers:
„Zu Madras in dem Hindostan
Kehrt’ ich bei einer Kneipe an,
Gung hinein und schrie:
Ist keiner von Böblingen hie?
Nein, aber von Ellwangen! rief ganz hinten ein alter Brahmine.“
war auf einen studienhalber nach Indien gegangenen schwäbischen Philologen gemünzt. Und nachdem die Frankfurter Erlebnisse mit dem Reichskommissar, der „hernach behauptete, Gestalten gesehen zu haben“, und die Wiener Revolution abgehandelt sind, schließt der Erzähler seinen Bericht mit den wehmütigen Zeilen:
„Und jetzt nach diesen Leiden all
Sitz’ ich am Niagarafall
Und denk’ bei dem Schaum:
O du schöner Traum
Von der deutschen Einheit im Jahr achtundvierzig!“
[28] Wie lang ist die Reihe der hervorragenden Männer, die damals in der Redaktionsstube am Dultplatz aus und eingingen, heute aber sämtlich unter der Erde ruhen! Schwind mit seinen reizend graziösen „Liebesliedern“ und anderen Zeichnungen, die er in Zeiten, wo es mit sonstigen Bestellungen übel aussah, gern für Braun und Schneider machte; Spitzweg, der liebenswürdige Humorist, Heider, der Schöpfer von Petermanns Jagdabenteuern, Feodor Dietz, sogar C. Piloty und außerdem noch eine lange Reihe von Freunden und Genossen! Auch die Novellen, Gedichte, Schwänke und Märchen würden, wenn sie nicht anonym wären, zum Teil hervorragende Namen der damaligen Litteratur aufweisen: Franz v. Kobell, Trautmann, Ludw. Steub, Alfred Meißner, E. Geibel, F. Bodenstedt, Martin Schleich, Märzroth u. a. sind darin vertreten, auch Levin Schücking mit einer poetischen und von dem früh verstorbenen Muttenthaler in großem Stil illustrierten Geschichte „Drei Freier“, worin eine schöne stolze Augsburgerin drei schauerliche Nachtfahrten thut mit dem Ewigen Juden, dem Wilden Jäger und dem Fliegenden Holländer. Die Jugend von heute liebt solche Geschichten nicht mehr, aber welch grausiges Entzücken empfanden wir darüber mit sechzehn Jahren!
Zwei von den allerältesten Mitarbeitern indessen leben heute noch und liefern gelegentlich ihren Beitrag: Carl Stauber, der Erfinder und Zeichner des „Herrn Blaumeier und seiner Frau Nanni“, einer der produktivsten von allen, der mehr als 6000 Illustrationen im ganzen lieferte, und Eduard Ille, der so durchaus eigenartige Humorist, der die Biedermaierlieder von Ludwig Eichrodt durch seine köstlich echten Urgroßvaterbilder schnell volkstümlich gemacht hat und überall, wo seine unverkennbare Handschrift steht, als Maler-Poet hervorleuchtet. So vor allem in der Festnummer 1000 vom Jahre 1864, worin Kaulbachs bekanntes Reformationsbild mit wahrhaft genialem Humor parodiert ist.
Von Mitte der fünfziger bis Anfang der sechziger Jahre war etwas wie Ermüdung und Niedergang in Text und Illustrationen der „Fliegenden Blätter“ zu spüren, um diese Zeit aber erschien als Vorbote einer neuen Aera das erste Blatt von W. Busch. In ganz kurzer Zeit war er eine anerkannte Größe und seine den „Fliegenden Blättern“ entnommenen lustigen Unglücksbilder befanden sich in aller Hand. Die von Braun und Schneider verlegten „Münchener Bilderbogen“ [29] sicherten ihnen eine ungeheure Verbreitung. Eines der schönsten, „Adagio“ aus der Bilderreihe „Der Virtuos“, findet sich unter unseren Abbildungen.
Und nun ging es mit Macht einer neuen Blütezeit zu, denn nun erstanden in ununterbrochener Folge die bedeutenden Zeichnertalente: Oberländer, Harburger, W. Diez, Erdmann Wagner, Albrecht, Bauer, Flashar, Bechstein, Grätz, Mandlik, Meggendorfer, Hengeler, v. Nagel, Schlittgen, E. und R. Reinicke, Steub, Stuck, Zopf, Gehrts, H. Vogel, Simm u. a., deren Beteiligung schon Anfang der siebziger Jahre das Blatt zu glänzender Höhe hob und ihm seither den ersten Rang unter den humoristischen Blättern verschafft hat.
