Zum Inhalt springen

Eine Kindersymphonie

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Oscar Justinus
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Eine Kindersymphonie
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 11, S. 190–191
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1886
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
korrigiert
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal Korrektur gelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[190]

Eine Kindersymphonie.

Von Oscar Justinus.

Wenn ich eine Kindersymphonie zu komponiren verstände, ich würde mit zehn Takten Pause ansetzen, dann ein zum Piano anschwellendes Pianissimo heranbringen, vom Piano zum Adagio, von diesem zum Allegretto und Allegro steigen unter Einsatz aller Instrumente molto vivaceagitatissimocon fuoco schließen.

Dieses musikalische Arrangement drängte sich meinem unmusikalischen Ohre auf, als wir neulich eine Kinder- oder – Verzeihung, meine Fräuleins! – Jungedamengesellschaft in unseren bescheidenen Räumen veranstalteten.

Es war unser erster Versuch auf diesem Gebiete.

Ein Freund unseres Hauses hatte uns seine beiden Töchterchen im Alter von vierzehn und dreizehn Jahren zugeführt, welche vor noch nicht gar zu langer Zeit ihre Mutter, eine durch Wohlthun und edle Gesinnung ausgezeichnete Frau, verloren hatten. Im Sinne der tiefbetrauerten Gattin hatte er die Kinder sich in ihrer Urwüchsigkeit kräftig und natürlich entwickeln lassen und Alles von ihnen fern gehalten, was ihre körperliche und geistige Gesundheit zu beeinträchtigen angethan war. Sie waren in einer mit der Stadt fast außer Zusammenhang stehenden Villa einigermaßen weltfremd aufgewachsen, ihr einziger Umgang die halb bäuerlichen Nachbarkinder, mit denen sie sich auf grünen Wiesen und sandigen Bauparcellen umhertummelten. Ihr städtischer Verkehr beschränkte sich auf Gretchen, eine gleichalterige Gespielin, für deren verarmte Familie die Verstorbene freundlich gesorgt, und auf deren neunjähriges Brüderchen, das den drei Damen einen gemeinsamen höchst respektablen Kavalier abgab.

Die jungen Mädchen Annchen und Hannchen, geborene Holsteinerinnen, waren schlanke Gestalten mit schlichtem Flachshaar, das sich glatt nach den Ohren hinzog und zu lang herabfallenden Zöpfchen vereinigte, die Gesichtchen von jenem durchsichtigen Rosenteint, wie ihn die Niederländer in die Malerei eingeführt haben, zeigten bei ihrer Staatsvisite eine unüberwindliche Schüchternheit. Sie bestrebten sich, das biblische Wort „Eure Rede sei ja, ja oder nein, nein“ noch zu überbieten: denn ihr Ja und Nein war nur mit Hilfe eines Mikrophons zu vernehmen, und sie färbten sich bei ihrer Antwort immer derartig in Purpur, daß der Fragende, mit dem Gefühle, einen wunden Punkt berührt zu haben, beschämt verstummte. Da für diese Dornröschen der küssende Prinz noch nicht in Sicht war, so mußte man sie – und dies war uns sofort klar – „vor allen Dingen in lustige Gesellschaft bringen“. Nach langer und gründlicher Berathung gelangten wir, nach Prüfung des uns zur Verfügung stehenden einschlägigen Materials, dazu, eine Gesellschaft von acht jungen Mädchen zu arrangiren, bei welcher aber der obenerwähnte Knabe eingerechnet war.

Heute kann ich es ja sagen: ich hatte vor dieser Gesellschaft eine fürchterliche Angst. Kein Wunder – denn es war das erste Mal, daß wir ein derartiges Wagniß unternahmen. Meine Frau gab sich zwar alle Mühe, mir einzureden, daß Kinder sich allezeit amüsirten und zwar um so mehr, je weniger man sich um sie kümmere. Aber aus ihrem Tone klang es nicht gerade wie Zuversicht, und zuletzt war sie von meiner Befangenheit derart angesteckt, daß sie mehr bangte, als ich selbst. Wir tragen allezeit ein drängendes Verantwortlichkeitsgefühl dafür herum, daß unsere Gäste sich bei uns wirklich amüsiren, und bekommen, wie die dramatischen Dichter, vor jeder Première von Neuem das Lampen- oder vielmehr das gastische Fieber. Aber große Menschen machen sich mit einander bekannt, reden vom Wetter, vom Branntweinmonopol, den Markthallen und dem „Zigeunerbaron“: Kinder dagegen müssen, das ahnte ich ja, einander vorgestellt – unterhalten, ja das Gespräch muß gewaltsam im Gange gehalten werden, wenn es nicht, wie eine feuchte Cigarre, jeden Augenblick ausgehen soll. Was fängt man aber mit ihnen an, wenn sie auf unser redlich Bemühen überhaupt nicht reagiren? Im Geheimen faßte ich den Plan, wenn gar nichts mehr verfangen sollte, das Weite zu suchen, und ich habe meine Frau in Verdacht, daß sie sich mit einem ähnlichen Gedanken als ultima ratio vertraut gemacht hatte.

