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Eine Erscheinung (Die Gartenlaube 1889)

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Textdaten
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Autor: Fanny Lewald
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Titel: Eine Erscheinung
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aus: Die Gartenlaube, Heft 49–52, S. 821–827, 837–842, 857–863, 878–882
Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1889
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[821]

Eine Erscheinung.

Hinterlassene Erzählung von Fanny Lewald.

Die nachfolgende Erzählung, die letzte der berühmten Verfasserin, an welcher sie bis zu ihrem Tode arbeitete, ist nach demselben auf Grund ihrer eigenen schriftlichen und mündlichen Angaben von berufener Feder vollendet worden. Die „Gartenlaube“ hat das interessante Manuskript von den Hinterbliebenen erworben und freut sich, es nunmehr ihren Lesern darbieten zu können.

1.

Ich nenne nicht die Zeit und bezeichne nicht den Ort, an welchem diese Erscheinung vor mir aufgetaucht ist.

Ich war auf der Reise, hatte den ganzen Tag auf der Bahn zugebracht und war dicht an dem Ziele, an welchem wir einen Aufenthalt von mehreren Tagen zu machen beabsichtigten, als der Zug plötzlich anhielt, weil ein anderer Zug, der den unsern an dieser Stelle zu kreuzen hatte, noch nicht eingetroffen war. Aus meinem müden Hinträumen aufgeweckt, blickte ich zum Wagenfenster hinaus und sah gleichgültig nach dem Wärterhäuschen hinüber. Es unterschied sich in nichts von allen anderen, an denen wir vorübergekommen waren. Ein Paar Gartenbeete mit Gemüsen bestellt, ein paar Georginen und Stockrosen zur Rechten und zur Linken. Selbst daß neben einem Hügel, der sich wie ein Grab ansah, ein Kruzifix aufgerichtet war, hatte nichts Ungewöhnliches. Wir waren in katholischem Lande. Christusbilder und Kapellen fanden sich oftmals, wo man sie am wenigsten erwartete.

Ohne daran zu denken, sah ich nach dem Wärter hinüber. Er stand, die Signalfahne regelrecht an der Schulter, fest auf seinem Posten – und wie mit einem Zauber steigt eine ferne, ferne Vergangenheit vor mir empor. Ein Name, ein Ruf drängen sich mir auf die Lippen. Aber er war ja todt! – Und dennoch!

So erschreckend, so hell wie dieses Mannes Augen hätten eines Fremden Augen nicht aufgeleuchtet, als die meinen ihm begegneten. Obschon er sich mit seiner Signalfahne unbeweglich in seinen Schranken hielt, konnte ich erkennen, daß er mich bemerkt, daß meine Ueberraschung ihm nicht entgangen war, daß er den Blick geflissentlich von dem Wagen abgewendet. –

Indeß, der Telegraph läutete, die Lokomotiven ließen ihre Zeichen erschallen, der vom Süden kommende Kurierzug sauste an uns vorüber, die Bahn wurde dadurch frei, und die Wärterbude und der Wärter waren unserem Blick entschwunden.

„Unbegreiflich!“ rief ich aus.

„Was hast Du?“ fragte meine Gefährtin.

„Ich habe einen Todten lebendig vor mir gesehen! Einen, der gestorben ist vor sieben, acht Jahren!“

„Also eine Aehnlichkeit – mit wem?“ fragte sie weiter.

„Nein! keine bloße Aehnlichkeit! So können zwei Menschen nicht einander gleich sein! Ich habe ihn gekannt in seiner frühen Jugend, ihn danach wiedergesehen in der Kraft und Schönheit, im Glück seiner Mannesjahre –“

[822] „Aber von wem sprichst Du denn?“

„Von dem Bahnwärter, an dem wir eben vorüber gekommen sind!“

„Und den willst Du gekannt haben?“ fragte meine Begleiterin lachend. „Welch ein Einfall! Gespenster am hellen Tage! an der Eisenbahn!“

In dem Augenblicke hielt unser Zug aufs neue. Wir waren am Ziele. Die Thüren des Wagens wurden geöffnet, die Packträger drängten sich heran. Der Kondukteur des Omnibus, der von dem Gasthof kam, in welchem ich mir eine schon zum öfteren benutzte Wohnung bestellt, nahte sich grüßend, uns das Handgepäck abzunehmen. Wir wurden in den Omnibus geladen, Fremde zur Rechten, Fremde zur Linken. Die Straßen, die Plätze blieben hinter uns zurück, Altbekanntes, Neuentstandenes glitt an uns vorüber im hellen Licht der sinkenden Sonne.

Wir hielten vor unserem Gasthof. Der Wirth, seine kleine rührige Frau, der bekannte Thürwart kamen uns mit freundlicher Achtsamkeit entgegen. Wir durchmaßen die kleine Hausflur, die Galerien, stiegen die Treppe hinan, fanden uns in den früher bewohnten Räumen mit Behagen wieder. Eine kurze Rast, ein Ausblick von dem Balkon auf den Fluß, ein leichter Imbiß, und meine Gefährtin zog sich in das für sie bestellte Zimmer zurück. Die Hausknechte brachten den Koffer herauf, mein Kammermädchen begann sie aufzuschnallen und das Nothwendige auszupacken, um in den Räumen, die uns für einige Tage aufnehmen sollten, etwas wie eine Heimath herzurichten, so gut sich das eben in der Fremde machen läßt.

Ich aber saß am Fenster und schaute in den Abend hinaus. Ich wurde den Gedanken an ihn nicht los. Es konnte kein anderer gewesen sein als er. Es ließ mir keine Ruhe.

Man hatte ihn in Schweigen begraben seit den Ereignissen, die ihn in das Gefängniß gebracht, ihn ausgestoßen aus seiner Familie und aus der Gesellschaft, in welcher er gelebt. Ich entsann mich, wie er sich dann später unter der Zahl jener Gefangenen befunden, welche 1867 oder 1868 bei einer Vermählung in dem Herrscherhause begnadigt worden waren, und wie man damals erzählte, daß er während seiner Gefangenschaft sich dem Glauben, der Frömmigkeit zugewendet, und daß er in ein Kloster einzutreten denke. Unmöglich war mir das damals nicht erschienen.

Einer katholischen Familie angehörend, war er in seiner Jugend für die Kirche bestimmt gewesen, und eben das hatte in ihm einen Widerstand gegen dieselbe und jenes Verlangen nach völliger Unabhängigkeit, nach freier Willkür hervorgerufen, das ihn zuletzt ins Verderben gestürzt. Phantastisch war er immer gewesen. Es war also nicht mit Bestimmtheit vorauszusagen, was er thun und nicht thun werde, nichts hatte undenkbar für ihn scheinen können. Geschrieben hatte er nach seiner Freilassung an keinen seiner Verwandten, und wie die Verhältnisse lagen, war das natürlich gewesen. Auch keiner seiner früheren Umgangsgenossen hatte etwas von ihm gehört, bis wir alle plötzlich durch die Nachricht aufgeschreckt wurden, daß er, vermuthlich verzweifelnd an sich selber, bei dem Uebergang über den Mont Cenis seinem Leben ein Ende gemacht haben müsse. An einem der steilsten Abhänge der alten Gebirgsstraße hatte man seine Kleider, in denen sich sein Paß und eine geringe Summe Geldes befunden, mit einem Strick zusammengeschnürt, nach dem Schmelzen eines starken Schneefalls an dem Abhange liegen sehen. Mit dem Schnee war natürlich auch die Spur seiner Tritte verwischt, und der Weg nicht zu erkennen gewesen, auf dem er seinem Ende entgegen gegangen war. Seine Leiche hatte man nicht aufgefunden, obschon die Familie auf die Kunde hin mit den ihr zu Gebote stehenden Mitteln die möglichen Nachforschungen nach derselben veranstaltet. Der Gedanke, daß ein Verbrechen an ihm begangen worden, war ausgeschlossen, weil eben die Uhr, die er getragen, und die kleine Summe Geldes, die er mit sich geführt, in den Kleidern gesteckt hatten.