Vor allem leuchten Oberländers Bilder hervor. Was er macht, ob afrikanische Wüstenlöwen oder deutsche Musensöhne, ob phantastische Traumerscheinungen oder Randzeichnungen aus dem Schreibheft des kleinen Moritz, Bilder aus dem Soldaten- oder aus dem Vagabundenleben, wie das unvergleichliche „Fidele Gefängnis“, überall ist er ein Künstler ersten Ranges, ein Krösus an glänzenden, tiefsinnigen und hinreißend komischen Einfällen, wie Deutschland niemals zuvor einen besessen hat, noch gleichzeitig einen zweiten besitzt. Auch Harburger ist ein Meister der Charakteristik; seine Trinker, Wirte und Hausknechte scheinen nicht minder frisch aus dem Leben aufs Papier gebracht als die Professoren, Dichter und Schauspieler und sind doch geistgeboren wie jedes echte Kunstwerk. Ohne geniale Schöpfergabe wäre es nicht möglich, so die Einzelfigur als Typus des Standes und Charakters darzustellen, wie dies Harburger stets in unvergleichlicher Weise versteht. Der „gewissenhafte Wirt“ und sein Hausknecht in spe liefern dafür den besten Beweis. Es würde viel weiter führen, als der diesen kurzen Betrachtungen gewidmete Raum erlaubt, noch alle anderen glanzvollen Leistungen einzeln hervorzuheben: Vogels reizend poetische Märchenbilder, Schlittgens eigenstes Gebiet des eleganten Militärlebens neben den auch von E. Wagner, R. Reinicke, Flashar und Zopf so vorzüglich geschilderten Salonscenen und häuslichen Ereignissen. Ein getreues Bild unserer modernen Gesellschaft sieht uns aus diesen kleinen Meisterwerken entgegen, deren viele von einem außerordentlichen Reiz der Zeichnung und Charakteristik sind. Ebenso verhält es sich mit den prächtigen Reiterbildern von Nagel und W.Diez; hier wird der spaßhafte Einfall immer von einer ganz ernsthaften Kunst begleitet, die augenblicklich wohl ein Lächeln des Humors zeigt, aber nie zur Karikatur wird. Herzerfreuend und zwerchfellerschütternd dagegen behandeln diese, nächst Oberländer, die Meister E. Reinicke, Steub, Grätz, Bechstein, Hengeler und manche andere; es ist geradezu unmöglich, dem plötzlichen Eindruck dieser Soldaten- und Bauernbilder zu widerstehen.
Ueber der Betrachtung des so wertvollen künstlerischen Teils darf aber nicht vergessen werden, welch eine Summe von Geist und Humor auch in dem Text, oft nur in einigen Zeilen der Unterschrift, niedergelegt ist. Der bloße Wortwitz, dessen Pointe im Aussprechen liegt, ist so gut wie ausgeschlossen, es sind meistens vortrefflich komische Einfälle, oft auch solche, welche die Vorstellung im Leser durch eine rasche Gedankenfolge erzeugen, ohne sie direkt auszusprechen, und deshalb um so unwiderstehlicher wirken.
Unter dem anspruchslosen Titel „Gedankensplitter“ stehen häufig Sätze von so hoher Vortrefflichkeit, daß sie in sehr berühmten Aphorismensammlungen zu glänzen verdienten. Eine Fülle von ausgezeichneten humoristischen Einfällen giebt ferner der bekannte Naturforscher v. Miris in seinen gelehrten Abhandlungen. Und welche Heiterkeit erregt „Mikado“ mit seinen unwiderstehlichen sächsischen Balladen!
[30] Man kann wohl sagen, so wie die Bilder der „Fliegenden Blätter“ das äußere Leben der deutschen Nation spiegeln, so ist der – bekanntlich von überallher beiströmende – Text als Gradmesser des deutschen Humors in allen seinen Schattierungen zu betrachten. Und da wird man, trotz des vielgehörten Jammers über Nervosität und „Decadence“, sich nur freuen können, wieviel prächtige Laune, wie viel guter und schlechter Witz heute noch in Deutschland gedeiht und per Post in das große Haus am Maximiliansplatz befördert wird. Dort liegt dann der Redaktion die schwere Aufgabe ob, das Massengeschiebe zu sichten und das Brauchbare herauszufinden. Sie thut aber nicht allein das: sie hält zielbewußt an dem alten Kurs fest und giebt dadurch der großen Vielheit die bestimmende Richtung und den unveränderten Charakter. Längst sind die Väter Schneider († 1864) und Braun († 1877) ihren ersten Mitarbeitern gefolgt, oder die Söhne führen das von ihnen überkommene Werk im alten Geist, wenn auch mit neuen Mitteln, aufs glücklichste weiter. Julius Schneider ist Chefredakteur und teilt sich mit Kaspar Braun jun. in die eigentliche Hauptarbeit, Hermann Schneider, selbst ein Maler von Ruf und Bedeutung, steht an der Spitze der künstlerischen Abteilung und pflegt den Verkehr mit den zeichnenden Fachgenossen, sein eigener Stift ist indessen nur selten in den Blättern vertreten.
So wie es für den einzelnen Menschen charakteristisch ist, was er lächerlich findet, so auch für ein humoristisches Blatt. Und da sieht man denn die „Fliegenden Blätter“ heute, wie im Jahr ihres ersten Erscheinens, im launigen Kampf gegen Schwindel, Hochmut, Großthuerei, Roheit, Eitelkeit, Blasiertheit und soziale Lügen aller Art. Als neuer Ton ist hinzugekommen die scharfe Satire gegen das moderne Evangelium der gemeinen Prosa und des Schmutzes in Kunst und Litteratur. Was bei dessen Autoren für unmöglich gilt: amüsant zu sein ohne Anstößigkeiten, das vollbringen die „Fliegenden Blätter“ siegreich jahraus jahrein; ihr Text ist so sittlich rein, daß ihn ein heranwachsender Mensch ruhig lesen darf, und so belustigend, daß die Alten und Erfahrenen stets aufs neue darüber lachen.
Die Verbreitung des Blattes ist außerordentlich und noch in fortwährender Zunahme begriffen. Den äußeren Erfolg braucht man ihm also zum Jubiläum nicht mehr zu wünschen, nur den Fortbestand der geistigen und künstlerischen Kräfte, welche Mitarbeiter und Redaktion zu einem festgeschlossenen Ganzen vereinigen auf dem gesunden natürlichen Münchener Boden, der auch mitgenannt werden muß, wo es sich um die Ursachen eines so glänzenden Gedeihens handelt.
Die „Fliegenden Blätter“ stehen heute an hervorragender Stelle unter den guten geistigen Mächten unseres Volkes und mögen noch lange dort stehen bleiben! R. Artaria.