Eine Null zu wenig
Es war an einem warmen Augusttage, als ich meine Bücher fortpackte, weil ich ihrer nicht mehr bedurfte. Vorläufig sollte mir wenigstens niemand zumuten, ein Buch in die Hand zu nehmen, das mit meinem Beruf zusammenhing. Ich hatte mein Staatsexamen als Tierarzt bestanden und den philosophischen Doktor erworben; man hatte mich sozusagen auf das gesamte Tierreich „losgelassen“. Am ersten Oktober sollte ich eine Stellung als Assistent am Schlachthof antreten. Da ich wegen eines etwas kurzen linken Beines militärfrei war, konnte ich daran denken, den September noch zu gründlicher Erholung zu verwenden. Allein es kam anders! Eines Morgens, als ich nichts Böses ahnend im Bette lag, überfiel mich ein alter Herr meiner Verbindung, Tierarzt wie ich, nur mit einer langjährigen, weitverzweigten und wertvollen Praxis. Er erklärte mir, daß er von meinen Bummelgelüsten gehört habe und gekommen sei, sie mir auszutreiben. Solch ein Leben ohne Arbeit sei schädlich und würdelos, und er fühle sich für einen jungen Kollegen verantwortlich.
Ich muß gestehen, daß schon seine Einleitung mir unbehaglich war. Dann kam er schnell zur Sache. Er wäre als Stabsveterinär für die Zeit des Krieges eingezogen, und ich müsse seine Praxis übernehmen. Ich solle bei ihm wohnen, bekäme dreihundert Mark bei freier Station und könne außerdem seinen Weinkeller leertrinken. Seine Zigarren und sein Diener stünden zu meiner Verfügung, und ich hätte Gelegenheit, [175] mich etwas einzuarbeiten und meine Tier- und Menschenkenntnis zu erweitern.
In seiner Praxis sei nämlich die Behandlung der Patienten oftmals durchaus nicht die Hauptsache, sondern die Behandlung der Besitzer der Patienten spiele in vielen Fällen die bedeutendere Rolle. Die Patienten selbst seien Luxustiere, kostbare Exemplare von Pferden und Hunden, Katzen und Vögeln. Die Tiere wären verwöhnt, ihre Besitzer oft noch mehr; und man zahle gern ein hohes Honorar, wenn ein Lieblingstier am Leben blieb. Aber die Leute verlangten manchmal eine ganz eigenartige Behandlung. Er könne deshalb nicht jedermann zu seiner Vertretung brauchen, und wenn er mich dazu ausersehen habe, so sei das eine Ehre für mich, die ich anscheinend nicht einmal genügend zu schätzen wüßte.
Darin hatte er nun allerdings recht, und ich sagte das auch glatt heraus. Monatelang hatte ich gebüffelt, in der Stube gehockt, Tag und Nacht keine Ruhe gehabt, und jetzt, wo ich mich erholen wollte, hing er mir seine Praxis auf, die sich nicht nur auf die körperlichen Gebrechen der Tiere, sondern auch noch auf die seelische Behandlung ihrer Besitzer erstreckte.
„Du hast die Sache richtig erfaßt,“ sagte schmunzelnd mein alter Herr, „du sollst nicht nur Tierarzt, sondern auch Psychologe sein. Du wirst viel dabei lernen und Erfahrungen machen, die dir in der Viehhofpraxis, der du entgegengehst, nicht beschieden sind. Anstatt Geld totzuschlagen, wirst du verdienen. Zu anstrengend übrigens wird es nicht werden; der größte Teil meiner Patienten ist mit den Besitzern verreist. Man wird dich in der Sprechstunde kaum überlaufen.“
Ich sah ein, daß mir nichts anderes übrigblieb, [176] als auf seinen Vorschlag einzugehen. Und übrigens hatte er ja eigentlich recht: Wald- und Wiesenduft, Berge und Seen liefen mir nicht weg, und eine Erholung, die noch dazu etwas einbrachte, war auch nicht zu verachten.
