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Eine Märchenstadt in Hinterindien

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Textdaten
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Autor: Ernst von Hesse-Wartegg
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Titel: Eine Märchenstadt in Hinterindien
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 25, S. 409, 416–419
Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1897
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[409]

Der König und die Königin von Siam.

[416]

Eine Märchenstadt in Hinterindien.

Von Ernst v. Hesse-Wartegg.
Mit Illustrationen nach photographischen Aufnahmen von Lenz & Co. in Singapore.

Es war einmal ein König, der lebte in einem Feenpalaste von schönstem Marmor und Krystall; er hatte tausend der holdesten Frauen und zweitausend Sklaven, alle bereit, den geringsten seiner Wünsche zu erfüllen. Er lebte in Pracht und Herrlichkeit, seine siebenfache Krone strahlte und blitzte von Diamanten, seine kostbaren Gewänder waren ganz mit Rubinen bedeckt, und wie er so besaßen auch seine Mägdlein die köstlichsten Geschmeide. Sie waren nur da, um ihm die Zeit zu vertreiben, sie tanzten und sangen; er speiste mit ihnen von goldenen Geschirren, er fuhr mit ihnen auf dem großen Fluß in goldenen Booten spazieren, und wünschte er eine Reise zu machen, flugs standen Dutzende von Elefanten, gesattelt und mit kostbaren Decken behängt, für ihn und sein glänzendes Gefolge bereit. Ein Page fächelte ihm mit Straußenfedern Kühlung zu; ein zweiter hielt den neunfachen seidenen Schirm über ihn; ein dritter trug den goldenen, rubinenbesetzten Spucknapf. Sein Volk liebte ihn, und wenn die Leute ihren König aus der Ferne kommen sahen, so warfen sie sich vor ihm nieder. Hunderte von Prinzen waren an seinem Hofe, jeder mit seiner eigenen glänzenden Haushaltung, dazu Hunderte von schönen Prinzessinnen, aber sie durften ihre Schönheit und ihre Reichtümer niemand zeigen, denn so wollte es die Sitte des Hofes. Sie alle aber, König und Prinzen und Volk, wohnten in einer großen Stadt, inmitten von herrlichen Palmenhainen; ungeheure Tropenbäume, die großblättrige Brotfrucht, Durien, Mangroven und andere immergrüne Waldriesen beschatteten die Häuser der Stadt. Wunderbare, fremdartige Pagoden und Türme und Pyramiden erhoben sich über die Palmblattdächer der menschlichen Wohnungen, alle strotzend von Gold oder in den buntesten Farben prangend. Eine Pagode war ganz aus Porzellanrosen zusammengesetzt, eine andere aus Lotos, eine dritte aus Lilien. Ein breiter Strom durchzog die Stadt, und auf seinem Rücken schwammen Tausende und aber Tausende von Booten. Weiter draußen aber, in der Umgebung der Stadt, hausten Elefanten und Tiger; zu Tausenden hingen Fliegende Füchse an den Bäumen zwischen den Lianen, die sich von Ast zu Ast, aufwärts und abwärts hinzogen und die Wälder zu einem [417] undurchdringlichen Gewirr machten, schlängelten sich große giftige Schlangen, und in den Flüssen und Sümpfen hausten Massen von Krokodilen.

Pagoden des königlichen Tempels.

Es war einmal … so hatte meine Mutter mir ein Königsmärchen erzählt, als ich noch ein kleiner Junge war und noch nicht zur Schule ging, und gar oft mußte die Mutter das Märchen wiederholen, und dann träumte ich mich hinein in diese ferne, feenhafte Märchenwelt der Tropen und wünschte jedesmal, sie in Wirklichkeit zu sehen, wenn ich einmal groß geworden war, denn wie konnte ich damals wissen, daß Märchen Gebilde der Phantasie sind?

Aber dieses Königsmärchen meiner frühen Jugend ist kein solches. Nicht „Es war einmal“ soll es heißen, sondern „Es ist“, es ist in Wirklichkeit vorhanden, im fernen Hinterindien, an den Ufern des großen Menamstromes, gerade auf jener entlegenen Halbinsel Asiens, auf welcher man es am wenigsten vermuten würde. Wohl haben einzelne Reisende Bangkok, die Hauptstadt des Königreiches Siam, geschildert, aber dennoch traut man seinen Augen kaum, wenn man wirklich das breite Bett des hinterindischen Nilstromes aufwärts fährt und plötzlich die Märchenstadt mit ihren zahlreichen Pagoden, Palästen und vergoldeten Türmen sieht, die sich hier, einige Stunden oberhalb der Mündung, inmitten der üppigsten Tropenvegetation ausbreitet.

