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Eine Fahrt um die Braut

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Textdaten
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Autor: Helene Pichler
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Titel: Eine Fahrt um die Braut
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 42 und 43, S. 720–723 und 735-739
Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1891
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Eine Fahrt um die Braut.

Erzählung aus Helgolands Vergangenheit von Helene Pichler.

Ein dunkler stürmischer Herbstabend lag über Helgoland. Der brausende Nordwest scheuchte alles Lebende in die Hütten und Häuser und zwang die Bewohner der Insel, ihre Thüren „dicht“ zu halten. Drinnen in den Stuben brannten die Zinnlampen trübe, und alt und jung hockte zusammen an den warmen Oefen. Die Stimmung war durchaus keine fröhliche, denn man schrieb das Jahr 1808, die europäischen Völker wurden durch die Kriegsfurie fort und fort gegen einander gehetzt, und obgleich sich die Helgoländer wenig um Politik kümmerten, so lange sie auf ihrem meerumbrandeten, Felseiland in Ruhe gelassen wurden, so war doch der jetzige Zustand ein höchst unbequemer, mit dem sich die friesischen Hartköpfe nicht abzufinden wußten. Vor einem Jahre nämlich war ihre Insel von den Englandern besetzt worden, die sich freilich durch ein gewisses Verständniß für die Sonderart des kleinen friesischen Inselvolkes beliebt zu machen verstanden; aber man wußte doch nicht recht auf Helgoland: war man noch dänisch, oder schon englisch. Jedenfalls benahmen sich die Engländer bereits als Herren der Insel; sie benutzten dieselbe als Stapelplatz für die Kolonialwaren, die infolge der von Napoleon I. verhängten Kontinentalsperre nur auf Schleich- und Schmuggelwegen in die englsch-hannoverschen Provinzen und weiter hinein ins deutsche Reich geschafft werden konnten, um dort der Noth und Theuerung etwas zu wehren. Die Helgoländer Fischer gaben zu diesem Schmuggelverkehr sehr gern ihre Fahrzeuge wie die nöthigen Mannschaften her, denn sie selber waren an Nahrung und Erwerb durch die Kontinentalsperre aufs schwerste getroffen; war diese doch schuld, daß die Fischer mit ihrer silberschuppigen Ware die Fischmärkte von Bremen und Hamburg nicht mehr besuchen konnten, und sie hätten mit Weib und Kind hungern müssen, wenn nicht die Engländer Nahrungsmittel auf die Insel geschafft hätten.

So machte es sich denn ganz von selbst, daß die Helgoländer neben den Schmuggelfahrten auch die weit gefährlicheren heimlichen Postfahrten nach dem Festland übernahmen; gefährlicher deshalb, weil die Franzosen mit aller Macht darauf ausgingen, jeden brieflichen Verkehr der deutschen Staaten mit dem Auslande und besonders jede derartige Verbindung Englands mit seinen deutschen Provinzen zu verhindern. Es war bereits zweimal vorgekommen, daß man junge Männer mit Briefschaften aufgegriffen und ohne weiteres „standrechtlich“ erschossen hatte.

Gegen solche Willkür und Tyrannei lehnten sich die Gemüther der friesischen Fischer ebensosehr auf wie die der berechnenden Engländer. Der Franzos war der gemeinsame Feind, gegen den sie beide sich wehrten.

An jenem stürmischen Herbstabend stieg eine weibliche Gestalt langsam und sorglich sich umschauend im Dunkeln die große Treppe hinab, die von dem hohen Felsplateau zu dem sandigen Vorlande, dem Unterland, hinabführt. Sie hatte den unteren Saum ihres Kleides hoch genommen und über den Kopf gezogen; vorsichtig setzte sie einen Fuß vor den andern, um nicht bei einem Fehltritt durch den heulenden Sturm in die Tiefe geschleudert zu werden.

Auf dem zweiten Absatz der „Börrig“, wie der Helgoländer die große Treppe nennt, hielt sie ein wenig inne und lehnte sich tiefathmend gegen die Felswand; gar zu wild stöhnte und kreischte es in den Lüften, und die dunkle See rauschte dazu und leckte mit weißen Zungen hoch empor an dem Eiland. Es war eine schöne kräftig gebaute Mädchengestalt, die weiterschreitend jetzt mit dem Fuß nach der nächsten Stufe tastete. Da tauchte in dem Nachtdunkel unter ihr ein Kopf auf, der sich rasch höher und höher schob: vom Unterlande kam ein Mensch herauf. Das Mädchen zog rasch ihr Kleid dicht übers Gesicht zusammen, um nicht erkannt zu werden, aber im selben Augenblick tönte es schon: „Gesche!“ „Lars!“

Die beiden hatten sich trotz Sturm und Finsterniß erkannt, und hastig flog nun Rede und Gegenrede hin und her, während sie sich unter Windesheulen und Regengüssen auf dem Felsvorsprung zu halten suchten.

„Wohin zur Stunde und bei dem Wetter?“ fragte Lars mit merklichem Unmuth in der Stimme.