Am nächsten Morgen saß ich in seinem Arbeitszimmer und behandelte einige Tiere, die man mir in die Sprechstunde gebracht hatte. Dann machte ich in Doktor Keils Begleitung zu Wagen meine Krankenbesuche bei einigen Pferden, einem Papagei und einem Kakadu und erkundigte mich nach dem Befinden einiger von den verreisten Besitzern in Obhut der Dienerschaft zurückgelassenen Haustiere. In der Nachmittagsprechstunde erschien noch eine Katze, von einem Mädchen in einem Korbe gebracht, und mein Tagewerk war getan. Anstrengend oder aufregend erschien die Sache nicht. Wenn es nicht schlimmer wurde, stand mir eine vielmonatige Faulenzerei bevor, die auch als Erholung gelten konnte.
Tags darauf brachte ich Keil zur Bahn, hielt dann meine Sprechstunde ab, die nur wenig besucht war. Dann machte ich einige Visiten, aß Mittag und kehrte eine Stunde vor Beginn der Nachmittagsprechzeit zurück. Ich befahl Franz, mich kurz vor drei Uhr zu wecken, hatte mich aber kaum zu einem Mittagschläfchen ausgestreckt, als der Eintritt des Dieners den leise kommenden Schlummer verscheuchte.
„Entschuldigen Sie, daß ich störe, Herr Doktor, aber es ist ein Mädchen da, das sich nicht abweisen lassen will. Der Herr Doktor möchten doch sofort zu einem kranken Hunde kommen.“
„Handelt es sich um Kundschaft von euch?“
[177] „Nein.“
Ärgerlich über die Störung erhob ich mich.
Ein niedliches Dienstmädchen stand im Flur und trat mir, als ich das Zimmer verließ, rasch entgegen. Es handle sich um einen Hund, der die Krämpfe habe. Und die Herrschaft sei in der größten Besorgnis. Das Mädchen sprach aufgeregt und betonte immer wieder, daß irgend ein Fräulein Hannchen in Verzweiflung sei und nicht wüßte, was sie tun solle, wenn der Hund stürbe.
Lächelnd erkundigte ich mich, wo „Fräulein Hannchen“ wohne, erfuhr, daß die Familie Buchwald hieß, in der nächsten Querstraße wohne, nahm meinen Hut und ging mit. Wäre es meine eigene Praxis gewesen, hätte ich vielleicht nicht diesen Eifer gezeigt, aber ich hatte Pflichten gegen Keil, dem ich vielleicht neue Kundschaft zuführte. Das Mädchen lief so, daß ich kaum mitkam; sie flog vor mir die Treppe hinauf, schloß die Flurtüre auf und stürzte mit einem: „Der Doktor kommt!“ hinein.
Ich folgte ziemlich atemlos und traf schon in der Diele eine junge Dame, deren Erscheinung mich auf den ersten Blick gefangennahm. Sie mochte anfangs der Zwanziger sein, und der Ausdruck der Traurigkeit mit den mühsam verhaltenen Tränen in ihren Augen machte sie nur noch anziehender. Sie führte mich in ein Zimmer, wo in einem gepolsterten Korb ein braun- und schwarzgefleckter Hund scheinbar leblos lag.
Ich nahm den Korb auf und stellte ihn auf den Tisch, um das Tier zu untersuchen. Es war ein Malteserhündchen, das schon recht alt sein mußte, wie ich aus dem grauen Schleier seines linken Auges schloß. Das Tier zuckte und schien zu leiden. Ich hob es vorsichtig [178] heraus und versuchte es auf die Beine zu stellen, aber mit einem leisen Stöhnen sank es auf dem Teppich zusammen.
Es war mir klar, daß ich eine Lähmung vor mir habe, und ich fragte nach der Zeit des ersten Auftretens der Erscheinung. Das Fräulein Hannchen sagte mir, daß der Hund seit zwei Tagen mangelnde Freßlust gezeigt, aber erst seit heute morgen die Bewegungsfähigkeit verloren habe. Mit einer Erregung, die ich bei dem Objekt, dem sie galt, nicht verstand, bat sie mich unter Tränen, dem Hunde zu helfen. Ich wisse nicht, was von dem Leben des Hundes abhänge.
Verwundert schüttelte ich den Kopf und untersuchte den Hund nochmals genau. Es war zweifellos eine Lähmung, aber da man mich so rechtzeitig gerufen, würde sie sich durch einen raschen Eingriff beseitigen lassen. Meine Injektionsspritze und ein Medikament aus der Apotheke brauchte ich; mehr würde nicht nötig sein. Ich ordnete an, den Hund ruhig liegen zu lassen, bis ich wiederkäme, und eilte selbst fort, das Nötige zu holen.