Aller dieser Einzelheiten entsann ich mich genau. Ich wußte, daß mich in diesem Falle mein Gedächtniß nicht betrog, und ich konnte mich trotzdem nicht überzeugen, daß mein Auge sich in solcher Weise getäuscht haben sollte.

Ich träumte von ihm in der Nacht, ich war am Morgen versucht, mich bei dem Wirthe oder bei der Bahnverwaltung nach dem Wärter zu erkundigen, neben dessen Häuschen sich das Kruzifix befand. Indeß meine Ueberlegung hielt mich davon zurück.

Lebte er noch, hatte er sich in solcher Weise verborgen, wie durfte ich die Achtsamkeit auf ihn zu lenken wagen? Hatte er doch den Blick sofort von mir abgewendet, als er gesehen, daß mein Auge sich auf ihn heftete.

Es war und blieb mir ein Räthsel, gerade darum aber beschäftigte das Ereigniß meine Gedanken; und obschon die folgenden Tage mich durch das Wiedersehen von Freunden mannigfach in Anspruch nahmen, blieb mein Sinnen doch bei ihm. Selbst als wir die Gegend verlassen hatten, als andere lebhafte Eindrücke und der Lauf der Zeit sich zwischen jenen Tag und mich gelegt, konnte ich der Begegnung, der Erscheinung nicht vergessen, und noch lange nachher kam ich oft mit der Frage auf sie zurück: war es eine Täuschung, war es Wirklichkeit gewesen?


2.

Darüber waren Jahre hingegangen, und ich saß im Hochsommer von 1881 in Sorrent, auf meinem nach dem Meere gelegenen Balkon in dem schönen Hotel Tramontano, als mir der Postbote ein Päckchen brachte, das mit meiner vollen Namensaufschrift versehen, offenbar aber auf weiten Umwegen zu mir gelangt war. Als Absender war die Direktion der … Eisenbahn angegeben. Das kleine Packet hatte mich zuerst in Berlin gesucht und war mir von der dortigen Post nach meinem ihr bekannten Aufenthalte nachgesendet worden. Es war unfrankirt.

Verwundert nahm ich es dem Postboten ab, und als ich den ersten Poststempel erkannte, zuckte eine Ahnung in mir auf. Jene geheimnißvolle Erscheinung stand plötzlich wieder vor mir. Ich öffnete mit rascher Hand den äußern Umschlag. Ein Brief von dem Stationschef der … Bahn lag oben auf. Nach ein paar Worten, die es andeuteten, daß mein Name ihm bekannt sei, lautete das Schreiben kurz und geschäftsmäßig also:

„Am 13. Mai dieses Jahres ist in dem Krankenhause zu … der Bahnwächter Johann Stiller an einem Brustfieber gestorben. Nach den Angaben, die er im Jahre 1869 der Direktion bei seinem Eintritt in ihren Dienst gemacht, war er im preußischen Ermeland geboren und zur Zeit seines Dienstantrittes bei unserer Bahn vierunddreißig Jahre gewesen, so daß er ein Alter von sechsundvierzig Jahren erreicht hat. Unter seinem geringen Besitz, der dem Krankenhause zugefallen ist, hat sich das beikommende Packet mit Ihrer Adresse vorgefunden. Es war unseres Amtes, den Inhalt vor Absendung zu untersuchen, obschon die Aufschrift ihn als „Schriftstück ohne Werth“ bezeichnete. Wir haben diese Angabe als eine richtige befunden, und so gehen denn die Papiere mit der amtlichen Versicherung an Sie ab, daß man von dem Inhalt derselben keine weitere Kenntniß genommen hat. Wir waren schon früher zu der Ueberzeugung gelangt, daß sich hinter dem Bahnwächter Stiller ein Mann der höheren Stände verbarg; da aber keine Requisitionen irgend welcher Art gegen ihn vorlagen und er seines Amtes gewissenhaft waltete, haben wir ihn gewähren lassen, und haben jetzt nur zu wünschen, daß diese Zusendung, die zu veranlassen uns oblag, Ihnen keine ungelegene sei.“


Also doch! – Ich hatte mich damals nicht getäuscht, ich hatte ihn wiedergesehen und auch er hatte mich erkannt!

Nun ich die Gewißheit seines Todes hatte, fand ich es erst recht unbegreiflich, daß er „damals“ noch gelebt, daß er nicht umgekommen war, sich nicht das Leben genommen hatte, wie man geglaubt.

Ich hielt die Blätter in der Hand und sah die Schriftzeichen an, als wären es für mich unlesbare Hieroglyphen. Meine Erschütterung war so groß, daß sie die Neugier nicht aufkommen ließ. Was kam es auch jetzt noch darauf an? Es war ja doch zu Ende! Er war todt! der lebensfroheste, der selbstwilligste Mensch, den ich gekannt, als den ich ihn oft genug gegen ihn selbst bezeichnet. Aber wie war er dazu gekommen, einen moralischen Selbstmord an sich zu begehen, der für ihn härter gewesen sein mußte, als der Untergang, an den er uns alle hatte glauben machen, die wir ihn gekannt? Wie hatte eben er sich zu einem Dasein verdammen mögen, das so weit ablag von den Bereichen, aus denen er stammte, das unermeßlich hart für ihn gewesen sein mußte, wenn er sich auf sich selbst, auf seine Vergangenheit besann?

Gesund, schön, in den Jahren der vollen Kraft, war er aus dem Gefängniß entlassen worden, alle fernen Welttheile hatten [823] ihm offen gestanden; in allen würde er Aussichten auf ein Fortkommen gehabt haben. Ich konnte ihn mir unter den Goldgräbern in Kalifornien, unter den Viehzüchtern in Australien, in einem vornehmen Abenteurerleben, auch in den Räumen eines Klosters konnte ich mir Erwin denken, und hatte mich Jahre lang gewöhnt, an seinen Selbstmord zu glauben, denn das alles wäre bei seinem Charakter wahrscheinlich gewesen. Aber so lange Jahre der völligen Abgeschiedenheit mitten in dem an ihm vorüberbrausenden Treiben des Lebens? – Ich konnte es nicht verstehen.

Das Herz war mir zusammengeschnürt. Das völlig Unbegreifliche hat eine lähmende Kraft. Mir bangte vor dem, was ich zu hören bekommen konnte, und doch zog das tiefste Mitleid mich zu dem Hingegangenen. Ich fragte mich, womit ich, gerade ich, sein Vertrauen verdient? Ich sagte mir, er könne doch vielleicht noch einen Wunsch gehegt, eine Pflicht zu erfüllen gehabt haben, für die er mich eintreten zu machen beabsichtigt. Es galt, einem letzten Willen nachzukommen. Er hatte bestimmt, daß ich seine Aufzeichnungen lese – und ich faltete die Blätter auseinander.

Es war ein starkes Heft aus grobem Papier, mit fester Handschrift beschrieben. Auf dem Titelblatt standen die Horazischen Worte:

„Der ich der Meinen vergaß, sie mögen mich wieder vergessen!“

Die erste Seite trug das Datum des sechzehnten August. Sie war also acht Tage nach jenem Abend geschrieben worden, an welchem ich ihn wiedergesehen hatte, und sie hub mit der Wiederholung jenes Horazischen Ausspruches an. Es folgte dann eine ganze Reihe offenbar wie im Selbstgespräch zu verschiedenen Zeiten auf das Papier geworfener Betrachtungen, die kein Datum zeigten, und ihnen schloß sich endlich eine ruhig dahinfließende Erzählung an, die Lebensgeschichte des Hingegangenen.

Man sah, wie die Verschlossenheit, das Sichselbstvergessenwollen, zu dem er sich verdammt, ihm doch endlich unertragbar geworden war; wie er mit sich gerungen, wie das Bedürfniß der menschlichen Natur, sich kund zu geben, schließlich in ihm den Sieg davon getragen, und wie er, ohne ihn auszusprechen, eben durch die Sendung seiner Aufzeichnungen an mich, den Wunsch verrathen, nicht völlig vergessen zu werden, sondern Auskunft zu geben über sich, sein Leben, sein Leiden, seine Buße.