Der gefürchtete Termin rückte langsam, aber sicher heran. Wir waren Vormittags zusammen ausgegangen, um zu der Chokolade – über diese Aufwartung waren wir schließlich einig geworden, weil sie einen viel feierlicheren Charakter hat, als der gewohnte alltägliche Kaffee – recht verschiedenartiges Gebäck einzukaufen. Ich glaubte dabei das Princip vorwalten lassen zu dürfen, daß es mehr auf die Form als den Inhalt, mehr auf die Farbe, als den Geschmack, mehr auf die Quantität, als die Qualität ankäme. Um noch ein Uebriges zu thun, kauften wir als etwaige Gewinne für die etwaigen Gesellschaftsspiele allerlei Meisterwerke der bildenden Kleinkunst aus jenem Material ein, welches die Götter in ihrem Zorne, die Zahnärzte in ihrem wohlverstandenen Geschäftsinteresse erfunden zu haben scheinen – aus Marzipan. Wir plünderten dann noch einen Obstkeller, ließen uns durch den „Lustgeruch“ und die rothen Kinderbäckchen der Aepfel wieder einigermaßen ermuthigen und thaten noch Datteln, Feigen, Paranüsse und – o Ideal meiner Kinderjahre! – Johannisbrot ein, um der Tafel einen gewissen kolonialen Anstrich zu geben.

Daheim angelangt, gab ich mich nicht ohne Erfolg einem gründlichen Studium von Georgen’s „Illustrirtem Allgemeinen Familien-Spielbuch“ hin – suchte in allen Kommoden, was bunt und glänzend aussah und was ich mir für den idealen Fall einer Kindergesellschaft nach und nach aufgestapelt hatte, zusammen und war gerade im Begriff, auf eigene Faust etwas noch nie Dagewesenes von Unterhaltungsspiel zu erfinden, als es klingelte. Hannibal ante portas! – die Kleinen kennen nicht einmal das akademische Viertel und sind von einer erschreckenden Pünktlichkeit.

Das waren die zwei lieben Töchterchen meines Schulfreundes, eines Oberförsters, welche der seit mehreren Jahren verwittwete Vater der guten Schwägerin, einer Institutsvorsteherin, zur geistigen und leiblichen Pflege in Pension gegeben hatte. Als der Papa das dritte Mal nach Berlin kam, um sich von den Fortschritten der Kleinen zu überzeugen, schrieb man gerade die großen Ferien, und er kehrte in seine Waldeinsamkeit im fernen Osten nicht zurück, ohne die sorgsame Ziehmutter zur richtigen Mutter des Geschwisterpaares promovirt zu haben. Nun führen sie ein Amphibienleben wie die Blumen, die Kinder der Proserpina. Im Sommer leben [191] sie beim Papa und singen „Der Wald ist unser Nachtquartier“, im Winter bei Mama „am schönen Strand der Spree“. Keines der Eltern kann sich bei aller Liebe bis jetzt entschließen, seine Position aufzugeben. Aber ich sehe es kommen: der Zug nach dem Westen wird den Sieg davon tragen.