Wenn das Tier gerettet werden sollte, konnte es nur durch eine Strychnininjektion geschehen. Nicht umsonst hatte ich eben erst mein Examen gemacht: ich wußte genau, daß man für das Kilo Körpergewicht beim Hund ein Milligramm Strychnin nahm. Das Tier wog nach meiner Schätzung etwa drei Kilogramm, es waren also drei Milligramm erforderlich. In der Apotheke schrieb ich selbst das Rezept und las es nochmals sorgfältig durch; ja, es war richtig, 0,003 Gramm stand darauf.
Kaum eine Viertelstunde später hatte der Hund die Strychninlösung unter der Haut. Das Tier war völlig teilnahmlos und regte sich auch beim Einstich kaum. [179] Auch geraume Zeit nach der Injektion lag es noch ebenso unempfindlich und ohne Bewegung in seinem Korb.
Ich verordnete, daß der Hund in ein verdunkeltes Zimmer gebracht werde und möglichst ungestört sich selbst überlassen bliebe. Dann schickte ich mich an zu gehen.
Hannchen Buchwald geleitete mich bis an die Tür und dankte mir für meine rasche Hilfe.
Aber mir schien, als ob sie noch etwas auf dem Herzen habe. Als ich mich verabschieden wollte, hielt sie mich zurück. Sie sagte, daß ihr meine Verwunderung über ihr Betragen nicht entgangen wäre, und daß sie mir daher eine Aufklärung geben müsse, damit ich sie nicht für eine Hundenärrin halte. Die Sache sei so: der Hund stamme von einer verstorbenen Tante, die ein großes Vermögen hinterlassen habe mit der Bedingung, daß die Nutznießung dieses Vermögens so lange der Familie zufallen solle, als der Hund lebe; so wußte sie für den Hund eine gute Pflege gesichert. Wenn der Hund sterbe, so bleibe ihren Eltern nur eine verhältnismäßig kleine Rente, und das übrige Geld falle an wohltätige Stiftungen. In wenigen Tagen wäre die Rente fällig und der Verlust, den die Eltern erleiden würden, sei bedeutend. Augenblicklich hinge viel davon ab, daß die Verhältnisse sich nicht ändern. Die Mutter sei schwer leidend und mit dem Vater ins Bad gereist. Beide wüßten nicht, was hier vorgehe, und sie habe die ganze Verantwortung zu tragen.
Ich beruhigte Fräulein Hannchen und eilte nach Hause. Meine Nachmittagsprechstunde verlief ziemlich ereignislos. Ein Kakadu, der sich ein Stück aus dem Schnabel herausgebrochen, und ein Hund, dem zwischen [180] Tür und Schwelle die Hinterpfote gequetscht worden war, erschienen als die einzigen Kranken.
Als niemand mehr kam, zündete ich mir eine Zigarre an und legte mich aufs Sofa. Meine Gedanken umkreisten das Erlebnis des Vormittags: eine verrückte alte Jungfer, die einem Hunde zuliebe ein unsinniges Testament machte, und ein lebensfrisches, strahlend schönes Mädchen, das sich die Augen ausweinte, weil der Hund sterben wollte. Diese Augen! Bei dem letzten Bilde meiner Betrachtung blieben meine Gedanken stehen, und ich suchte mir die Einzelheiten der ganzen anmutigen Erscheinung des Mädchens zu vergegenwärtigen. Nein, der Hund mußte gerettet werden; das nahm ich mir fest vor.
Eine Viertelstunde später war ich schon wieder auf dem Wege zu Buchwalds, um nach dem Hunde zu sehen – so wenigstens redete ich es mir ein. Ein wenig aufgeregt stieg ich die teppichbelegten Stufen hinan.
Das Dienstmädchen öffnete, und meine erste Frage galt dem Hunde. Der schlafe, ward mir zur Antwort, hätte sich überhaupt nicht mehr gemeldet, und das Fräulein schlafe ebenfalls, in dem gleichen Zimmer wie der Hund. Sie sei von der Aufregung ganz erschöpft. Aber – wenn der Herr Doktor wolle, würde sie das Fräulein wecken. Natürlich verneinte ich, Morgen würde ich wiederkommen.