So meine ich denn in seinem Sinne zu handeln, wenn ich den Inhalt des Heftes der Oeffentlichkeit übergebe. Die Personen, mit denen er gelitten, an denen er sich versündigt, und um die er gebüßt, sind vor ihm aus der Weit gegangen. Sein Andenken, sein Geschick, seine Gefangenschaft und sein Verschwinden, sind aber vielleicht doch noch in dem Gedächtniß von einzelnen lebendig, und wie er sich in dem unabweislichen Bedürfniß seines Herzens meinem Urtheil bloßgestellt, gebe ich ihn dem allgemeinen Urtheil preis. Es wird nicht härter sein, als er es sich gesprochen. Auch seinen Namen halte ich nicht mehr zurück, da er selbst ihn und die Menschen nennt, von denen er stammt, in deren Mitte er gelebt, im Zusammenhang mit welchen sich sein Geschick vollzogen!


3.
Wärterhaus Nr. 7 – Station … den 16. August 1877.
„Der ich der Meinen vergaß, sie mögen mich wieder vergessen!“

Wie oft habe ich mir die Worte vorgesprochen, wie ernst es gemeint mit ihrem Sinne! Vergessen wollt’ ich sein von allen! meine Vergangenheit wollte ich vergessen! mich selber vergessen! – Wie wenig kennt sich der Mensch! wie wenig weiß er, was er im nächsten Augenblick empfinden, denken, wollen wird!

Das beharrliche Wollen langer Jahre umgestoßen, gewandelt in sein Gegentheil! Und wodurch? – durch einen Zufall! – durch den Anblick einer Frau, die mich mit raschem Blick erkannt, die, älter als ich, einst theil an mir genommen, die von mir gewußt, mir Wohlwollen bezeigt in den Tagen, in denen ich noch geglaubt, die Welt sei dazu da, damit der Mensch glücklich in ihr werde nach seinem Glücksbegriff, den er sich gebildet nach dem Irrthum der Verblendung, der Selbstüberschätzung, die er ererbt hat von Verblendeten wie er selber.


Sonderbar! wie die Feder sich mir versagt! Meine eigene Handschrift sieht mich fremd an, nun ich etwas anderes schreibe, als die paar Zahlen und Worte, welche seit Jahren der Dienst mir auferlegt. Ich bin mir ein Fremder mit der Feder in der Hand, ein Fremder in der Gemüthsverfassung, in der ich mich befinde.

Und ich spreche von Zufall! – Zufall! Zufall soll es sein, daß der Wagen eben vor meinem Wärterhause hielt, daß sie nach meiner Seite saß, daß ihr Auge sich auf mich richtete, daß das meine sie traf! – Es ist Gottverleugnung, von Zufall zu sprechen! Er hat es so gewollt! Ich soll sie noch einmal in mir durchleben, die langen Jahre meiner ungläubigen Selbstüberhebung. Ueberwältigend, mich bezwingend steigt es noch einmal vor mir auf, das wilde, verzweifelnde Ringen meiner jungen Jahre! des Lebens, das wir hochmüthig als das „Leben in der Welt“ bezeichnen, als ob die Spinne hier vor meinem Fenster ihr Leben nicht ebenso lebte in derselben Welt!


Wie eine Fata Morgana steigen sie vor mir auf, die Gefilde, in denen ich meine Jugend verlebt: die kornbesäete Ebene, über die wir hinwegsahen bis zu dem glänzenden Spiegel des Frischen Haffes, und die Kiefern- und Tannenwälder, die von der anderen Seite sich in dem Flachlande hinzogen, daß sie anzusehen waren wie eine lange grüne Wand, über der nur hier und da sich eine kleine Aufwellung bemerkbar machte.

Mein Großvater hatte das Haus gebaut, und da er, am Sankt Hubertustage geboren, den Namen eines Schutzpatrones trug, hatte er dem Hause, das füglich ein Schloß zu nennen war, auch die Form eines lateinischen H gegeben, das, breit hingelagert, mit seinem Hauptbau von zwei gleichförmigen Seitenflügeln eingefaßt war.

Wir waren kein altadliges Geschlecht, sondern ursprünglich Hörige, Unterthanen der Bischöfe gewesen; aber wir zählten zu meiner Zeit, d. h. als ich geboren wurde, schon lange unter die alten Geschlechter des Landes, die von sich und ihrem Herkommen wußten. Bereits zu den polnischen Zeiten und lange vor diesen hatten Leute unseres Namens in Braunsberg, Frauenburg und Heiligenbeil gelebt und waren dort immer zu Diensten in den jeweiligen Residenzen der Bischöfe, in den Schlössern, den Schloßgärten, in den Forsten verwendet worden. Allmählich waren sie dabei emporgekommen. Einige waren freigelassen und Bürger geworden. Sie hatten schon in der Mitte des vorigen Jahrhunderts Domänen der Bischöfe zur Zufriedenheit verwaltet, Vertrauensämter im Lande eingenommen. Einer und der andere hatte erst ein kleines Stück Land, dann größeren Grundbesitz erworben, dann fürstlichem Dienst entsagt und seine Söhne studieren lassen. Ein paar der unsern waren dann wieder als Richter in den Staatsdienst, ein paar andere in den geistlichen Stand getreten. Es war dem Geschlechte nichts Uebles, es war der Mehrzahl seiner Glieder Gutes, Ehrenhaftes nachzusagen; und sich zu uns zu rechnen, zu den Klaritz zu gehören, sahen die Leute als einen Vorzug an.

Das war so fortgegangen von einem Geschlecht zu dem andern. Mein Großvater schon war nach den Kriegsjahren für mannigfache gute Dienste, die er dem königlichen Hause in der Franzosenzeit geleistet, während der Hof in Ostpreußen gelebt, in den Adelsstand erhoben worden, und als um 1829 mein Vater von seinem Vater als einziger Erbe Groß-Stegow übernahm, war er damit ein reicher Mann geworden, denn Stegow galt für eine der stattlichsten und bestabgerundeten Besitzungen in jener Gegend.

Wie der Sinn der Zeit es mit sich brachte, war mein Vater nach England gegangen, um dort die verbesserte Landwirthschaft kennen zu lernen, hatte sich dabei auch weiter in der Welt umgesehen und war just wieder nach Hause zurückgekehrt, als um 1831 die polnische Revolution ausgebrochen, niedergeworfen war und nach dem Siege der Russen das flüchtige Gielgudsche Corps und überhaupt eine große Anzahl von flüchtenden polnischen Offizieren über die preußische Grenze gekommen, denen, soweit sie es zu ermöglichen vermocht, ihre Familien nachgefolgt waren.

In den Städten, auf den Gütern, überall fand man polnische Flüchtlinge, und trotz der engen Verbindung der russischen und preußischen Regierung leistete man den Geflüchteten Vorschub, denn man hatte die Tyrannei stets gekannt und beklagt, unter der die Polen zu leiden gehabt hatten. Sie wurden fast überall mit warmer Sympathie empfangen, wurden als Gäste, nicht als Einquartierung aufgenommen, und sie wußten durch ihr Betragen noch lebhaftere Theilnahme für sich zu gewinnen.

Auch mein Vater hatte einen polnischen Militär, den Major von Drischewski, bei sich aufgenommen. Er war einer der Helden des vierten, bei Ostrolenka fast ganz aufgeriebenen Regimentes gewesen, und ein Schuß, der ihm die Lunge gestreift, hatte gleich [826] von Anfang nicht auf eine lange Erhaltung seines Lebens hoffen lassen. – Mein Vater hat ihn uns immer als eine hohe heldenhafte Gestalt, als einen edeln, großherzigen Mann geschildert, und schön und edel war auch seine Tochter, die erst zu ihm gelangen konnte, als er seinem Ende schon nahe war. Nur einige Wochen hatte sie den Hinsterbenden noch in meines Vaters Haus gepflegt, das sie nach dem Tode desselben natürlich wieder verlassen.