Tonnenboote und schwimmende Häuser.

Der König dieser Stadt und dieses Reiches ist nach Europa gekommen, um die Wunder des Abendlandes kennenzulernen, doch wird er, dessen Auge von den Herrlichkeiten seiner Residenz verwöhnt ist, hier vergeblich nach etwas suchen das sich an Seltsamkeit, Reichtum und Farbenpracht mit der Tempelstadt Bangkok vergleichen ließe!

In Europa hat er auf seiner Reise zuerst Venedig berührt, und gerade diese Stadt ähnelt Bangkok am meisten. Denn ganz wie sie, so ist auch Bangkok eine Stadt der Kanäle. Zu beiden Seiten der gelben, trüben Fluten des Menams, die sich in derselben Breite wie etwa der Rhein bei Mainz dem Golf von Siam zuwälzen, zieht sich ein scheinbar unentwirrbares Labyrinth von Kanälen über die vierzig Quadratkilometer Tiefland, auf welchem innerhalb einer weißen mit Türmen besetzten Ringmauer Bangkok liegt. Ja, es sind hier, sozusagen zwei Städte übereinander: zunächst die Stadt der Kanäle, auf welchen Tausende und aber Tausende von Häusern schwimmen und auf denen in kleinen und großen Booten ein so reger Verkehr herrscht, daß man nur mit der größten Mühe und dank der Geschicklichkeit der eingeborenen halbnackten Ruderer durchkommen kann. Ein Stockwerk höher erhebt sich auf dem Festlande eine zweite Stadt mit steinernen oder hölzernen Häusern und einem dichten Gewirr von festen Straßen, welche die Kanäle mittels Brücken übersetzen. – Weiter hinaus von der inneren Stadt werden die Festlandstraßen immer spärlicher, die Kanäle immer zahlreicher, dabei immer schmäler, bis schließlich nur mehr ein paar Quadratmeter große Reisfelder vorhanden sind, jedes einzelne auf allen Seiten von Kanälen umgeben. Und dahinter erhebt sich die düstere, dunkle Mauer des tropischen Urwaldes mit den seltsam geformten, großblättrigen, von Lianen umwundenen Baumriesen …

Alles ist ebenes, angeschwemmtes Land, ohne die geringste natürliche Erhebung, ein [418] Werk des großen Menam, der hier, wie der Nil in Aegypten, das Land befruchtet und zeitweilig nebst einem großen Teil der Stadt unter Wasser setzt. So sind auch die Menschen, die hier wohnen, eine Art Amphibien geworden. Die auf dem Festlande hausen, bringen ihr halbes Leben auf oder im Wasser zu, die auf dem Wasser wohnen, ihr ganzes. Bangkok mag über eine halbe Million Einwohner zählen, und von ihnen wohnt gewiß ein Drittel, wenn nicht mehr, auf dem Wasser. So weit man den gewaltigen Strom auf- und abwärts blicken kann, sind an seinen Ufern sowie an den Ufern seiner Kanäle schwimmende Häuser verankert, in doppelten, dreifachen, vierfachen Reihen, eines dicht am anderen, Tausende und aber Tausende davon. Und wie malerisch, wie seltsam nehmen sie sich aus mit ihren steilen, in spitzen oder geweihartigen Giebeln auslaufenden Dächern, von denen manches dieser schwimmenden Häuser zwei nebeneinander besitzt. Rings um die Häuser laufen Veranden, die Vorderwand des Hauses kann nach aufwärts gedreht werden, bis sie, wagerecht stehend, eine Art Schutzdach bildet, und das Ganze ruht auf einem Floß von Bambusrohren oder Balken. Da der Menam je nach der Jahreszeit und den tropischen Regengüssen steigt und fällt, so müssen auch dementsprechend die Häuser verankert sein. Auf den in langen Reihen längs der Ufer eingerammten Ankerpfählen laufen eiserne Ringe auf und ab, und an diese werden die Häuser mit Ketten befestigt. Ueber diesen schwimmenden Häusern stehen auf den festen Ufern noch mehrere Reihen anderer, größeren darunter zahlreiche Faktoreien europäischer Kaufleute, Wohnhäuser und Konsulate, überhöht von hohen Mastbäumen mit bunten Flaggen, jedes einzelne umgeben von großen, zum Teil prächtigen Gärten.