Wir gingen den beiden Mädchen nach dem Entrée entgegen und waren sehr geschäftig, sie ihrer Mäntelchen zu entledigen. Es entwickelten sich zwei Wollkleidchen von himmelblauer Farbe, welche auf mein Gemüth einen entschieden beruhigenden Eindruck ausübten. Aehnlich günstig wirkte die Entdeckung von Etwas, was sie sorgsam behütet auf dem Arme trugen und was sich bei entflammtem Gase als Puppen entpuppte. Ich war schon während meiner Vorbereitungen immer damit ins Gedränge gekommen, wie ich mir den Intellekt eines vierzehnjährigen Mädchens vorzustellen hätte, und hatte das Niveau immer entweder zu hoch oder zu niedrig angenommen. Ich hatte meine Gäste längst aus der Puppenzeit herausgedacht – ich habe nie in meinem Leben mit einer Puppe gespielt – und ich war nun wenigstens sofort im Klaren, daß ich noch „Du“ zu den Mädchen sagen durfte, welche Frage mich auch schon sehr stark beschäftigt hatte. Die Puppen waren übrigens ganz besondere Exemplare, Automaten von der Geschicklichkeit eines Kautschukmannes. Sie verdrehten nicht nur die Augen wie eine Heroine bei ihrem ersten Debüt, sondern auch jedes Glied ihres schöngebildeten Körpers, die rechte Ferse der älteren ausgenommen, welche am Weihnachtsabend bereits eine Fraktur erlitten und nothdürftig mit Fischleim ausgeheilt worden war. Das war ihre Achillesferse.

Die beiden Schwesterchen – Dorf und Stadt repräsentirend – Pinchen und Tinchen wollen wir sie taufen – hatten etwas Zutrauliches, und die Unterhaltung mit ihnen, zu welcher das Leben ihrer Puppen einen nie versiegenden Stoff hergab, zeigte sich unerwartet ausgiebig, so lange sie mit uns allein waren. Mit dem Eintritt der Holsteinerinnen nahm das Gespräch eine andere Wendung, d. h. es hörte auf: denn nun saßen sich zwei fremde Kinderpaare gegenüber, und da hört eben Alles auf. Ich machte mich daran, sie einander vorzustellen: aber das „Fräulein“ blieb mir angesichts der augenverdrehenden Puppen in der Kehle stecken. Dagegen schien mir, den Neuangekommenen gegenüber, das „Du“ auch nicht mehr recht am Orte, und ich half mir in meiner Verlegenheit damit, daß ich den ganzen Abend das Impersonale in Anwendung brachte: „Man könnte etwas spielen – man sollte Chokolade trinken“ – der Ausweg war jedenfalls großartig. Indeß glaubte ich, das Herzklopfen der vier armen Sünderinnen zu vernehmen, von denen keine das erste Wort der Unterhaltung fand. Die Röthe der Gesichtchen nahm immer größere Dimensionen und eine immer bedenklichere Schattirung ins Braune an, und ich sah den Augenblick herannahen, wo acht Kinderwangen unfehlbar in Brand gerathen mußten, wie das unter das Sonnenbild eines Brennglases geschobene Schwefelhölzchen. Meine Frau, welche noch mit der Herrichtung des Vespertisches zu thun hatte, war grausam genug gewesen, mich, der Verlegenen Verlegensten, mit den vier jungen Damen allein zu lassen. Es war so still, daß man eine Bakterie sich schneuzen hören konnte, und ein ganzes Regiment von Engeln schien durch das Zimmer zu schweben.

Ich weiß noch jetzt nicht, woher mir der Muth kam, das Stillschweigen zu brechen. Ich schlug das allbeliebte geistreiche Spiel „Burr!“ vor, was in so fern eine gewisse Abwechselung in unser Zusammensein brachte, als doch die Lippen meiner Gäste, war es auch nur, um eine Zahl oder ein „Burr!“ auszusprechen, in Bewegung gesetzt werden mußten. Hin und wieder wurde auch bereits ein schüchternes Lachen hörbar, was aber, wenn man in die Gegend, wo es hertönte, blickte, sofort zurückgehalten oder durch ein unnatüliches Hüsteln verdeckt wurde. Selbst als Gretchen erschien, ein durch den Kummer, in welchem sie aufgewachsen war, über ihre Jahre ernstes und verständiges Kind, und Hans, das Brüderchen, das sich unter all den Mädchen ausnahm wie der von den Nymphen geraubte Hylas, wurde die Stimmung nicht besser, und sogar „die Chokolade^, von welcher wir uns Beide die Wirkung „des erregenden Momentes in der Erposition eines Dramas“ versprochen, schien trotz der vielfarbigen und vielformigen Gebäcke uns im Stich zu lassen. Diese Vesper war so tranrig wie die sicilianische – so still wie ein Leichenschmaus. Rathlos, händeringend und uns mit verstörten Blicken ansehend, liefen wir hin und her, animirten zuzugreifen, was sogar auch ohne unsere Aufforderung geschah, und dachten bei uns: das wird ja ein netter Abend! Einige Mütter und Tanten waren erschienen – darunter eine liebe kleine Freundin mit einem Kindergesichtchen – Liebhaberin netter Neffen und Nichtchen – und Dichterin hübscher Kindergeschichtchen. Diese wußte uns aus dem reichem Schatz ihrer Studien auch weiter keinen Rath zu geben, als die Kinder versuchsweise sich allein zu überlassen. Wir zogen uns darauf unvermerkt in das Nebenzimmer zurück und nahmen selbstverständlich voller Spannung sofort Posto „horchend an der Wand“. Ja, wenn wir nur wenigstens „unsere eigene Schand“ gehört hätten, wir wären ja zufrieden gewesen. Wir hörten aber gar nichts außer dem Klappern der Tassen, dem verlegenen Einschlürfen des braunen Trankes, dem Hin- und Herrutschen mit den Stühlen – und manchmal einem verlegenen „Bitte“ bei Hinreichen des Backwerks. Dann wieder die Ruhe eines Kirchhofes – die Stille eines Taubstummenanstaltkonversationssaales.