Aber diese Zeit hatte hingereicht, die Herzen meines Vaters und des Fräuleins in Liebe zu verbinden, und nachdem das Trauerjahr beendet, war er der schönen Lodoiska nach Dresden gefolgt, wo sie sich bei einer ihrer dort lebenden Tanten, der Gräfin Meilow, aufhielt, und bald nach meines Vaters Werbung war seine Erwählte als seine Gattin in Groß-Stegow eingezogen, von den Gutsleuten, welche sie während ihres Waltens an des Vaters Krankenbett im Schlosse verehren lernten, mit Freuden begrüßt und von dem Fürst-Bischof mit Auszeichnung aufgenommen, dem die treffliche, strenggläubige Herrin auf einem großen Besitze innerhalb seiner Diözese nur willkommen sein konnte.

Ein Jahr höchsten, ungetrübten Glückes entschwand meinen Eltern. Alles, was man unternahm, schlug auf das Erwünschteste ein. Nie hatte man reichere Ernten als in diesem gesegneten Jahre in die Scheuern gebracht. Ganz unerwartet waren unter den vortheilhaftesten Bedingungen Ankäufe zur Vergrößerung von Stegow möglich geworden, nach denen man früher vergebens getrachtet, so daß man Stegow jetzt füglich eine Herrschaft nennen konnte, und als gegen Ende des Jahres die Niederkunft meiner Mutter bevorstand, waren meine Eltern der festen Zuversicht, der Himmel, der sie seit ihrer Verbindung so durchaus begünstigt, werde ihrem Glück durch die Geburt eines Sohnes die Krone aufsetzen, für den und dessen Nachkommen Sorge zu tragen, mein Vater, der Abkömmling höriger Leute, sich von dem aristokratischen Verlangen ergriffen fühlte, seinen Besitz zu einem Majorat zu machen. Er fand für diesen Gedanken bei seiner Gattin die lebhafteste Zustimmung, und weil auch dieses Vorhaben sich nach den Wünschen des glücklichen Paares geordnet, hatte meine Mutter in vorahnender Freude oftmals den Gedanken ausgesprochen, wenn ihr der erwartete Sohn geboren würde, so solle ihm der Name Fortunat als gute Vorbedeutung mit auf den Lebensweg gegeben werden.

So kam die Zeit meiner Mutter heran, und sie ging ihr getrosten Muthes entgegen, denn selbst ein Unfall, den sie erlitten, während sie schon ihr lebendes Kind unter dem Herzen getragen, war, wie man anzunehmen hatte, ohne Nachtheil für sie vorübergegangen und man hatte auch das unter die Glücksereignisse gezählt. Meine Mutter hatte nämlich zu einer Zeit, in der es gerathen für sie gewesen wäre, nicht mehr zu Pferde zu steigen, im Vertrauen auf ihre Kraft und Gesundheit es sich nicht nehmen lassen, meinen Vater auf einem weiteren Ritte zu begleiten, der ohne irgend welchen Anstoß von statten gegangen war. Aber bei der Ankunft vor dem Schlosse war ein Fremder mit seinem großen Hunde vorübergegangen, der Hund war klaffend an dem Pferde meiner Mutter in die Höhe gesprungen, was Pferd hatte davor in dem Augenblick ihres Absteigens gescheut, sie hatte sich mit dem Reitkleide in der Sattelgabel verwickelt, war zu Boden gefallen, ehe mein Vater sie in seinen Armen auffangen konnte, und so eine kleine Strecke weit geschleift worden. Jedoch hatte sie nichts als eine leichte Beschädigung am Beine dadurch erlitten, die durch ein paar Tage der Ruhe geheilt worden war, und die beiden zu Rathe gezogenen Aerzte hatten keine weitere Befürchtung daran knüpfen zu müssen geglaubt.

Alles war in Ordnung gegangen, aber in der entscheidenden Stunde zeigte es sich, daß man sich in den guten Erwartungen doch getäuscht. Die Geburt war schwer, meine Mutter schwebte dabei zwischen Tod und Leben, und als das Kind endlich den Tag erblickte, war es freilich der ersehnte Knabe und ein kräftiges Kind, aber das eine seiner Beine war verkrümmt, in der Ausbildung zurückgeblieben und beträchtlich kürzer als das andere. Auch das kleine Gesicht hatte durch den unglücklichen Fall gelitten, die Nase war an der Stirn auffallend eingedrückt, kurz der Knabe, von zwei schönen Eltern stammend, war entschieden unschön.

Mein Vater war erschüttert, und man hatte es in dem Augenblicke zu segnen gehabt, daß die Schwäche meiner Mutter den Wärterinnen Zeit ließ, das Kind in Tücher zu hüllen, so daß ihr die Mißgestaltung des Unterkörpers zunächst verborgen bleiben konnte; aber schon der nämliche Abend ließ sie das Unglück erkennen und wehklagend rief sie: „Fortunat! Fortunat! Du hast kein Glück! und ich, ich habe Dein Unglück verschuldet! – Du hattest mich gewarnt! Vergieb mir!“ flehte sie meinen Vater an. „Dein erster Sohn – der Majoratsherr von Stegow – ein Krüppel – ein Jammerkind! Nie wieder werde ich eine frohe Stunde haben, ich, die Unglück gebracht über Dich und unser Kind!“

Man hatte Mühe, sie zu beruhigen, hatte an ihre Erhaltung zu denken. Der Neugeborene hatte das Blut der beiden gesunden Geschlechter in seinen Adern. Meiner Mutter Gesundheit stellte sich wieder her, aber ihr strahlendes Lächeln kehrte nicht wieder in ihr Antlitz zurück und sie wurde von dem Gedanken nicht frei, daß sie die Zerstörerin des Glückes sei, das bis dahin dem Geschlecht der Klaritz so hold gewesen war.

Wer hätte damals ahnen können, wie unendlich schwereres Unglück über dasselbe gebracht werden sollte durch mich, der dies heute niederschreibt, mit dem lastenden Bewußtsein, daß er durch alle Buße nicht genug gethan hat für seine Sünde, sein Verbrechen. – Aber weiter!

Den Knaben Fortunat zu taufen, davon war nun nicht mehr die Rede. Er erhielt den alten Klaritzschen Familiennamen Hubertus, und daß die Mutter ihn selber nährte, daß sie ganz und ausschließlich sich seiner Pflege widmete, war für sie selbstverständlich. Der Fanatismus, der den Polen im Blute steckt, warf sich bei ihr auf die Mutterliebe für den Sohn, dessen Unglück sie sich allerdings zuschreiben konnte, da, wie gesagt, der Vater ihr nachdrücklich und bittend von jenem unseligen Ritte abgerathen hatte.

Sobald man daran denken konnte, wurde mit dem Kinde eine Reise nach Berlin unternommen, um die dortigen Aerzte zu befragen, ob für Huberts Gebrechen Abhilfe zu finden sei. Aber sie wußten keinen Rath, und meine Mutter suchte Trost in dem Gedanken, daß es nun ihre Aufgabe sei, sich ganz ihrem Sohne hinzugeben und sein Leben zu beglücken, soweit es in ihre Macht gegeben sei.