Alles ist dem Fluß zugewendet, denn dieser ist die Hauptverkehrsader, das Leben, die Ursache von Bangkok. Ohne Fluß gäbe es auch keine Stadt. Nach Hunderten zählen die Boote und Frachtschiffe, welche täglich mit Lebensmitteln und Waren, mit Fischen und Reis vom oberen Menam herabkommen und vielleicht wochenlange Flußreisen hinter sich haben. Sie sind auch dementsprechend zum Wohnen für ganze Familien eingerichtet, die eine Hälfte offen für die Waren und für die Ruderer, die andere Hälfte wie eine weitbauchige Tonne, deren Inneres ein kleines Wohnzimmer bildet (vgl. Abbildung S. 417). Wie diese Reiseboote, so sind auch die schwimmenden Wohnhäuser des Menam eingerichtet, nur daß sie viel größer sind und der vordere Teil als Kaufladen dient. Kilometerweit ließ ich mich ihnen entlang rudern, wie in einer lebhaften Geschäftsstraße. Porzellanwaren, Geschirre, Kleidungsstücke, Krimskrams, Lebensmittel, alles Erdenkliche wird in ihnen feilgeboten, und die Waren sind in geschmackvoller Weise wie in unseren Schaufenstern ausgestellt, während hinter ihnen gewöhnlich Siamesinnen mit kurzgeschnittenem schwarzem Haar, über den nackten Oberkörper nur eine bunte Schärpe geworfen, als Verkäuferinnen kauern.

Zwischen diesen Kaufläden fahren die Käufer in winzigen Booten, die sie selbst rudern, auf und ab, so sicher und rasch, als schritten sie auf fester Straße einher. Ich kam über ihre Geschicklichkeit nicht aus dem Staunen heraus, denn jede Sekunde schossen ihnen andere der Hunderte und Hunderte von winzigen Booten in den Weg, und dabei standen auch noch die meisten Insassen in den schmalen, schlanken Nußschälchen aufrecht und drückten mit beiden Händen ihre Ruder nach vorwärts. Dazu fuhren zwischen ihnen Dutzende von kleinen Dampfbooten pustend, pfeilschnell auf und ab, denn jedes europäische oder einheimische Geschäftshaus von einiger Bedeutung hat seine Dampfbarkasse. Zeitweilig keuchten auch gewaltige Seedampfer aus China, Singapore, Indien, den Sundainseln oder Philippinen durch den Strom, in dessen Mitte Kriegsschiffe verschiedener Flaggen verankert lagen, chinesische Dschunken mit großen glotzenden Augen am Bug und Segeln wie Flügel gewaltiger Fledermäuse fuhren auf und nieder, dazwischen Malayenboote und andere Fahrzeuge – mit einem Worte: ein Strombild, wie es in so malerischer Art und Lebhaftigkeit wohl nur an den wenigsten Orten des fernen Orients zu erblicken ist!

Warum diese Hunderttausende von Menschen, Siamesen, Laoten Malayen, Tamals, Chinesen, Kambodschaner, Birmanen, auf dem Wasser und nicht auf dem Festlande wohnen? Wer je in den Tropen gelebt hat, braucht die Antwort nicht zu suchen. Von der erdrückenden Schwüle, die hier während des ganzen Jahres tags und auch nachts über herrscht, ist der kühle Lufthauch des breiten, stets bewegten Stromes eine erquickende Wohlthat, das Baden mehrmals des Tages gewährt den größten Genuß. Und die Bewohner der schwimmenden Häuser leben wie in Badeanstalten. Sie können unmittelbar aus ihren Schlafräumen ins Wasser springen, und in der That sieht man auch besonders morgens und abends die ganze Bevölkerung, Männer, Frauen und Kinder, mit wahrer Wollust wie Fische im Wasser sich herumtummeln. An- und Auskleiden erfordert bei ihrer spärlichen Bekleidung nicht viel Zeit, ein Lendentuch, „Panung“, zwischen den Beinen durchgezogen und mit den Enden an den Hüften befestigt, ein bunter Shawl, „Pahum“, wie eine Schärpe leicht um den Oberkörper geworfen, das ist alles.