Das Dienstmädchen legte mir das Schicksal des Hundes, das mit dem ihrer Herrschaft so eng verknüpft war, nochmals mit eindringlichen Worten ans Herz. Ich solle doch tun, was in meinen Kräften stehe – das Fräulein sei eine so liebenswürdige, gutmütige und freundliche Dame.
Trotzdem ich von diesen ausgezeichneten Eigenschaften [181] eigentlich keine Ahnung haben konnte, bestätigte ich doch die letzten Worte des Mädchens mit einer vorläufig nicht recht begründeten Wärme. Ärgerlich über mich und etwas enttäuscht über den nutzlosen Besuch ging ich nach Hause. …
Wenn sich die Seele des Menschen besonders stark mit irgend einer Sache beschäftigt, dann kehren die Erscheinungen des Tages und der Wirklichkeit im Traume wieder, oft seltsam verworren und phantastisch vorgerückt. Ich hatte mich abends zeitig zu Bett gelegt und wohl schon einige Stunden geschlafen, als mir träumte, ich sei abermals im Examen. Vor mir saß der Professor, den ich am meisten fürchtete. Aber nicht ein gelehrter Kollege nahm neben ihm den Platz ein, sondern es war Fräulein Hannchen Buchwald, und sie nickte mir freundlich zu. Ich empfand doppelte Angst, denn mir schauderte bei dem Gedanken, mich mit meinen Antworten gerade vor dem Fräulein zu blamieren. Aber es ging ganz gut. Natürlich spielte auch die Hundeangelegenheit in den Traum hinein, und Professor Brückner fragte mich: „Was würden Sie bei Lähmung eines Hundes anwenden?“
„Ich würde dem Tiere eine Strychnineinspritzung geben,“ antwortete ich, und Professor Brückner nickte wohlwollend, während mir Fräulein Hannchen ermutigend zulächelte.
„Welche Dosis geben wir in diesem Falle?“
„Ein Milligramm pro Körpergewicht des Tieres,“ antwortete ich prompt.
„Sie behandeln das Hündchen dieser Dame,“ fuhr der Professor fort. „Wie schwer ist es?“
„Ungefahr drei Kilogramm.“
„Wieviel Strychnin müssen Sie also verschreiben?“
[182] „Drei Milligramm, Herr Professor.“
„Sehr richtig, also 0,003 Gramm! Und nun sehen Sie einmal gefälligst nach, was Sie da geschrieben haben!“ Dabei überreichte er mir das Rezept, das ich in der Apotheke abgegeben.
Ich warf einen Blick darauf und erbleichte: mit unerbittlicher Deutlichkeit stand dort die Zahl 0,03. Als ich aufblickte, sah ich den Blick des Professors streng und vorwurfsvoll auf mich gerichtete und Fräulein Hannchen schluchzte laut.
„Sie haben dem armen Tier die zehnfache Dosis gegeben und es umgebracht, Sie Mörder!“ sagte der Professor unerbittlich, und wie ein hundertstimmiges Echo, dem ein dumpf hallender Donner folgte, klang es zurück: Mörder, Mörder!
Aber der Donner wurde stärker und verschlang endlich das entsetzliche Wort. Ich erwachte und hörte, daß man an meiner Tür pochte. „Wer ist da?“ fragte ich.
„Ich, Franz,“ tönte es hinter der Tur, „der Kutscher vom Herrn Kommerzienrat Lorenz ist da. Das eine Kutschpferd hat die Kolik, und der Herr Doktor möchten doch rasch hinkommen.“
Ich sah mich um; es war heller Tag. „Der Kutscher soll warten, ich komme sofort mit!“ Schnell sprang ich aus dem Bett, wusch mich und kleidete mich an. Dabei fiel mir der Traum ein und die falsche Dosierung der Strychnininjektion. Bei dem klaren Gedanken an die Möglichkeit dieses Versehens überlief es mich kalt. Wenn ich dem Hund die zehnfache Dosis gegeben hatte! Ich suchte und fand schließlich in meiner Rocktasche das Fläschchen, das die Lösung enthalten. Da stand es deutlich auf der Beklebung: „0,03!“
Das Fläschchen zitterte in meiner Hand. Zehnmal, [183] zwanzigmal sah ich hin, ob es kleine Täuschung gewesen, aber die unerbittlichen Ziffern blieben stehen. Es fehlte eine Null; der Hund hatte die zehnfache Dosis erhalten und war natürlich tot.