„Wohin sonst als zu Dir?“ erwiderte das Mädchen mit fliegendem Athem, „Vadder is ganz kaput, von wegen der Wunde am Knie, die wieder aufgebrochen ist. Nun liegt er elendig da und brummt und knurrt, weil er keinen Ersatzmann für die Postfahrt morgen hat, und da dachte ich –“

Gesche stockte und Lars wiederholte fragend. „Da dachtest Du …?“

„Natürlich! da dachte ich – wenn Lars Ersatzmann sein wollte, und es ginge alles gut, dann –“

Der junge Fischer ließ die Geliebte nicht ausreden. „Dann würde es vielleicht doch ’was werden können mit der Gesche und dem Lars? He, das meinst Du doch?“ Er stieß ein kurzes gedämpftes Lachen aus, sodaß Gesche ganz erschrocken ihre arbeitsrauhe Hand auf seinen Mund legte. Herrgott, wenn jemand das Lachen gehört hätte! Gesche zitterte bei dem Gedanken an eine Entdeckung dieser nächtlichen Zwiesprache; mit ihrem guten Ruf wär’ es für immer aus und vorbei, und die [722] Sonntagskleider könnten im Spind verstocken, denn Gesche hätte sich mit ihnen nie wieder beim Tanze im „Rothen Wasser“ zeigen dürfen, weil sie doch keinen Tänzer gefunden hätte. Die Sittsamkeit der helgoländer Frauen und Mädchen unterlag in dieser Zeit noch einer höchst strengen Volksgerichtsbarkeit.

Lars’ Lachen war jedoch zu keines Unberufenen Ohr gedrungen. Er sagte jetzt tiefernst, mit einem Anflug von Bitterkeit: „Ja ja, das könnt’ wohl sein; wenn nur die Gesche keine Helgoländerin und ich nicht vom dänischen Jütland gebürtig wäre! Einen Dänen darfst Du ja doch nie freien. Ihr seid hart wie der rothe Felsen und guckt herab auf alles, was nicht auf Eurem Felsen geboren ist.“

Der junge Däne hatte die Worte grimmig vor sich hin gemurmelt, es klang wie das dumpfe Murren der See. Einige Augenblicke blieb es still zwischen den Liebesleuten, dann stieß Gesche hervor:

„Wahr ist’s, so sind wir. Aber wir wissen auch, daß Kraft und Dichtwesen[1] bei jedem Mann das Beste ist. Probier’s und Du sollst sehen, es glückt!“

„An Tollheit[2] soll’s von meinetwegen nicht fehlen,“ sagte Lars, „aber Knud Froden bleibt ja doch ein Starrkopf“

„Wird sich finden!“ erwiderte Gesche, „tritt Du nur für ihn ein bei der Postfahrt. Er meinte freilich von Dage[3], dazu hätte der jütische Torfkopp keine Kurasche —“

„Was? Jütischer Torfkopp?“ schrie Lars, „nu thu ich mit, Gesche, und wenn die Franzosen mich sammt dem ledernen Postsack im Watt ersticken sollten.“

Das Mädchen seufzte tief auf. „So stell’ Dich zeitig bei Vadder ein; mit Tagwerden soll die Schaluppe nach dem Werk [4] abgehen. Es sollen diesmal wichtige Depeschen im Sack sein, sagt der Kommandant von der englischen Brigg, die Euch begleiten will.“

*               *
*

Kaum kroch der erste dämmernde Tagesschimmer über das grollende Meer herauf, da wurde schon an der Hausthür des alten gebrestigen Knud Froden der Riegel gehoben, und Lars der Däne trat über die Schwelle. Der alte Lotse saß bereits in seiner Koje aufrecht und schalt in den grauenden Tag hinein, daß die Welt immer schlechter werde, daß das junge Mannsvolk keinen Muth mehr habe und in diesen schlimmen Zeiten immer mehr Wind unter die Füße kriege, und daß die Mädchen auch zu nichts mehr werth seien als im „Rothen Wasser“ die Röcke zu schwenken.

Gesche hantierte unterdeß am Herd, schürte das Torffeuer, daß die Funken sprühten, und bereitete den Morgenkaffee, ohne auf des Alten grimmige Auslassungen ein Wort zu erwiderten.

Da knarrte der Riegel. Das Mädchen fuhr zusammen, und ohne sich nach dem Kommenden umzusehen, bückte sie sich rasch, um frischen Torf an das Feuer zu legen.

Lars stampfte erst ein wenig die Füße ab, schleuderte den nassen Südwester aus und ging dann durch die halbdunkle niedrige Stube bis an das Lager des Alten; hier blieb er stehen und sagte nach kurzem Morgengruße: „Ik heff hürt, dat de Bestmann von de Kumpanei brestig is.“

„Schall wol wesen; un watt sunsten noch?“ erwiderte ihm der Alte.

„Ik meen, dat ’r wohl Platz för ’ne stramme Fust bi wör,“ erwiderte Lars ruhig.

Der alte Friese richtete sich plötzlich in seinen schweren Kissen noch höher auf, blickte mit seinen scharfen durchdringenden Augen den jungen Dänen an und sagte langsam und mit schneidender Stimme:

„Dat gilt ’ne Postfahrt nah ’n Werk, mang de Franzosen dör! Dat geit üm ’t Leven! He?“

„Weit ik, Kund Froden. ’t geiht för Recht un Pflicht; eben dorum!“

Der alte Lotse lachte kurz auf und streichelte seinen grauen Stoppelbart; Lars wartete unterdeß geduldig, bis es dem Alten gefiel, eine Antwort zu geben.

„Gesche, bring’ Kaffee!“ kommandierte Knud Froden seiner Tochter zu, die eben den Kaffeekessel vom Feuer hob, wobei der Widerschein der rothen Gluth ihr Gesicht überstrahlte. Gesche goß ein, und während die Männer den heißen Morgentrunk zu sich nahmen, gab Knud Froden mit kurzen Worten die nöthige Weisung über den Punkt auf der Insel Neuwerk, wo das englische Postfelleisen abgeliefert und dafür das von dem deutschen Festlande heimlich nach der Elbinsel geschaffte in Empfang genommen werden müsse. Lars nickte verständnißvoll und meinte: „Is all god.“ Er hatte schon die Thür in der Hand, als ihn der alte Lotse noch einmal scharf anrief.