Der Menam ist der Hauptboulevard von Bangkok. Ließ ich mich von dort in das Gewirr der Seitenkanäle rudern, so fänd ich ähnliches Leben, nur in kleinerem Maßstabe. Zu beiden Seiten der schlammigen Wasserstraßen erheben sich kleine ebenerdige Holzhaufen zwischen denen sich die üppig wuchernde Tropenvegetation hervordrängt, dann kommt hier und dort ein größerer Platz mit fremdartigen bunten Pagoden und Tempeln, mit künstlichen Felsengruppen und Wassertümpeln, in welchen Dutzende von Krokodilen oder riesigen Schildkröten, heiligen Tieren der Buddhisten, ungestört schlafen. Wir fahren unter zahlreichen Brücken hindurch, auf welchen der regste Verkehr herrscht, nach allen Seiten zweigen sich wieder Kanäle ab, die zu anderen führen oder irgendwo an einem Buddhistenkloster oder in einem mit hohen Sumpfpflanzen bedeckten Schlammfelde enden, umgeben von köstlichen Tempelbauten, die hier wie ein Traum aus „Tausend und eine Nacht“ hervortreten.

Wie in der Wasserstadt, so herrscht auch in der über und zwischen ihr befindlichen Landstadt das regste Leben, nur daß hier das starke chinesische Element der Bevölkerung mehr hervortritt. Ich war überrascht, in dieser ursprünglichen Stadt von Hinterindien einzelne moderne Straßen zu finden, mit netten Ziegelhäusern, Straßenbeleuchtung und Wasserleitung – ein Werk des gegenwärtigen Königs, der in seiner feenhaften Palaststadt weiter aufwärts am Strome residiert. Je näher man ihren weißen Umfangsmauern kommt, desto reinlicher, breiter werden die Straßen, desto häufiger sieht man elegante Reiter und moderne Equipagen, Militär und Polizisten in europäischen Uniformen, aber das Volk und selbst die Großen des Reiches tragen noch ihre ursprüngliche Landestracht, nur daß zu dem Panung bei den letztere noch helle Seidenstrümpfe und glänzende Schnallenschuhe kommen und an Stelle der bunten Schärpe weiße oder goldgestickte Jäckchen getragen werden. Herren sowohl wie Damen zeigen sich in dieser kleidsamen Tracht, wie sie in der Abbildung des Königspaares (vgl. S. 409) dargestellt ist. Der König trägt in dieser an Stelle des Jäckchens den weißen Uniformrock nach altösterreichischem Muster, die Königin ist mit dem breiten Bande des Kronenordens geschmückt.

Häufig durchzieht in dieser Stadt der ewigen Festlichkeiten ein malerischer Aufzug die Straßen: Hunderte von Menschen in phantastischen, ungemein reichen Gewändern, Pagen, Priester mit kahlrasierten Schädeln in lange gelbseidene Togen gehüllt, goldstrotzende Prunkwagen, vergoldete Sänften, getragen und umgeben von uniformierten Sklaven mit Palmenwedeln, Fahnen und hohen Sonnenschirmen, hier und da ein mit bunten Decken behängter Elefant. Auf weiten, grüne Rasenflächen tummeln sich Tausende in den buntesten Farben gekleideter Menschen umher, kauern scherzend auf dem Boden, spielen Ball und lassen seltsam geformte Papierdrachen steigen, von denen man zuweilen Hunderte hoch in den Lüften schweben sieht. Als Rahmen dieses phantastischen, überraschenden Bildes dienen die herrlichsten Pagoden, Tempel, Pratschedis (Opfersäulen), Statuen; über die weiße Mauer des Königspalastes streben ihrer Dutzende himmelan, schimmernd und leuchtend, die ewigen Sonnenstrahlen spielen in ihren zahllosen goldenen Spitzen, ihren buntfarbigen Porzellanblumen, ihrem Glas- und Goldmosaik, mit denen sie über und über bedeckt sind, daß sie blitzen und funkeln, als wären sie lauter Edelsteine (vgl. Abbildung S. 417). Auf dem jenseitigen Ufer des Menam erhebt sich als Wahrzeichen und höchstes Bauwerk der Stadt die großartige Spitzpyramide des berühmten Wat Tscheng über das ganze fremdartige Bild.