Aber um das Tier handelte es sich nicht mehr: eine ganze Familie hatte ich unglücklich gemacht. Das Bild des reizenden Mädchens stieg vor mir auf. Wie gelähmt saß ich und starrte vor mich hin. Dann fiel mir der wartende Kutscher ein, und ich machte mich zum Gehen bereit. Eine Tasse Kaffee, die Franz mir brachte, stürzte ich hinunter, und wir fuhren ab.
Halb betäubt saß ich im Wagen und hätte nicht sagen können, durch welche Straßen mich der Kutscher führte. Ich kam erst wieder einigermaßen zu mir, als ich im Stall des Kommerzienrats stand und das Pferd schlagend und stöhnend am Boden liegen sah. Das Tier hatte gerade einen Anfall und wälzte sich auf der weichen Torfstreu. Kommerzienrat Lorenz selbst, sowie ein Diener und der Gärtner standen dabei.
Nach dem Anfall blieb das Pferd wie tot aus der Seite liegen. Der eigentümlich stiere Blick sowie der starke Schweißausbruch wiesen deutlich auf eine Kolik. Der Puls war hart und beschleunigt, die Atmung unregelmäßig und rasch. Das Krankheitsbild war vollständig klar, ich stellte danach meine Diagnose auf rheumatische Kolik und beruhigte den aufgeregten Kutscher. Selbst bei sorgfältigster Pflege, bei streng geregelter Fütterung und bester Behandlung kamen derartige Erkältungen oder Krampfkoliken vor. Im übrigen bestünde keine Gefahr, da man mich so rechtzeitig gerufen. Ich schrieb ein Rezept – die Zahlen überlegte ich mir dreimal genau – und schickte den Diener rasch in die Apotheke. Dann ließ ich dem Tiere Decken unterlegen, [184] damit es bei der Wiederkehr des Anfalls nicht zu Schaden komme, und untersuchte das Tier, um festzustellen, ob vielleicht die Kolik durch eine innere Verletzung hervorgerufen sein könnte, aber es reagierte weder auf vorsichtiges Beklopfen noch auf Druck. Darauf setzte ich mit der Untersuchung aus, denn der Anfall kam wieder.
Nach einer Stunde hatte ich die Genugtuung, daß die Krämpfe aufhörten. Das Pferd lag zwar noch ermattet auf der Seite, aber Puls und Atmung hatten sich beruhigt.
Die Einladung des Kommerzienrats zum Frühstück lehnte ich mit dem Bemerken ab, lieber noch bei dem Pferde bleiben zu wollen, um es zu beobachten. Aber ich tat das wirklich nicht allein aus Pflichtgefühl und in der Absicht, den Kommerzienrat zu beruhigen. Mir war vielmehr nach einem Frühstück gar nicht zumute. Das Pferd zwar war sicher gerettet; aber drüben in der Wohnung bei Buchwalds lag ein toter Hund, den ich umgebracht hatte, und an seinem Korbe kniete schluchzend ein verzweifeltes Mädchen.
Welch ein Glück, daß ich nicht zu Hause war und geholt wurde, um den Tod des armen Tieres festzustellen. „Mörder, Mörder! Vernichter des Glückes einer Familie! Unfähiger, elender Kerl!“
Solche Schmeichelnamen sagte ich bei mir selbst. Aber alle Vorwürfe machten weder den Hund lebendig noch ersetzten sie der Familie Buchwald den großen Geldverlust, den ich ihr durch meinen Leichtsinn verursacht hatte. Nein, lieber den ganzen Tag bei dem kranken Pferde bleiben im Stall, als nach Hause gehen und den Jammer hören, wenn die Weiber kamen und den Tod des Hundes berichteten.
Mein Magen knurrte gewaltig, aber ich hielt aus, [185] Der Zustand des Pferdes besserte sich zusehends, es versuchte sich bereits aufzurichten und reagierte auf Streicheln und Zureden.
Es war elf Uhr vorüber, als mein Diener Franz erschien und mich bat, ich möge einen Augenblick herauskommen. Ich wußte, er hatte eine Nachricht für mich, die er mir in Gegenwart des Kutschers nicht mitteilen wollte. Ich wußte auch, was für eine Nachricht es war.