„De englischen Depeschen möten dör de Franzosen an de Dütschen ’brocht wären, wird dat de Däne gau richtig maken?“

„Hei wird, Knud Froden, hei wird! ’t geiht for Recht un Plicht!“ erwiderte Lars.

*               *
*

Auf dem Unterlande herrschte schon reges Leben um diese Stunde. Einheimische Fischer und englische Matrosen standen in Gruppen bei einander, erstere „stumm und stur[5]“, letztere lebhaft sprechend; seitwärts neben dem großen hölzernen Warenschuppen, den die Engländer erbaut hatten, saßen einige fröstelnde Weiber und warteten mit Henkelkörben und Demijohns[6], daß ihre Väter und Männer das Rauhfutter[7] für die Reise begehrten.

Es handelte sich darum, ob die Postfahrt nach Neuwerk angetreten werden müsse oder nicht. Die Helgoländer hielten sich nämlich keineswegs dazu für verpflichtet, obwohl sie diesen Dienst seit der englischen Besitzergreifung freiwillig versehen hatten. Heute fehlte aber der, welcher bislang nicht nur sein einmastiges Fahrzeug, seine Schnigge, zu den gefährlichen Fahrten hergegeben, sondern auch mit seiner Person die Verantwortung allein getragen hatte, der alte Knud Froden. Die Schnigge schaukelte freilich ein Dutzend Ellen weit vom Strande auf den letzten Ausläufern der Brandungswellen, aber ihr Führer lag, von seinem alten Gebresten heimgesucht, daheim in der Koje, und die zu der Schnigge gehörige Fischerkompagnie wollte keinesfalls das Wagstück ohne einen verantwortlichen Führer unternehmen. Mochten doch die Engländer über die friesischen Dickköpfe schelten und auf die Wichtigkeit der Briefe und Depeschen hinweisen, die nach Neuwerk und von da durch andere Freunde der Engländer nach Cuxhaven und weiter nach Stade und Hannover geschafft werden mußten! Das Schelten wirkte bei den Helgoländer Fischersleuten ebensowenig wie der Hinweis auf die nordwärts von der Insel ankernde Brigg, das englische Kriegsschiff, welches gestern die Post gebracht hatte und heute die Fischerschaluppe schützend begleiten sollte. Die Helgoländer verzogen bei all dem Schimpfen und Wettern keine Miene. Ihr Starrsinn brachte die Engländer in Aufregung und endlich der Wuth nahe. Schon fielen Worte von Zwang und Gewalt seitens der Briten, die Friesen erwiderten die Drohungen, indem sie die Aermel ihrer Schifferjacken hochkrämpten und ihre nervigen Fäuste zeigten; ein Augenblick noch, und es wäre zu Handgreiflichkeiten gekommen, die wahrscheinlich den Grund zu einer keineswegs rosigen Zukunft der Inselbewohner gegeben hätten. In dieser entscheidenden Minute jedoch kam ein Mann in hohen Seestiefeln, die gelbe Oeljacke über den Schultern und den Südwester auf dem kurzgeschnittenen Haar, „de Börrig“ herabgesprungen. Es war Lars. Unten angekommen, sprang er mit fröhlichem Gesicht unter die sich bedrohenden Parteien und rief: „Alltids Manneshand baven![8] Knud Froden schickt mi! Is all’s klar?“

Nach zehn Minuten war denn auch alles klar, d h. zur Abfahrt bereit. Die Engländer sprangen eilig in ihr Boot und ruderten nach der Brigg, um dort die gute Nachricht zu überbringen, daß die „blonden Holzköpfe“ die Helgoländer, endlich ein Einsehen in ihre Pflicht bekommen hätten, und die Kameraden von Knud Frodens Kompagnie tappten durch das niedrige Wasser bis zu der segelfertigen Schaluppe. Allen voran hantierte Lars, der seinen Südwester im Uebermuth grüßend den am Strande zurückbleibenden Weibern und Mädchen entgegenschwenkte und gleich darnach selber half, das Fahrzeug durch Einstemmen [723] einer langen Stange aus dem seichten Meeresgrund in tieferes Wasser zu bringen.

Em freundlicher Tag würde es wohl nicht werden, das sah man, aber der nächtliche Sturm hatte sich doch zur kräftigen Brise gemildert, und die auf der Insel Zurückbleibenden schauten darum ohne sonderliche Besorgnisse der absegelnden Schaluppe nach. Oben auf dem Falm[9] lehnte einsam eine verhüllte Mädchengestalt, die dem im Morgennebel verschwindenden Fischerboot nachschaute und lautlos, aber aus tiefster Seele betete: „Min leiv Herrgott, lat dat gelingen!“

Unter Lars’ Führung hatte die Schaluppe unterdeß freies Wasser gewonnen und war dem englischen Kriegsschiff soweit nahegekommen. daß von diesem ein in getheertes wasserdichtes Segeltuch gehülltes und an einer starken Leine befestigtes Packet von ansehnlicher Größe, durch einen nervigen Arm geschleudert, auf das Fischerboot gelangen konnte. Es war das wichtige Postfelleisen, welches die Helgoländer auffingen, von der Leine lösten und in dem offenen Fahrzeuge unter einer Bank verbargen. Lustig ging’s dann mit dem schwellenden Winde gen Südosten, der Elbmündung zu. Während die Schaluppe durch die schäumenden grauen Wogen rauschte, lichtete auch die englische Brigg ihre Anker, entfaltete ihr Tuch und segelte in gemessenem Abstand hinterdrein. Ja, in sehr gemessenem Abstand, denn schon nach einer Stunde kräftiger Fahrt minderte das englische Schiff sein Tuch und blieb mehr und mehr zurück. Lars sah die Masten seines Begleiters langsam schwinden, und als die mitten im tosenden Meer stehende hohe Baake von Scharhörn vornaus auftauchte, sanken gerade achterwärts die Toppen der englischen Brigg unter den Horizont.