Wie ein Schatten war es herniedergefallen auf das Glück meines Vaters. Die schöne, fröhliche Gemeinsamkeit, in welcher die Eltern bis dahin gelebt, hatte zu leiden unter der Unzertrennlichkeit, mit welcher die Mutter sich an den Knaben band. Sie war eine leidenschaftliche und kecke Reiterin gewesen; jetzt hatte sie es sich als Buße auferlegt, kein Pferd mehr zu besteigen, da für Hubert dies alle Zeit eine Unmöglichkeit bleiben mußte. Von den Besuchen in der Nachbarschaft, die man sonst ebenso häufig gemacht, als man Gäste im Hause gehabt, hielt die junge Frau sich zurück, wenn sie den Knaben nicht mit sich nehmen konnte, oder man eine zu späte Rückkehr mit ihm zu befürchten hatte; und als mein Vater anfing, ihr diese Lebensführung als eine Uebertreibung und eine Beeinträchtigung für ihn und seine Ansprüche zum Vorwurf zu machen, entgegnete sie ihm damit, daß sie ihn mitleidlos für Hubert nannte. Wie dann einmal wieder bei einem solchen Anlaß ein Wort das andere gab, brach die Mutter, gegen ihre Gewohnheit heftig werdend, in den Ausruf aus: „Ich glaube, Du gönnst dem Kinde, mit echt männlicher Selbstsucht, meine Liebe nicht. Du bist eifersüchtig auf den Armen, und würdest ihn, wenn er uns entrissen würde, nicht tief betrauern, weil er nicht der Majoratsherr von Groß-Stegow ist, den Du, den wir erhofft. Aber ist das seine oder meine Schuld?“

Die Bitterkeit in dem Tone seiner Gattin reizte meinen Vater. Es war der erste wirkliche Zwiespalt in ihrem Ehestand, und weiter von seinem Zorne fortgetrieben, als er es beabsichtigte, stieß er die Worte hervor: „Ich bin nicht so egoistisch wie Du, ein unglückliches Kind zum Gegenstande meiner Buße und Selbsterhebung machen und darüber alle andere Liebe aus meinem Herzen bannen zu wollen – und daß ich, in der Stunde seiner Geburt, als ich sah, daß er ein Krüppel bleiben werde, seinen Verlust als einen unersetzlichen beklagt haben würde, das zu leugnen bin ich nicht der Mann.“

Beide waren sie weiter gegangen als sie gewollt, aber eben im Schrecken darüber stieg die alte Liebe hell und mächtig in ihnen auf. Sie lagen einander in den Armen, alles war wieder klar und rein zwischen ihnen. Sie gelobten sich einander förmlich aufs neue an. Die Mutter lernte es, die Ansprüche, die ihr Mann an sie zu machen hatte, mit ihrer Vorsorge für den Sohn zu vereinen, und es ist meine Mutter selbst gewesen, die mir einmal in einer aufgeschlossenen Stunde von diesem einzigen Zwist in ihrer Ehe gesprochen.

[827] Als Hubert fast zwei Jahre alt war, kam ich auf die Welt, und auch ich erwuchs an meiner Mutter, an meiner armen Mutter Brust, die nicht ahnen konnte, wen sie in mir groß zog. Ich war gesund und stark. Der Vater freute sich meiner kräftigen Entwickelung, Hubert hatte auch Wohlgefallen an dem lebendigen Geschöpf, das ihm von der Mutter Schoß die Hände entgegenstreckte und ihm durch sein Haar fuhr, wenn er auf seinem Stelzfuß an ihren Knieen lehnte; aber meine freien, oft ungestümen Bewegungen mahnten die Mutter schmerzlich an das, was ihrem Aeltesten versagt war, und je mehr wir heranwuchsen, um so merklicher ward der Unterschied zwischen uns.

Hubert, der nie einen Widerstand gegen seine Wünsche erfahren, dem man alles mit berechneter Fürsorge entgegen gebracht, was irgendwie begehrenswerth für ihn erscheinen konnte, war in dem beständigen Beisammensein mit der Mutter bei seiner glücklichen geistigen Begabung und seinem guten Herzen ein liebenswürdiger Knabe geworden; indeß, er mußte es doch, als ich erst fest auf meinen Füßen war, und jemehr ich frei wurde in meinem Thun und Lassen, bemerken, daß mir vieles möglich, was ihm versagt war; und gewohnt, seinen Willen als Gesetz für seine Umgebung anzusehen, hatte ich frühe schon Befehle von ihm zu hören, „laufe nicht Erwin!“ – oder „klettere nicht, Erwin! ich kann Dir nicht nach!“

Oftmals ließ ich mir das gefallen, denn seit ich zu denken und zu begreifen gelernt, hatte ich von unserer Mutter die Weisung erhalten, daß ich dem „armen Hubert“, oder dem „guten Hubert“, denn nur so nannte sie ihn mir gegenüber, nachzugeben habe, daß ich mich meiner freien Glieder in seiner Anwesenheit nicht in einer Art bedienen solle, die ihn zu schwer an sein Gebrechen erinnere; und wenn ich auch geneigt war, mich diesen Weisungen zu fügen, so war doch die natürliche Folge davon, daß ich Hubert mied, wenn ich nach gesunder Knaben Art meines Daseins froh werden wollte.

Der Vater selber ermunterte mich dazu. Er hatte für mich und den mir gleichalterigen Sohn unseres Amtmanns ein paar schottländische Ponies kommen lassen, und wir beide, ich und Fritz, hatten es mit sieben Jahren gelernt, den Vater sowohl als den Amtmann zu Pferde zu begleiten, während die Mutter mit Hubert sich des Wagens bediente. So bildete sich mit Naturnothwendigkeit frühzeitig eine Zwiespältigkeit in der Familie aus; denn trotz der vorsorglichen Liebe, die mein Vater seinem Aeltesten und die meine Mutter mir bewies, hatten wir das sichere Gefühl, daß meinem Vater das Herz aufgehe gegenüber seinem gesunden Kinde, und daß die Gesundheit desselben in der Mutter den ewigen Kummer um den Aeltesten und die Gewissensbisse wachrief, mit denen sie sich quälte.

Meinen Bruder aus dem Hause zu thun und ihn einer öffentlichen Schule zu übergeben, in welcher eine Schar von gesunden Kindern nicht die Rücksicht auf ihn nehmen würde, an die man ihn unter den Augen unserer Mutter gewöhnt, davon hatte vor dieser nicht die Rede sein können, da es ohnehin auf den Gütern der vermögenden Familien Brauch war, die Knaben im Hause zu behalten, bis sie für die höheren Klassen der städtischen Lehranstalten reif waren. So hatte man denn aus einer der gerühmtesten katholischen Erziehungsanstalten auf Empfehlung des Fürst-Bischofs zeitig einen Lehrer für uns kommen lassen, dessen Gelehrsamkeit ihn befähigte, die Ausbildung Huberts ganz und gar zu vollenden, wenn man mich nach Königsberg auf das Gymnasium schicken würde, auf dem ich mich für die theologischen Studien vorbereiten sollte.

Doktor Sylvester war, wie es sich von selbst verstand, ein strenggläubiger Katholik und schon dadurch, abgesehen von seiner Bildung und seiner feinen Sitte, ganz nach dem Herzen meiner Mutter gewesen, die sich bei ihrem Gemüthszustande der Religion und der Kirche immer fester und mit wachsender Erbauung hingegeben. Daß er uns in diesem Sinne erzöge, hatte sie dem Doktor als ihr höchstes Verlangen ausgesprochen, und da Hubert, je mehr ihm die Beschränkung klar wurde, die sein Gebrechen ihm auferlegte, desto mehr von der Heiterkeit seiner Kindheit einbüßte, so fand bei ihm unseres Lehrers Deutung, daß der Herr ihm eine besondere Lebensaufgabe gestellt, ihn bestimmt habe, nicht an sich und sein Glück zu denken, sondern für das Wohl der Menschen zu leben, deren Herr auf den Gütern zu werden er dereinst berufen sein würde, eine zeitlang ein ihm schmeichelndes Gehör. Er kam sich in dieser Entsagung besser als andere, und viel besser vor als ich.

Das änderte sich jedoch plötzlich, als es sich eines Tages herausstellte, daß Hubert sitzend die Pistole bei seinem sehr scharfen Auge mit Sicherheit handhaben konnte. Der Gedanke, daß man ihn unberechtigt gehindert habe, sich frei der Körperkräfte zu bedienen, die er doch besaß, erwachte lebhaft in ihm. Er verlangte sie zu bethätigen. Er forderte, daß man ihm beim Fahren die Zügel der Pferde, im Boote ein Ruder in die Hand gab, und es zeigte sich, daß er wohl imstande war, mit gut eingefahrenen Pferden einen Wagen zu lenken, daß er auf dem Flusse, der sich durch unsere Güter hinzog, für eine Weile ein Boot oder das Steuer des Segelschiffes zu führen vermochte, dessen man sich für den Transport innerhalb unseres Besitzes bis zum Haff bediente.