Das Mädchen von Buchwalds sei schon zweimal dagewesen. Dem Hunde ginge es gut, aber das Fräulein sei sehr ängstlich und ließe Herrn Doktor bitten, doch so bald als möglich nach dem Tiere zu sehen.
„Wie geht es dem Hunde?“ fragte ich ungläubig.
„Gut, Herr Doktor. Er hat gefressen und bewegt sich auch, wie es scheint, ohne Schmerzen. Das Fräulein und das Mädchen sind ganz glücklich darüber. Herr Doktor möchten nur bald hinkommen.“
Dem Verurteilten, der bereits den Hals in der Schlinge hat und plötzlich erfährt, daß er begnadigt ist, muß ähnlich zumute sein, wie es mir war.
Das Biest mußte eine Roßnatur haben, wenn es diese ungeheure Dosis vertrug. So war Hannchen nicht unglücklich durch meine Schuld! Ohne mich länger um das Pferd zu kümmern, rannte ich zu Buchwalds, und Fräulein Hannchen öffnete mir selbst. Sie sah glückstrahlend aus, und ihr Anblick brachte mich fast um den Verstand.
„Tausend Dank!“ Mit bezauberndem Lächeln streckte sie mir beide Hände entgegen, die ich wieder und wieder küßte, bis man sie mir errötend und beschämt entzog.
Dann stand ich am Korbe des Hundes; das gute Tier leckte mir die Hand. Es konnte wirklich schon [186] wieder stehen und sogar einige Schritte laufen. Ich schrieb ein Rezept und erklärte, am Nachmittag wiederkommen zu wollen, dann lief ich fort; ich schämte mich wegen meines verrückten Betragens. – –
Eine schöne und heilige Sache war doch die Wissenschaft, aber auch sie blieb nicht vor Irrtum bewahrt. Menschen und Tiere gab es, die nichtswürdig genug waren, am Leben zu bleiben, wenn sie nach den Regeln der Wissenschaft schon tot sein mußten. Jedenfalls wollte ich der Sache auf den Grund gehen. Ich ging nach Hause, um mir ein Instrument zu holen, das ich bei dem Pferde des Kommerzienrats gebrauchen wollte, steckte das Fläschchen, das die Strychninlösung enthalten, zu mir und ging zur Apotheke.
Hier ließ ich mir das Rezept vom Tage vorher geben. Da stand ganz richtig: 0,003. Mich hatte in der Nacht ein Alp gedrückt. Nun schlug ich natürlich gehörig Lärm und stellte fest, daß die Lösung nur drei tausendstel Gramm enthalten, daß aber der Lehrling, der das Rezept auf die Etikette des Fläschchens kopierte, die eine Null fortgelassen hatte. In meiner Gegenwart wurde dem Lehrling von seinem Chef tüchtig klargemacht, welche Bedeutung in der Pharmazie die Nullen in den Dezimalstellen haben.
Darauf kehrte ich zum Kommerzienrat Lorenz zurück, machte eine nochmalige Untersuchung. Eine halbe Stunde später nahm das Pferd etwas warmes Futter. Der Besitzer war außer sich vor Freude und bestand nun darauf, daß ich mit ihm frühstückte, wogegen ich nichts mehr einzuwenden hatte.
Wir aßen und tranken nicht wenig und nicht das Schlechteste. So kam ich in dreifach beseligter Stimmung am Nachmittag zu Fräulein Hannchen. In diesem [187] Zustande gestand ich ihr alles, erzählte, wie noch nie ein weibliches Wesen solchen Eindruck auf mich gemacht habe wie sie, und welche Angst ich durch den Apothekerlehrling ausgestanden hatte. Fräulein Hannchen war sehr gerührt, weinte und nannte mich gut, pflichttreu und sah mich dabei so lieb an, daß ich einer plötzlichen Wallung nicht widerstehen konnte und sie küßte.
Ein halbes Jahr später war sie meine Frau. Das Hündchen befand sich in meiner besonderen Obhut und lebte noch lange, überlebte sogar meine Schwiegereltern.
So kann eine Null wohl einmal für Glück und Unglück einer ganzen Familie bedeutungsvoll werden.