„Is’n fein’ Schutz, de Engländer,“ sagte Frank Kunert, einer der beiden Gefährten von Lars.

„Lat ehm! Hei kennt ’t Water nich,“ antwortete Lars, indem er dem Segel noch etwas mehr Luft gab, sodaß sich die Schaluppe unter dem starken Winddruck fast auf die Seite legte und in dieser Lage so schnell durch die Wellen raste, daß der Gischt am Bug hoch aufsprühte und die nicht rasch genug sich theilenden Wellenköpfe ins Boot stürzten.

Die Engländer kannten in der That das Fahrwasser nicht genau genug, um sich mit ihrer Brigg, die doch 13 Fuß Tiefgang hatte, ohne Lotsenhilfe der gefährlichen, wegen ihrer Sandbänke höchst berüchtigten deutschen Küste weiter zu nähern. Kaum hatte die Brigg das Helgoländer Boot außer Sicht, als sie, noch weit außer dem Bereich der eigentlichen Untiefen, Anker auswarf und das Postboot seinem Schicksal überließ in der Voraussetzung, daß es schon glücklich durchschlüpfen und mit dem kostbaren Postsack die Insel Neuwerk erreichen werde.

Lars und seine Kameraden fühlten indeß bei dem Zurückbleiben des bewaffneten Beschützers erst recht das Verlangen, die gefährliche Fahrt auch ohne den Schutz der englischen Kanonen gut zu Ende zu bringen. Die Schaluppe sauste durch die Wogen, die Baake von Scharhörn blieb leewärts und schon tauchte südöstlich ein heller Streif auf, die ersehnte Insel, sodaß die drei im engen Fischerboot glaubten, alles werde wider Erwarten glatt von statten gehen. Da zeigten sich aber die Spitzen eines großen, nördlich von Neuwerk vor Anker liegenden Schiffes.

„De Franzos?“ fragte Frank Kunert.

„Wat sunsten!“ erwiderte Lars kurz, indem er scharf nach dem feindlichen Schiffe hinüberschaute, weil er erwartete, dieses werde seine Anker aufnehmen und eine Verfolgung beginnen. Aber der Franzose hielt wohl das kleine Segelboot für zu unbedeutend, als daß sich eine Jagd nach ihm lohnen würde; er begnügte sich daher, der Schaluppe eine Kanonenkugel in die Rippen zu jagen – oder vielmehr jagen zu wollen, denn die Kugel schlug mit dumpfem Zischen eine halbe Kabellänge[10] vom Ziel entfernt ins Wasser. Lars schüttelte die herübersprühenden Tropfen von seiner Schifferjacke und sagte gelassen: „He is bannig quad[11], de Franzos.“

Weiter und weiter rauschte die Schaluppe, der französische Kaper kam außer Sicht, nach Lars’ Berechnung mußte nun auf dem östlichen Ausläufer von Neuwerk das Zeichen erscheinen, das nach Knud Frodens Angabe zur Landung an der Ostseite der Insel aufforderte: eine hohe Stange mit einem dunklen Ball an der Spitze. Aber so sehr auch die drei Männer im Boot Ausguck hielten, keine Stange und kein Ball wurden an dem öden Inselstrande sichtbar, dagegen thürmten sich die Wolken im Nordwesten drohend aufeinander, der Wind nahm zu und die See fing an, hohl durcheinander zu laufen. Die Lage der Schaluppe begann ungemüthlich zu werden. Bleik Nummen, der dritte von der Besatzung, schlug vor, man solle Neuwerk liegen lassen und die Elbe hinauf bis jenseit Cuxhaven segeln, wo man in Ruhe besseres Wetter und günstige Gelegenheit zur Landung auf Neuwerk abwarten könne. Aber davon wollte Lars nichts wissen, er bestand vielmehr darauf, trotz des schlechten Wetters die Insel Neuwerk zu umsegeln, so daß die Südseite erreicht wurde, wo die heimliche Ablieferung der Post heute noch geschehen mußte.

Es war inzwischen Mittag geworden. Die Männer spürten es jetzt, daß sie sieben Stunden in Wind und Wasser gearbeitet hatten, ohne den Kräfteverlust zu ersetzen. Aber das Wetter, welches von Westen heranbrauste, ließ ihnen keine Muße, eine Stärkung zu sich zu nehmen. Schwere Regenböen stürzten hernieder, die See heulte, und grau in grau hingen Wolken und Meer ineinander. Die Wogen schlugen in die offene Schaluppe, und die drei Männer waren bald bis auf den letzten Faden durchnäßt. Lars rief dem Steuermann zu: „Wi mötten süd gahn!"