Es kam damit ein neues Leben über ihn. Er entzog sich, soweit es anging, der beständigen Ueberwachung durch die Mutter, der Vater ermunterte ihn in seinen Unternehmungen, weil er sich wohl den Vorwurf machen mochte, der Aengstlichkeit seiner Frau zuviel nachgegeben zu haben, und ich hatte meine Freude daran, als er sich so gleichsam mit mir in Reih und Glied zu stellen begann.

Um seinetwillen wurde ein neuer Schießstand eingerichtet, ein niedriges Gefährt angeschafft, das er ohne Hilfe besteigen konnte, und des Sohnes wachsende Zufriedenheit wirkte auf die Mutter zurück, die nun selber den Fehler einzusehen anfing, den sie in seiner bisherigen Erziehung begangen. Sie strahlte vor Freude, wenn Hubert sie in seinem Wagen fuhr, sie machte Besuche mit ihm in der Nachbarschaft, das frühere gesellige Leben kehrte wieder in unser Haus zurück, und nachdem ich in die Stadt auf das Gymnasium geschickt worden, und dann auch Doktor Sylvester ihn verlassen, lernte Hubert es mehr und mehr, sich als den Sohn des Hauses darzustellen, dessen Freunde und Gäste dem Majoratserben natürlich ihre Beachtung nicht versagten.

Er und ich waren als Kinder stets gute Freunde gewesen, und wir blieben es auch, obschon oder vielleicht gerade weil wir, seit ich auf das Gymnasium geschickt worden war, seltener beisammen waren. Allerdings brachte ich die Ferien im Vaterhause zu, wenn die Eltern nicht gerade in denselben eine der Reisen machten, bei denen Hubert sie regelmäßig begleitete, und sie kamen auch in jedem Winter für einige Zeit nach der Stadt. Aber ich wohnte bei dem Oberlehrer, bei dem ich in Pension war, hatte, nachdem ich die Universität bezogen, meine eigene Wohnung, der Schulbesuch, die Kollegien, meine Arbeiten und der Verkehr mit meinen Genossen nahmen einen großen Theil meiner Zeit in Anspruch, abends wurden das Theater, Konzerte, Gesellschaften besucht, und war man dann einmal allein in dem Gasthof beisammen, in welchem meine Eltern abzusteigen gewohnt waren, so gab es des Erzählens immer soviel, daß man es darüber bis zu einem gewissen Grade übersehen konnte, wie ich und Hubert, der durch seine Reisen und durch die auf ihnen empfangenen Eindrücke mir gegenüber an Selbstgefühl gewonnen und sich mehr und mehr als den Bevorzugten zu empfinden gelernt hatte, auch in anderem Sinne auf verschiedene Wege geriethen, da Hubert fest in seiner Strenggläubigkeit beharrte, während ich von derselben damals mehr und mehr eingebüßt hatte.

Da ich wußte, wie dies die Mutter schmerzen würde, hielt ich es vor ihr und vor den Meinen überhaupt zurück, wie hart der Zweifel mich erfaßt, welchen Kampf ich in mir durchzuringen hatte, wenn ich nach meinen philosophischen und naturwissenschaftlichen Kollegien, die ich im Drange nach Aufklärung besuchte, sie zur Messe zu begleiten hatte, und wo in einer Familie sich solch innerer Zwiespalt entwickelt, ist die Gefahr weiterer Entfremdung vorhanden, besonders für eine Natur, die, wie die meine, auf Offenheit angelegt war.

Daneben konnte ich es mir nicht verbergen, daß Hubert eine gewisse spottende Feindseligkeit gegen mich nur schlecht verbarg, seit ein unglücklicher Zufall ihn einmal das Gespräch zweier mit meiner Mutter befreundeter Frauen anhören ließ, das darauf hinausgelaufen war, wie Groß-Stegow mehr werth sei als ein Paar gerader Beine und ein hübsches Gesicht, und wie ein gutes und dabei gescheites Mädchen doch schwerlich bei einem sonst liebenswerthen Manne an nichts als an seine Unschönheit und sein Gebrechen denken werde, besonders wenn er eine so große Entschädigung dafür zu bieten habe, wie dereinst mein Bruder.

Das gescheite Mädchen, um das es sich dabei handelte, war aber niemand anders gewesen als die reizende Eveline von Langenau, der wir beide, jeder auf seine Weise, huldigten, ohne daß ich vorläufig an Heirathen denken konnte, während für meinen Bruder die Verhältnisse natürlich anders lagen.

[837]
Die Wirkung jener Unterredung, welche Hubert von den beiden Freundinnen seiner Mutter erlauscht hatte, gab sich sofort in einer Weise kund, die sich anfangs niemand zu deuten wußte. Hubert wollte plötzlich die Stadt verlassen, wollte nach Stegow hinaus, und da der Vater sich dem Vorhaben widersetzte, zog er sich in auffallender Weise von jedem Zusammentreffen mit den Langenaus zurück. Er nahm ihre Einladungen nicht an, er verließ das Haus, wenn sie abends zu den Eltern kamen, und als endlich einmal meine Mutter ihn über dies Verhalten in meinem und des Vaters Beisein zur Rede stellte, brach er gegen seine sonst gewohnte Selbstbeherrschung in den Ausruf aus: „Was soll ich in der Gesellschaft? Mein schöner Herr Bruder mit seinen geraden Beinen ist ja da, die gescheite Eveline und ihresgleichen zu unterhalten, die in mir doch nichts sehen, als eine in den Kauf zu nehmende Zugabe zu dem Majorat von Groß-Stegow.“

„Hubert!“ herrschte der Vaters, „was soll das heißen?“

Aber auch ich hatte den Gleichmuth verloren. „Verspotte mich nicht!“ rief ich. „Ich habe Dir nichts gethan. Ich beneide Dich nicht!“

„Still!“ gebot der Vater auch mir, indem er zwischen uns beide trat, denn Hubert hatte sich mir mit dem Ausruf: „Unverschämter!“ so schnell er es vermochte, genaht. Ich wandte ihm den Rücken, um das Zimmer zu verlassen, als meine Mutter ihn mit den flehenden Worten zurückhielt: „Bleib, Erwin! gieb ihm [838] die Hand! gebt Euch die Hände! Ist das die brüderliche Liebe, zu der ich Euch beide herangezogen habe? Die Eintracht, die Ihr vor Augen gehabt in Eurer Eltern Ehe, die Liebe, mit der wir Euch gleichmäßig umfangen nach Eurem Bedürfen? Was –“

„Vor allem, was ist geschehen?“ fragte gebieterisch der Vater. „Die Empfindungen nachher! die Thatsachen voran! – Du hast zu sprechen, Hubert! Was hat Erwin Dir gethan?“

Hubert hielt einen Augenblick inne, dann stieß er ein kaltes „Nichts!“ hervor. „Er hat mir nichts gethan!“ – und setzte dann mit leidenschaftlicher Bewegung hinzu: „Im Gegentheil! er soll mir zu danken haben. Ich mache ihn zum Majoratsherrn von Groß-Stegow! Er kann sie haben, die schöne Eveline! Alle kann er sie haben! – Ich werde mich nie verheirathen!“

„Schweig, Thörichter!“ fuhr der Vater ihn an. „Was hast Du zu bestimmen, was zu wollen, als mir Rede zu stehen, wenn ich’s befehle!“

„Ach!“ klagte die Mutter, „soll er’s denn noch aussprechen müssen? Ihr hört es ja! Er hat Eveline geliebt und sie hat ihn verschmäht!“

„Nein, nein!“ rief Hubert, „nicht das eine, nicht das andere!“ – Er erzählte darauf sein Erlebniß, und da die Mutter ihm die Arme entgegenbreitete, warf er sich an ihre Brust, sein Antlitz an ihrer Schulter verbergend.