[419] Tempel um Tempel erheben sich überall in dieser Stadt des Buddha. Manche von ihnen bedecken mehrere Morgen Land, manche liegen verborgen zwischen Häusern und Kanälen, manche an den Straßenecken oder auf künstlich aufgeworfenen Erdhügeln. Sie zeigen verschiedene, aber immer phantastische Formen und werden bewacht von grotesken Riesenstatuen (vgl. die untenstehende Abbildung), die scheußlichen Teufelsfratzen, Krieger, Tiergestalten, ja Menschen in modernen europäischen Trachten in Frack und Cylinderhut, darstellen! Um die einzelnen Höfe dieser Tempel ziehen sich gedeckte Galerien, deren Wände mitunter ganz vorzügliche Wandmalereien bedecken, oder denen entlang Tausende und aber Tausende von Buddhastatuen stehen, in den verschiedensten Größen, von Fingerlänge bis zur zwanzigfachen Lebensgröße. In Seitengebäuden dieser Tempelhöfe hausen Dutzende von Büßern, in lange weiße Gewänder gehüllt, wochen- und monatelang. Andere Tempel enthalten buddhistische Heiligtümer oder nur vergoldete Schränke, in welchen Tausende von Gebeten und Predigten auf langen Palmblattstreifen, mit der heiligen Palischrift geschrieben, aufbewahrt werden; in wieder anderen wird das Auge des Besuchers geblendet von den größten Kostbarkeiten; hier liegen Häuflein Diamanten und Rubinen, Kronen, Ringe, blitzende Geschmeide aller Art, ragen lebensgroße Buddhastatuen aus getriebenem Golde, alles aufgespeichert zur größeren Ehre dieser indischen Gottheit, und Dutzende von Priestern in ihren langwallenden gelben Gewändern hüten diese Schätze und diese Tempel. In anderen Gebäuden, beschattet von den dunklen Laubkronen des heiligen Bodibaumes, sieht man Buddhas in liegender Stellung, aus Bausteinen und Mörtel aufgemauert, die zu den größten Statuen der Welt gehören, häufig bis siebzig Schritte lang und ganz mit dünnen Goldplättchen vergoldet! An manchen Stellen der weiten Tempelhöfe erheben sich steinerne Altäre, überhöht von säulengetragenen Dächern, und auf diesen glimmen Holzscheite, die dicke, übelriechende Rauchsäulen zum Himmel emporsenden. Das sind die Verbrennungsstätten der Menschenleichen! Im Wat Saket, diesem schrecklichsten aller Tempel, die ich auf dem Erdball gesehen, befindet sich eine ganze Anzahl solcher Verbrennungsaltäre, und das Feuer erlischt dort niemals.

Eingang zum Wat Tscheng.

Aber der Tod hat für die Buddhisten – und es giebt keine eifrigeren, als es die Siamesen sind – keine Schrecken, sie begrüßen ihn als Erlösung, als die notwendige Vorstufe zur Erreichung des köstlichen Nichts, des Nirwana. So herrscht denn auch um die Begräbnisstätten ebenso wie in der ganzen Stadt sorglose Fröhlichkeit, Vergnügen, Liebe und Spiel, denn ein sorgloseres Volk ist wohl kaum zu finden – auch keines, in welchem die irdischen Glücksgüter ungleicher verteilt wären, wo es größere Reichtümer, aber auch größere Armut gäbe – und doch kein Elend! Die Siamesen sind bedürfnislos, ihre leichten Wohnungen aus Bambusrohr und Palmenblättern, ihre mehr als einfache Kleidung, ihre Nahrung aus Reis, Fischen, Gemüsen erfordern keine großen Geldopfer, keinen Kampf ums Dasein, und arbeiten sie mehr, als sie für ihres Leibes Notdurft brauchen, so wird der Verdienst häufig dem Spiel geopfert. Sie sind leidenschaftliche Spieler. Bei Tag und Nacht auf den Straßen oder in den zahllosen von Chinesen gehaltenen Spielhöllen wechseln die silbernen Ticalsmünzen unausgesetzt die Hände. Die Siamesen spielen um ihre Habe, ihre Frauen, zuweilen um ihre Töchter, um ihre eigene Person. Ist alles fort, so begeben sie sich leichten Herzens in die Schuldsklaverei und spielen als Sklaven weiter, um vielleicht das Geld zu gewinnen, sich damit wieder loszukaufen!