Unter vereinter Anstrengung ward es erreicht, daß die von dem wüthenden Westwind und der andrängenden Fluth nach Norden gezwängte Schaluppe endlich ihren Kopf südwärts wandte, dem Festlande entgegenhielt und nun endlich mit dem sinkenden Tageslichte in das seichte Watt steuerte, welches zur tiefsten Ebbe einen fast trockenen Weg von Neuwerk nach dem Festlande gestattet, zur Fluthzeit aber vom brausenden Meere bedeckt ist.

Gar bald gewahrten die Postfahrer, daß auch vor der Spitze von Cuxhaven ein französischer Kaper lag, und um von diesem nicht gesehen zu werden, hatten sie den Mast ihrer Schaluppe ausgehoben und niedergelegt und arbeiteten sich so ohne jedes Segel, nur auf ihre Kraft und die Steuerfähigkeit der Schaluppe vertrauend, durch das Wogengedränge bis an die Südseite der Insel Neuwerk. Hatte ihnen aber zuerst die steigende Fluth geholfen, so wurde jetzt das zu Beginn der Nacht wieder zurückströmende Wasser ihr Feind. Was kümmerten sie sich um den von Cuxhaven herüberschallenden Kanonendonner, welchen der dort postierte Franzos als Zeichen seiner Wachsamkeit hören ließ; die Aufmerksamkeit und Besonnenheit der drei Männer im offenen Boot waren allein auf das gefährliche Fahrwasser gerichtet, das ihnen durch zahlreiche Sandbänke und Untiefen Verderben drohte. Noch ein Ruck und die Schaluppe saß wirklich fest. Sofort schlugen die rückwärtsströmenden Wellen so heftig über Bord, daß alle drei zu Boden geschleudert wurden und sich das kleine Fahrzeug rasch auf die Seite legte. Lars’ erster Gedanke galt der Post. Die durfte nicht verloren gehen, mochten Schiff und Besatzung auch dran glauben müssen. So hatte Lars denn beim Niederstürzen unwillkürlich das aus seinem Versteck hervorkollernde Packet erfaßt; und da jetzt alle Kräfte angespannt werden mußten, um der völligen Strandung und dem Untergang zu entrinnen, befestigte er es auf seinem Rücken.

Die drei Fischer arbeiteten wacker und kämpften mit höchstem Todesmuth gegen das drohende Verhängniß. Eine Viertelstunde lang sprachen sie kein Wort, sie arbeiteten von einem Geiste beseelt wie ein Mann an der Wiederaufrichtung ihres Fahrzeugs. Jeder von ihnen hörte durch Wind- und Wellenbrausen die heftigen Athemzüge der andern. Endlich, endlich – die schwarzen Fittiche der Nacht hatten sich derweil völlig über das tobende Meer und die stille Sandinsel gebreitet – saß die Schaluppe wieder leidlich aufrecht im Schlick fest. Heftig keuchend und am ganzen Leibe dampfend, warf Lars seine nassen Oberkleider ab, zog die schweren Stiefel von den Füßen, nahm das Felleisen auf die Schulter und sprang über Bord mit dem festen Entschluß, die Post in ihre richtigen Hände zu befördern, oder nicht mehr zurückzukehren.

[735] Tiefe Nacht umgab den jungen Fischer, der, nur mit dem groben Schifferhemd und der nassen Leinenhose bekleidet, den schweren Postsack auf dem Rücken tragend, über die furchtbare Oede des Watts wanderte. Er fühlte nicht, wie scharfe Muscheln seine nackten Füße blutig schnitten; er merkte es kaum, wenn er an einer weichen Stelle fast bis zu den Knieen einsank. Das Gefühl schien geschwunden, dagegen waren Gehör und Gesicht an Schärfe verdoppelt. Deutlich unterschied sein Auge die Grenzlinie des von schwarzen jagenden Wolken umsäumten Horizontes und des schäumenden Meeres, sowie die gleich einem flachen Postament im wogenden Element sich hinstreckende Sandinsel. Vor allem aber erkannte er das wie ein gähnendes Grab sich dunkel ausdehnende Watt. So lange Lars den weichen muddigen Grund unter sich hatte, strebte er mit hastender Eile weiter. Nur nicht versinken, nicht ersticken in trügerischem Meeresboden! Gesches helles Gesicht erschien vor seinem geistigen Auge, winkte ihm und lächelte mit ernstem Munde: Vorwärts! Vorwärts!

Das Werk mußte ja gethan sein, ehe die Fluth zurückkehrte; darum durfte Lars seine Schnelligkeit auch kaum mindern, als er den sandigen Inselstrand erreicht hatte. Nur einen Augenblick stand er athemschöpfend stille, um sich über die einzuschlagende Richtung zu vergewissern. Dann schritt er weiter, sich stets an den feuchten Saum der Insel haltend, um nöthigenfalls bei einer Verfolgung gleich wieder in das Watt zurückkehren zu können.

Zehn Minuten glaubte Lars gewandert zu sein, als vor ihm ein Lichtfünkchen aufleuchtete und gleich danach die dunklen Umrisse einer Hütte erkennbar wurden. Nun fühlte er sich sicher, mußte das doch jedenfalls die Wohnung des braven Neuwerker Fischers sein, der sich in grimmigem Trotz gegen das aufgezwungene französische Joch hatte bereit finden lassen, den heimlichen Austausch der englischen Post zu besorgen. Kein anderer Platz auf ganz Neuwerk hätte sich auch besser dazu eignen können, denn die Hütte lag außerhalb des Deiches dicht am Watt, völlig einsam auf dem weiten öden Strande.