Der Vater sah finster darein. Des Sohnes Geschick ging ihm zu Herzen, aber er verrieth es nicht.

„Du willst ein Mann sein!“ sagte er, „und das elende Geschwätz eines niedrig denkenden Weibes wirft Dich derart um, daß Du darüber vergißt, was Du Dir selber schuldig bist und mir und unserem Hause! Was wird sie von Dir sagen, die Langenau, wenn wir, wie Du es zu wünschen scheinst, jetzt plötzlich mit ihr brechen? Was anderes, als was Deine Mutter infolge Deines törichten Gebahrens eben selber vermuthete?“

Er hielt inne und ging offenbar mit sich zu Rathe; und wie es seiner Natur gemäß war, rasch einen festen Entschluß zu fassen, sprach er: „Du mußt endlich mit Dir ins Klare kommen, Hubert, wenn Du Dir die Zukunft nicht trüben, das Leben nicht verbittern willst. Dein Schicksal ist kein gewöhnliches; um so verständiger muß es getragen werden, damit es ein möglichst ehrenvolles und würdiges werde. Für den, der mit Glücksgütern reich ausgestattet ist, wie Du es bist, liegt der Wunsch, sie voll genießen zu können, nahe. Aber die Natur hat Dich nicht begünstigt –“

„Die Natur!“ wehklagte die Mutter.

„Keine Klagen und unnütze Reue!“ fiel der Vater ein, und sich wieder zu Hubert wendend, fuhr er fort: „Du bist unschön und bist lahm, aber Du bist ein gesunder Mann und als solcher hast Du den natürlichen Zug zu den Frauen, deren Wohlgefallen durch Dein Aeußeres zu gewinnen Du keine Aussicht hast. Du mußt das, was Dir fehlt, durch die Bildung Deines Geistes und Herzens zu ersetzen, Du mußt Neigung zu erwecken trachten, indem Du Dich liebreich zeigst. Durch die Schwäche der Mutter, durch meine zu weit gehende Nachsicht für diese hast Du bisher nur Dir und Deinen Neigungen gelebt. Du bist berufen, dereinst das Erbe unseres Hauses zu verwalten – und hast kein Recht, das abzulehnen, wenn ich Dich nicht der Pflicht enthebe. Von dem Tage ab, da wir nach Stegow zurückkehren, trittst Du in meinen persönlichen Dienst und stehst mir bei in der Bewirthschaftung und Verwaltung meiner Güter. Du wirst die Aufsicht über die Schule, wirst die Armenpflege übernehmen. Und wenn es Dir gelingt, wie es mir und unsern Vorfahren gelungen ist, das Zutrauen und die Verehrung der Leute zu gewinnen, wenn Du für andere zu leben gelernt haben wirst, wirst Du nicht mehr daran zweifeln, daß es nicht nur das Aeußere des Mannes ist, das die Liebe der Frauen erwirbt. Du wirst die Erfahrung machen, daß ihr Herz sich leicht demjenigen zuwendet, den sie von Verehrung und Liebe umgeben sehen, wirst erfahren, welches Glück darin liegt, glücklich zu machen!“

Es war eine Stunde feierlicher Erhebung. Nie war mein Herz meinem Vater unterthäniger gewesen. Ich küßte ihm die Hand; Hubert, die Mutter lagen an seiner Brust!

Als er sie aus seinen Armen entließ, drückte er auch mir die Hand und schloß mich an sein Herz. „Habe immer Geduld mit ihm,“ flüsterte er mir zu, indem er mir fest die Hand drückte – und diese Hand!! – –


4.

Es lagen dem Datum nach mehrere Monate zwischen dem Tage, an welchem der einsiedlerische Bahnwärter diese Rückblicke in seine Jugend auf das Papier geworfen, und dem andern, an dem er die folgenden Seiten beschrieben hatte. Immer nur in größeren oder kleineren Zwischenräumen hatte er, von seinen Gedanken und Stimmungen bewegt, die Blätter zur Hand genommen, die ich mit stets wachsender Spannung las.

* * *

Ich habe nichts in mir, so fuhren die Bekenntnisse fort, das ich zur Beschönigung vorbringen könnte. Es ist mir kein Unrecht geschehen. Ich selber habe seit jenem ersten Zusammenstoße mit meinem Bruder kein freies Herz mehr gehabt für ihn. Von wem wir uns das Gute mißgönnt wissen, das unser Glück ist, den können wir nicht lieben. – Der Vater sah das, er beschloß, uns zu trennen; die Gelegenheit dafür war zur Hand.

Ich stand im 21. Jahre und hatte mich für die Garde gemeldet. An Ostern hatte ich mich zu stellen. Der Vater sagte, ich solle schon nach dem Weihnachtsfeste nach Berlin übersiedeln, um dort nicht in eine mir doppelt fremde Welt einzutreten. Ich war damit wohl zufrieden, und es ward gleich damals als selbstverständlich angenommen, daß ich nach beendetem Dienstjahr den Abschluß meiner Universitätsstudien in Berlin – ich hatte mich inzwischen längst der Jurisprudenz zugewendet – machen sollte. Für mich war es unzweifelhaft, daß man während meiner Abwesenheit meinen Bruder veranlassen werde, sich eine Frau zu wählen, oder daß man versuchen werde, ihn zur Heirath mit einer entfernten Anverwandten unserer Mutter zu überreden, an welche diese, wie wir alle wußten, stets mit Vorliebe gedacht und gegen welche der Vater keine Einwendung erhoben hatte.

Mich ließen diese Pläne damals völlig kalt. An den Besitz des Majorates hatte ich nie für mich gedacht. Ich wußte mich durch des Vaters Anordnungen wohl versorgt und von Natur so ausgestattet, daß ich mir zutraute, einen mir zusagenden Lebensweg und eine mir angemessene Stellung durch meine eigene Kraft zu erringen, und während ich meinen Pflichten mit Lust und gutem Willen nachkam, vergnügte ich mich in Berlin mit meinen Alters- und Standesgenossen; aber der Durst nach Erkenntniß, der sich schon früh auf der Universität in mir entwickelte, und die Sehnsucht nach einem höchsten Glück, für das ich kaum das Wort zu finden wußte, schwiegen davor nicht, und dem Geiste folgend, der in jenen Tagen in gewissen Kreisen herrschte, sah ich, zu völligem Unglauben übergegangen, mit dem Stolz des Materialisten auf alle diejenigen herab, die ihre Befriedigung darin finden konnten, sich auf ein geheimnißvolles Unbekanntes, auf ein höchstes Wesen und dessen allmächtiges Walten zu verlassen, das zu begreifen sie nicht imstande waren. Und mit den philosophischen Systemen, an denen ich mich der Reihe nach zu halten, zu stützen, zu erheben trachtete, war es dasselbe. Immer stieß ich auf ihrem Grunde noch auf ein Letztes, das ohne wirklichen Beweis, als wirkende Ursache, als Kraft angenommen werden mußte – immer fand ich mich vor Goethes: „und weiß nun, daß wir nichts wissen können!“ – und doch wollte dies trostlose Nichtswissenkönnen mir das Herz verbrennen.

Ich kam mir in dem Abweisen dessen, woran andere sich getrösteten, wie ein Titan vor und betraf mich dabei mitunter auf einem Verschen, das ich in früher Zeit einmal bei meiner Mutter von einer schönen Frau vernommen hatte. Es lautete:

„Wenn aller Welt Herrlichkeiten
Zusammenblühten in einer Blume der Au!
Und aller Welt Süßigkeiten
Zusammenflössen in einem Tropfen Thau!
Den Tropfen, aus der Blume, in einem Zug –
Den möcht’ ich trinken, dann hätt’ ich genug!“

und es rief in mir mit genußsüchtigem Verlangen: die höchste Liebe der schönsten Frau! sie allein ist das eigentliche Glück! – und ich hatte nur den flüchtigen Rausch der Sinne, hatte in ihm ihre rasche Uebersättigung gekannt.