Sie sind kein Industrievolk, das sieht man auf einem Gang durch den großen Bazar von Sampeng, wo der größte Teil des Handels und der Industrie in den Händen von Chinesen liegt. Die Siamesen sind zumeist Ackerbauer, Fischer, Schiffer, Diener, Sklaven der großen Herren, die in dem Stadtteil rings um den Königspalast wohnen. Welcher Kontrast zwischen dem Gewirr schmutziger Gäßchen mit den Tausenden winziger Kaufläden und den Zehntausenden von fremdartigen, bunt gekleideten, fröhlichen Menschen, die sich dort drängen, und dem vornehmen königlichen Stadtteil! Der Wille des aufgeklärten, von staatsmännischer Weisheit und Sorge für sein Volk erfüllten Königs hat dort Wunder geschaffen. Ohne irgendwie die altangestammte Kultur des Landes aufzugeben hat er viele der das Volk bedrückenden Lasten und Einrichtungen beseitigt, er hat dafür den Segnungen der europäischen Kultur Eingang verschafft und damit bei sich selbst begonnen. Rings um die Palaststadt mit ihren phantastischen Pagoden und Tempeln erheben sich moderne Schulen, Hospitäler, Post- und Telegraphenämter, Regierungsbauten und von oben herab, vom König und den zahllosen Prinzen angefangen, macht die Aufklärung immer mehr Fortschritte.

König Chulalonkorn der sich, wie schon gesagt, gegenwärtig auf Besuch in Europa befindet, wurde am 22. September 1853 geboren und bestieg als fünfzehnjähriger Jüngling im Jahre 1868 den Thron, als der fünfte König seiner Dynastie. Sein Vater hatte dafür gesorgt, daß er eine sorgfältige Erziehung erhielt. Zu seinen Lehrern und Lehrerinnen zählten außer einheimischen Gelehrten die Amerikanerin Mrs. Leonowens und Kapitän John Busch. Chulalonkorn war auch in späteren Lebensjahren bestrebt, die europäische Civilisation kennenzulernen, und besuchte zu diesem Zwecke die indischen Städte Singapore, Bombay und Kalkutta, er sorgte auch dafür, daß eine Uebersetzung ausgewählter deutscher und englischer Werke ins Siamesische veranstaltet wurde. Es unterliegt keinem Zweifel, daß die Reise des Königs durch Europa seinen Gesichtskreis noch mehr erweitern und ihn zu neuen Reformen in seinem Reiche veranlassen wird. Trotz aller Vorliebe für die abendländische Kultur wahrt aber Chulalonkorn pietätvoll die alten Sitten seines Landes.

So hat auch sein Hof alle Eigentümlichkeiten der früheren Zeit beibehalten, und kein Hof kann glänzender sein als jener von Siam. In den großartigen Palästen sind die seltensten Kostbarkeiten aufgehäuft, in den Haremsbauten wohnen Hunderte der schönsten Frauen des Landes, bedient von Tausenden von Sklaven. Jedes Fest der königlichen Familie ist ein Freudenfest für das Volk, das seinem Herrscher ohne Rückhalt Verehrung und Liebe entgegenbringt. Keine Familie kann größer sein als jene des Königs. Sein Vater, der 1868 verstorbene König Mongkut, hinterließ gegen achtzig Kinder, der regierende König hat deren vielleicht die doppelte Zahl, und jeder Geburtstag, jede Leichenverbrennung, jeder Erinnerungstag wird durch die rauschendsten Festlichkeiten gefeiert, die jährlich Millionen verschlingen, die aber ausschließlich dem Volke selbst zu gute kommen. Bei solchen Hoffestlichkeiten herrscht in den Straßen und auf den Plätzen um die Palaststadt ein ebenso buntes, bewegtes, großartiges Leben wie