[738] Bevor Lars an das helle Fensterchen des wackeren Gesinnungsgenossen anklopfte, stand er einen Augenblick stille, um zu verschnaufen und einen vorsichtigen Blick in das Stübchen zu thun. Drinnen saß eine alte Frau an dem braungebeizten Tische, vor sich die offene Bibel, deren Zeilen sie mit dem Finger nachfuhr. Eine niedrige zinnerne Thranlampe erhellte das einfache friedliche Zimmer. Schon hob Lars die Hand, um nach Knud Frodens Weisung drei leise Schläge gegen das Fenster zu thun, da hörte er hinter sich ein rasch näher kommendes Geräusch. Ihm, dem beherzten Manne, stockte auf Augenblicke der Athem: keuchend, fauchend, lechzend kam ein Etwas durch die finstere Nacht dahergerast. Ehe Lars nur einen Gedanken zu fassen vermochte, sah er zwei wilde glühende Augen durch die Dunkelheit leuchten, hörte das heisere Fauchen eines großen Thieres und – fühlte zwei mächtige Pranken in seine Schultern geschlagen, während sein Hemd von einem scharfen Gebiß zerrissen wurde.

Von grenzenlosem Ingrimm erfaßt, hatte Lars im Nu sein Postfelleisen zu Boden geworfen, mit beiden Händen den zottigen Hals des Unthiers gepackt und schüttelte dieses nun von sich ab, indem er fester und fester die Kehle zusammen- und von sich abdrückte. Hatte der riesige Wolfshund zuerst sich mit wüthender Anstrengung zu befreien gesucht und dabei mit seinen Pranken Brust und Schultern des jungen Mannes blutig gerissen, so wurde sein Widerstand bald durch die seine Kehle umspannende eiserne Klammer gebrochen. Lars ließ nicht eher los, bis das mächtige Thier in den letzten Zügen röchelnd am Boden lag; dann gab er ihm noch einen Fußtritt und knirschte, nach Luft ringend: „Beest do, ik will di de Kneep[12] uitdrieven!“

„Herr do leive Gott, watt is’r denn all wedder los?“ rief eine angstvolle Frauenstimme. Durch das unheimliche Geräusch des Kampfes von ihrer Bibel aufgeschreckt, hatte die alte Fischerin das Schiebefensterchen geöffnet und beleuchtete mir ihrem Thranlämpchen die grausige Scene.

„De Pust is ehm utgahn!“ sagte Lars gelassen, indem er sich wieder nach seinem kostbaren Briefpacken bückte. Während er aber der Alten Vorwürfe über das freie Umherlaufen eines so bösen Unholds machte, versicherte diese, an allen Gliedern zitternd, der Hund gehöre nicht ins Haus, sondern sei Eigenthum der Franzosen, die ihn bei ihren Patrouilleritten zur Nachtzeit benutzten und wahrscheinlich in kurzer Zeit sich einstellen würden, um Nachsuche in der Hütte zu halten.

Da galt’s also schnell fertig zu werden. Die nöthige Verständigung mit der alten Frau war rasch erzielt. Sie war von allem unterrichtet und erklärte, in zehn Minuten könne das Werk gethan sein, er möge nur einen Augenblick draußen warten.

Gleich danach trat die alte Insulanerin mit Hacke und Schaufel in der Hand zu Lars ins Freie. Auf seine verwunderte Frage, warum ihr Mann nicht mitgehe, lachte sie dumpf nur sich hin und erwiderte: „Sei hebbn en mi inspunn! Hei sitt in die Blüse[13].“

Von der Giebelecke des Häuschens ab schritt die alte Frau dem lang und dunkel sich ausstreckenden Deiche zu. Sie zählte ihre Schritte, bei achtundvierzig hielt sie inne und flüsterte: „Hier!“

Schnell wurde die Hacke in den Grund geschlagen; nur wenige Schaufeln voll Erde brauchten beseitigt zu werden, und Lars entnahm dem Loche ein ebensolches in Leder und Oeltuch geschnürtes Packet, wie das war, welches er mitgebracht hatte und das er nun in das verschwiegene Erdreich einbettete. Hastig wurde das Loch zugeschaufelt, der Sand darübergescharrt. Der aufs neue vom Himmel strömende Regen verwischte vollends jede Spur.

Schon glaubte Lars, das Spiel völlig gewonnen zu haben, der Name der Geliebten wollte sich in triuphierendem Glücksgefühl auf seine Lippen drängen, als seine alte tapfere Begleiterin den Kopf hochwarf und lauschte. Wahrlich, durch den rauschenden Regen und das einförmige Brausen von Wind und Meer ließ sich deutlich Pferdegetrappel vernehmen.

Lars biß die Zähne zusammen, um einen Fluch zu unterdücken, und schickte seine mutige Helfershelferin mit der Bitte zurück, sie möge den erwürgten Hund aus dem Wege und dicht an die Hauswand schieben, damit die Pferde der nächtlichen Verfolger nicht über den Leichnam stolperten, sich dann aber wieder rasch an ihre Bibel setzen. Die alte Fischerin verschwand mit Hacke und Schaufel und Lars warf sich, dicht an den Deich gedrückt lang zu Boden. Nur eine Minute später brausten drei Reiter so nahe an ihm vorüber, daß der von den Hufen aufgeschleuderte Sand ihm um die Ohren flog.