Das hielt ich nicht länger aus – die Mappe mußte heran. Aufgeschwellt von ihrem reichhaltigen Inhalt, den ich seit Jahren hier gespeichert, wurde das Ungethüm von mir hineingetragen und eröffnet. Viele Dutzend Vorbilder vom „Wo ist die Katze?“ an bis zuni „Wo ist der Esel?“ – Vexirschriften, die nie ein Sterblicher, vermuthlich der Erfinder selbst nicht, zu lösen vermocht hat – glänzende Reliefbilder – Metachromatypien - Stammbuchklebblumen – Photographien, deren Urbild in Vergessenheit gerathen – ausgeschnittene Holzschnitte aus illustrirten Blättern – zum Theil in einer müßigen Stunde getuscht – Klappbilder, die Neuheit des letzten Weihnachtsmarktes – einige zum Rattenkönig zusammengeknotete Chenille-Affen – Neujahrs- und Glückwunschkarten und besonders ausgeschmückte Firmenkarten und Kalenderchen: kurz eine echte rechte Rumpelkammer bildender Kunst schüttete ich auf den Vespertisch aus, und zwölf Händchen begannen sofort in dieser räthselhaften Herrlichkeit zu wühlen und zu schatzgraben.

Und damit war der Zauber gebrochen – die Gemüther angeregt – die Stimmung, jenes launenhafte Wesen, für welches noch Niemand ein Kommandowort gefunden – eingekehrt. Man stürzte mit wahrem Heißhunger über Räthselbilder, als gelte es, die Probleme des Weltalls zu lösen. Was die eine nicht rieth, rieth die andere zwar auch nicht: aber das gemeinsame Bemühen führte eine Art Kampfgenossenschaft herbei, welche annähert und befreundet. Man schob sich die Sachen zu, man hielt sie gegen das Licht, man verglich, man gab sich Rede und Antwort, man scherzte, man lachte einander aus. Als die Letzteingeladenen erschienen, zwei Schwesterchen aus dem Thiergartenviertel, die ältere eine hübsche Figur mit schwarzem Haar und funkelnden Augen, welche schon Tanzstundentriumphe zu verzeichnen hatte, die jüngere kleinere nicht minder lebhaft und nicht minder schlagfertig, stürzten sie sich sofort mit Eifer, ohne Vorstellung oder sonstige Zeremonie, in den Strom des Spielens und plauderten und scherzten, als wären sie unter alten Bekannten. Wir aber, die verantwortlichen Redakteure, drückten uns mit frohem Einverständniß hinter der Thür gratulirend die Hände und sprachen: „Seht, die Massen sind in Fluß!“