Schon wollte Lars vorsichtig sein Haupt erheben, da hielt einer von den dreien sein Pferd an und kam zurück. Dem Liegenden stand das Herz in der Brust still; er sah sich bereits in schmählicher Gefangenschaft, mit Ketten belastet, in der Blüse sitzen, er hörte Knut Froden höhnisch sagen: „So wiet is de jütische Torfkopp mit sien Kurasche kamen!“ Nein, nein, das durfte auf keinen Fall geschehen, lieber wollte Lars um Leben und Tod das Aeußerste wagen: den gefährlichen Lauf über das wie ein schlammiges Grab in tiefster Finsterniß daliegende Watt. Mochte er versinken, ertrinken, umkommen in Nacht und Graus; besser das, als in die Hände des Feindes gerathen.

Lars sprang auf, warf seinen Pack über die Schulter und lief nun am Fuße des Deiches entlang. Erst in diesem Augenblicke wurde die dunkle fliehende Gestalt von dem Reiter, der nur einen nachträglichen Blick durch das Fensterchen der Hütte hatte thun wollen, entdeckt, und Lars erkannte, daß er mit seiner voreiligen Flucht eine große Dummheit begangen habe. Zur Reue war’s aber jetzt zu spät: vorwärts, vorwärts mußte er ohne Besinnen. In der wahnwitzigen Erregung blieb ihm nur ein klarer Gedanke: er mußte so weit den festen Strand zu seiner Flucht behalten, bis er seine Schaluppe „dwars“ hatte, so daß er, sich rechts wendend, in gerader Richtung durchs Watt das Schiff treffen konnte.

Mit Hussah und Halloh ging nun die fürchterliche Menschenjagd los. Wie ein gehetztes Wild, keuchend, zitternd am ganzen Leibe, doch das errungene Gut krampfhaft festhaltend, flog der junge Fischer in wildester Eile vor seinen Verfolgern her. Hinter ihm drein stürmten die französischen Schergen, die ihre Pferde zu immer rasenderem Laufe anspornten und das Feuer ihrer Gewehre auf den Flüchtling richteten, so oft ein die Nacht durchbrechender Blitz die fliehende Gestalt für einen Augenblick deutlicher erkennen ließ. Lars’ Kräfte, die ohnedies durch den Blutverlust aus einer Schulterwunde gesunken waren, ließen plötzlich nach, er strauchelte, fiel, raffte sich wieder auf, in wenigen Sekunden konnte er von seinen Verfolgern erreicht sein, die ihm ein von Wuth zitterndes Halt zuschrieen, und da – da wagte Lars mit der letzten Kraft der todesmuthigen Verzweiflung einen gewaltigen Sprung ins Watt.

Mit solcher Heftigkeit schlug sein Körper in den nachgiebigen Boden ein, daß er sofort bis an die Kniee versank. Und während er langsam, sehr langsam, Zoll um Zoll, Linie um Linie tiefer in das weiche Erdreich rutschte, überkam ihn das Gefühl vollständiger Rettung, seelischer Ruhe. Er war dem Feinde entkommen, er hörte, nur durch wenige Fuß breit Erde von ihnen getrennt, wie sie unter gotteslästerlichen Flüchen nach ihm suchten, ohne ihn finden zu können, wie sie endlich mit wildem Schwadronieren sich zankten, weil jeder eine andere Meinung über den Verbleib des Flüchtlings hatte, und wie sie endlich sich trennten, um einzeln den Strand und Deich abzusuchen. Lars gab sich dem süßesten Ermatten hin, das seine abgehetzten Glieder gefangen hielt. Er ließ den Kopf auf die Brust sinken, und mehr und mehr zog ihn die Erde oder vielmehr das Meer in sich hinein, ohne daß er in der Erschöpfung den geringsten Widerstand zu leisten vermochte. „Wenn nun meine Gesche mit mir wäre, dann wäre das hier Seligkeit,“ war der letzte Gedanke des Sinkenden, und dann folgte eine Pause völliger Lichtlosigkeit, tiefsten Schweigens.

Aus seiner Betäubung wurde Lars durch einen verspäteten grellen Blitz, der von krachendem Donner begleitet war, geweckt. Er öffnete eine Sekunde lang die schweren Augenlider und sah in dem bläulichen Schein des Himmelsstrahls in nicht zu großer Entfernung auf dem schwarzen Wattboden eine riesige Gestalt kauern, eine Gestalt, die er nicht mehr in ihren Formen zu deuten wußte: breit, lang, mit einem Baum in der Mitte. „Der muß auch sinken!“ dachte er, indem er müde lächelte. In diesem Augenblicke flammte an der Spitze des vermeintlichen Baumes ein helles Licht auf, das seinen Schein rings auf die schlammige Wüste warf und in Lars’ zum Tode verzweifelter Seele den letzten Funken von Thatkraft weckte. Das war ja sein Schiff, und das Licht [739] mußte eine Terpentinflamme sein, welche die braven Kameraden angezündet hatten, um ihm den Weg zum Schiffe zu erleichtern.

Mit dieser Erkenntniß kam Lars auch zum vollen Bewußtsein seiner entsetzlichen Lage. Bis über die Hüften steckte er bereits in dem schlammigen Grabe, nur eine Viertelstunde brauchte noch zu vergehen, und er war vollends versunken, verschwunden von der Erde. So nahe am Ziel hatte er sich von den Armen des Todes umstricken lassen, ohne sich dagegen zu wehren!