Aber das Allegro ward erst allgemein als wir uns wieder alle unter das Völkchen mischten und Bewegungsspiele arrangirten. Für Kinder ist Stillsitzen allezeit ein großes Opfer und erst in der Bewegung gelangen ihre hohen Begabungen zu wohlthätigster und reichhaltigster Entfaltung. Es wurde jetzt der sogenannte Kreis gebildet, der gewöhnlich ein Viereck ist und gewissermaßen die Lösung der Quadratur des Cirkels abgiebt. Kämmerchen vermiethen, Tellerdrehen, Wolf und Gänse, Nasenzupfen, Stuhlerobern, das Suchen versteckter Gegenstände nach der Musik, das Betasten mit der Suppenkelle, Telegraphiren, Städtebauen, Alles schlug ein. Die Stimmung war eine glänzende: die wasserblauen Augen der Holsteinerinnen leuchteten, und die rosigen Gesichtchen glühten – aber jetzt in dem schöneren Purpur der Erregnug des Spiels. Die Fröhlichkeit war in Permanenz erklärt. Die Mütter und Tanten glänzten und vergnügten sich, und uns Wirthen war so wohlig zu Muthe wie einem Komödiendichter, dem der Direktor am Ende des vorletzten Aktes strahlend zuruft: „Das Stück ist durch!“

Jetzt kam noch das Abendbrot: die kleine Gesellschaft wieder apart. Wie wir später zu unserer Beschämung erfahren mußten, haben sie uns diese separate Tafel besonders hoch aufgenommen. Sie präsentirte sich, von unserem Zimmer aus gesehn wie ein Ausschnitt des Knaus’schen Bildes „Wie die Alten sungen, so zwitschern die Jungen“. Die Letzten waren, wie es in der Bibel heißt, die Ersten geworden und die Schüchternsten die Animirtesten. Der italienische Salat und die mannigfach belegten Stullen, das Obst, die Kuchen, die Bowle in einer ad usum delphini verdünnten Qualität – Alles hatte einen wunderbaren Succeß. Alle Hindernisse wurden mit einer wahrhaft patriotischen Begeisterung genommen. Sie plauderten – sie stießen an – sie lachten – sie applaudirten – sie sangen – einstimmig – zweistimmig – tutti frutti. Einige erhoben sich sogar zu einem Dankestoast auf die gerührten Wirthe! Wer hätte das gedacht?

Als nachher eine der Mütter am Flügel ein stimmungsvolles Lied zum Besten gegeben und meine Frau aus dem untersten Fache ihres Notenspindes einen Stoß etwas unmodern gewordener Tanzweisen heraufholte, erreichte der Jubel seinen Gipfel. Es begann das reguläre Lämmerhüpfen. Sie tanzten über einander – neben einander – unter einander. Einzelne sprangen wie ein Gummiball immer auf derselben Stelle. Von einem Rhythmus – von einem Pas hatte nur der kleinste Theil eine dunkle Vorstellung: die meisten waren Naturtänzerinnen in des Wortes verwegenster Bedeutung. Immerhin wäre bei aller Liebe und Verehrung für die Natur, für einen korpulenten Herrn – ich war neben dem neunjährigen Hans der Einzige, der sich schon in seiner Eigenschaft als Wirth der Tanzlust seiner sieben hüpfenden unermüdlichen Gäste zur Verfügung zu stellen hatte – ein bischen vorhergegangene Tanzstundenschulung doch angenehmer gewesen. Ich fühle heute noch von den Leistungen dieses Abends eine gewisse Verrenkung der rechten Schulter.

Die Kiuder tanzten und die Stunden flogen. Die abholenden Mädchen standen in der Thür und gewannen erst nach Stunden den Muth, zum Heimwege zu mahnen. Es waren Freundschaften geschlossen worden unter den heterogensten Naturen, Dörflerinnen und Städterinnen, Reichen und Armen, Holsteinerinnen, Berlinern und Provinzialen, Protestanten, Katholiken und Juden – Freundschaft mit der Betheuerung: fürs ganze Leben, und die Heimkehr erfolgte mit Gesang und Jubel und mit so herzlichem Danken, als hätten wir ihnen ein Himmelreich einbescheert.

Wenn man aber so oft über die Blasirtheit der heutigen Kinder reden hört, es scheint mir nichts als eine fable convenue, als eine recht beliebte Uebertreibung. Kinder sind Kinder, ob sie in einem einsamen Alpendorf oder einem Viertel des Thiergartens aufwachsen. Und wenn Molière vor zweihundert Jahren seinen „eingebildeten Kranken“ sagen läßt: „Es giebt keine Kinder mehr“, so kam ich, der ich mir „einbilde, ein Gesunder“ zu sein, am Schlusse unserer Kindergesellschaft viel näher der Erkenntniß: „Es giebt keine Alten mehr!“ Denn Alle. die wir ihr beiwohnten, wurden jung in der Berührung mit der frischen und fröhlichen Kinderwelt.