Seine stumpfe Ergebung wich im Nu der neu erwachten Lebenskraft. Zunächst stieß er einen gellenden, weithin dringenden Ruf aus, der die Kameraden aufmerksam machen mußte, daß er ihr flammendes Zeichen gesehen habe. Der Ruf wurde vom Schiffe aus erwidert, und nun setzte der Versunkene alles dran, um sich aus der todbringenden Umarmung des Schlammes zu befreien. Mit den Zähnen das Postbündel haltend, arbeitete er mit Macht, bis ihn schier wieder die Besinnung zu verlassen drohte. Aber das flammende Licht da vor ihm auf der Mastspitze, das in regelmäßigen Pausen sich wiederholende Rufen, und vor allem das dumpfe Brausen der von fern wieder herandrängenden Fluth gaben ihm Muth und Ausdauer, das Unerhörte zu vollbringen. Er erkannte, daß die Last des Bündels seinen Körper nur unnütz beschwere und durch den vermehrten Druck ihn rascher in das schauerliche Grab befördere; er legte daher den Postsack vor sich hin und benutzte ihn als breiten festen Stützpunkt für die noch freien Arme. Langsam, sehr langsam arbeitete er so seinen Unterkörper aus dem zäh sich anhängenden Grunde los. Oft wollte er verzweifelnd nachlassen, um nur einen Augenblick zu ruhen. Aber sofort fühlte er sich wieder einsinken und von neuem rang er, sich der schweren Erde zu entwinden. Endlich, endlich! Noch ein letzter Ruck, und er stand wirklich auf seinen Füßen. Zwar schienen ihm seine Glieder in Blei verwandelt zu sein, aber dennoch wankte er mit seinem kostbaren Postsack mühsam dem rettenden Licht entgegen.

Zehn Schritte noch von der Schaluppe entfernt, stieß der zum Tod Ermattete einen schwachen Schrei aus und sank abermals nieder. Jetzt aber waren die Retter nahe: Bleik Stummen schwang sich über Bord in das höher und höher gurgelnde Wasser und half dem Erschöpften durch die steigende Fluth auf die sicheren Planken.

Ueber den grausigen Anblick, den Lars mit seinem todbleichen, von zerzaustem Haar umgebenen Gesicht, mit seinem ganzen blut- und schlammbedeckten Körper bot, verloren Frank Kunert und Bleik Stummen kein Wort; sie gaben Lars einen tüchtigen Schluck Branntwein und schoben ihm das mit so vielen Gefahren errungene Postbündel unter den Kopf, worauf er trotz steigender Fluth und trotz Wettersturm sofort einschlief, um nicht eher wieder zu erwachen, als bis der Strand von Helgoland unter dem Kiel der Schaluppe knirschte.

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Wenige Stunden danach stand Lars in einem frischen sauberen Schifferanzug abermals vor dem Bette des alten Helgoländer Lotsen. Haar und Bart hatte er glatt gebürstet, aber sein Gesicht war noch bleich und ernst und die Schulter trug unter der Wolljacke einen regelrechten Verband.

„Ik bin to Stäe,“ sagte Lars einfach und mit ruhigem Stolze, „dat Postgood is gau an Bord.“

Der Alte guckte mit seinen scharfen Augen den Sprecher an – Lars merkte nicht, daß in dem alten Gesicht der Humor zuckte – und antwortete: „Ik heff hürt! Na? un de Lohn?“

Diese Frage kam Lars so unerwartet, daß er bestürzt schwieg. Knud Froden, der alte Schelm, hatte längst durch freundlich geschäftige Zungen die wunderbare Mär von der Postfahrt vernommen, und Gesches seltsames Benehmen, bald Weinen, bald Lachen, hatte ihm das Uebrige gesagt. Dennoch konnte er es nicht unterlassen, den braven, muthigen Jungen, den Lars, ein wenig zappeln zu lassen. Er weidete sich an der Verlegenheit des Burschen und fuhr ihn endlich fast grob an: „’ne Slup dör de Bräkers bringen[14], wat is mi dat? aberst ’n lütt leiw Famel[15] ’winnen, dor fehlt em Kurasche, he? watt?“

Da war auch schon die lachende und weinende Gesche aus ihrem Winkel hervorgekommen und hing an Lars’ Halse. Der küßte sie und flüsterte: „Min lütt, säut’ Deern, wo kann’t denn sien? Dat Glück is to grot, ja to grot.“


  1. Dichtwesen = Dichtsein, Zusammenhalten der Geisteskräfte, Besonnenheit.
  2. Tollheit = Kühnheit, Muth.
  3. von Dage = heute.
  4. Insel Neuwerk.
  5. Stur = unregsam, schwerfällig.
  6. Umsponnene Glasflaschen mit Branntwein.
  7. Die nöthigsten Lebensmittel.
  8. Allzeit Männerhand oben, d. h. jederzeit braucht eure Kräfte.
  9. „Falm“ heißt die Straße am östlichen Rande des Oberlandes, von wo man einen Ueberblick über das Unterland und die im Hafen liegenden Schiffe hat.
  10. Eine englische Kabellänge = 231 Meter.
  11. außerordentlich bös.
  12. Kniffe, böse Tücken
  13. „Blüse“ wird der mächtige Thurm auf Neuwerk genannt, der als Leuchtthurm und zugleich als Rathhaus, Gefängniß, Herberge und Vorrathsmagazin diente und noch dient. Kurze Zeit nach dem hier Erzählten wollten die Franzosen das alte Steinbauwerk in die Luft sprengen; ob mit oder ohne den darin eingesperrten Gefangenen, konnte nicht ermittelt werden. Die Sprengung gelang indeß nicht völlig.
  14. Eine Schaluppe durch die Becher (Wellen) bringen.
  15. Mädchen.