Mitten in dem Frohsinn der Jugend und meiner Genossen war ich ein an sich selbst Verzweifelnder, als ich unerwartet mitten im Winter die Nachricht erhielt, daß die Eltern sich entschlossen hätten, Casimira von Gliwitzka als Gesellschafterin für die Mutter in das Haus zu nehmen.

[839] Was das zu bedeuten hatte, errieth ich ohne Mühe. Casimira, oder, wie ich sie von jeher hatte nennen hören: Mira, war die verwaiste Tochter einer mit unserer Mutter verwandten polnischen Familie. Wie mein Großvater war Herr von Gliwitzki Militär gewesen und durch die polnische Revolution ebenfalls in das Ausland gestoßen worden. Im Kirchenstaat war er in päpstliche militärische Dienste getreten, hatte später eine Italienerin geheirathet, und er sowohl als seine Frau waren vorzeitig gestorben. Ihr einziges Kind, die kleine Mira, war mittellos zurückgeblieben. Meine Eltern hatten sie in Rom in das Kloster der Nonnen du sacré coeur auf Trinita de’ Monti zur Erziehung gegeben, und uns im Vaterhause war das schöne Kind, dessen Bild auf dem Schreibtisch der Mutter stand, zu einem geläufigen Begriff geworden. Sie mußte nach meiner Berechnung in dem Alter sein, in welchem man sich darüber zu entscheiden hatte, ob man sie in dem Kloster lassen wollte. War das nicht der Fall, so war es Zeit, sie aus demselben zu entfernen, und daß ein Mädchen wie dieses, das alle Eindrücke für das Weltleben und ihre Beurtheilung desselben durch die Vermittelung unserer Mutter zu empfangen hatte, derselben zur Gattin für Hubert geeignet dünken mußte, war mir sehr wahrscheinlich.

Die Sache focht mich indeß zunächst nicht an. Es war gut, wenn sie zu Hause mit der Angelegenheit, um die sich doch schließlich alles gedreht hatte, so lange ich zu denken vermochte, fertig wurden, wie sie konnten, wie es die Eltern am besten zufriedenstellte; und erst als ich gegen das Frühjahr hin von Hubert einen Brief erhielt, der mit den Worten anhub: „Nimm das Blatt mit offenem Herzen auf, es ist ein Glücklicher, Dein glücklicher Bruder, der sich Dir mit neuem Sinnen und neuem Empfinden in die Arme wirft!“ – gewann die damit angekündigte Verlobung von Hubert und Mira für mich eine Bedeutung. Wohl ihm, dachte ich, wenn er sein Ideal gefunden hat, wenn er mit sich zum Abschluß kommt und das Dasein als ein Glück erachten lernt, so lang es währt. Auch beide Eltern zeigten sich der Verlobung froh, und man hatte die Heirath für den längsten Tag des Jahres festgesetzt, um damit wie in einem Symbol dauerndes Glück vom Himmel auf die zu schließende Ehe herabzuwünschen.

Auch Mira hatte ein paar Zeilen in üblicher Weise unter den Brief ihres Bräutigams geschrieben, sich meiner künftigen brüderlichen Freundschaft zu empfehlen. Es war eine so feste, feine Handschrift und eine so schlichte Ausdrucksweise, wie man sie bei einem so jungen Mädchen selten findet.

Der Vater hatte mir geschrieben, daß er, da ich mein Auskultatorexamen bestanden habe, zunächst für einige Zeit meine Rückkehr wünsche, denn ich war nahezu zwei Jahre nicht in Stegow gewesen; und obschon es mich verlangte, die Eltern und die Heimath wiederzusehen, zumal der Mutter Geburtsfest in die nächste Zeit fiel, wußte ich, daß ich mit meiner Weltanschauung sie von mir abstoßen, oder mehr noch als vordem zu einem Scheinleben namentlich vor der Mutter gezwungen sein würde, und vor beidem trug ich Scheu. Aber ich ging – ging mit gutem Willen – ins Verderben!

Die Ostern fielen spät in dem Jahre, und selbst bei uns im Norden knospten die Sträucher schon, als ich am Gründonnerstag auf der Poststation unseren Wagen vorfand und das breite ehrliche Gesicht unseres alten Kutschers mir entgegenlachte, sein treuherziges: „Na, guten Tag auch, junger Herr!“ mir mit bekanntem Klange das Ohr berührte. Ich kannte den Posthalter, er kannte mich. Alle und jeder riefen und nickten mir zu. Selbst der alte schwarze Pudel sprang wedelnd an mir empor – wir flogen mit dem leichten Wagen und den starken Pferden rasch davon. Ich kannte jeden Busch und jeden Baum und jede Hecke, der ganze Zauber der Heimath, der Erinnerung umfing mich. Nun sah ich sie vor mir, die thurmartigen Flügel unseres Schlosses, nun fuhren wir ein in den breiten weiten Hof – und sie traten heraus aus des Schlosses Thor: der Vater, die Mutter, Hubert und Mira, um die er, sich an ihr stützend, seinen Arm geschlungen hatte, und – –

Wie ein Blitzstrahl fuhr es durch mein ganzes Sein! – Das war sie! – das war es, wofür es der Mühe des Lebens lohnte! – Und wie ein niegekanntes Entzücken in mir aufloderte, so loderten der Neid und der Haß in mir auf, gegen Hubert, dem man dies Ideal geopfert, – selbst gegen die Eltern, die es ihm geopfert!

Ich fühlte des Vaters Arm auf meiner Schulter, der Mutter Lippen auf den meinen, des Bruders Hand berührte mich, ich hörte Worte der Liebe, sah Miras Augen mit Neugier auf mich gerichtet – und in mir rief es: fort! fort! noch in dieser Stunde – zurück in die Oede – denn die Welt ist öde und leer, wo sie nicht ist! – Aber sollten sie mich für einen Wahnsinnigen halten?

Jeder pries sie mir. Die Eltern waren ihres Lobes voll, sicher des Glücks ihres Sohnes. Ich empfand Huberts siegesfrohes Lächeln, wenn seine bleichen Lippen ihre Schönheit berührten, wie eine Entheiligung – ich! dem nichts mehr heilig gewesen war in der entgötterten Welt – nichts! als er sich selber, ich mir selber. Mich hatte ich zu behaupten vor den andern! – damit betrog ich mich, um nicht fliehen zu müssen, um bleiben zu dürfen, bleiben zu müssen, als wäre sie nicht da!


Ich darf nicht verweilen bei ihr und bei der Zeit. Wenig Tage vergingen, bis ich gewiß war, daß sie ihn nicht liebte, daß die Mutter sie dazu gestimmt hatte, sich ihm zum Opfer zu bringen, bis ich es sah, wie ihr Blick sich suchend, Rath, Hilfe, Weisung suchend nach mir wendete – bis sie in meinen Armen ihr Geschick beweinte und die glühendste Liebe uns verband.

Wie im Wirbel drehten sich meine Gedanken in meinem Hirne. Ich, der an nichts glaubte, dem nichts heilig war, der die Gesetze der Sitte, der Ehre als menschliche, wandelbare Schranken ansah, die sich ändern und in ihr Gegentheil verkehrt werden können je nach menschlichem Belieben, ich hätte sie nicht in Schande zu besitzen vermocht. Mein sollte sie werden, mein ehrliches Weib, und im Hinblick auf sie begann eine Wandlung in mir, die ich mir nicht zu deuten vermochte.

Ich darf die Geliebte mir nicht zurückrufen in dem Strahlen ihrer reinen Schönheit, aber sie verklärte mir das Leben und die Welt.

Sie war es, die das Wort sprach: „Laß uns fliehen!“

Fliehen? Wie Diebe fortgehen aus dem Vaterhause? Nimmermehr! Fordern wollte ich sie offenen Angesichts kraft meiner und ihrer Liebe – alle Hoffnungen der Eltern, des Bruders, die es zu zerstören galt, konnten nicht in Betracht kommen neben dem Elend und der Schmach, der man Mira überantwortete, wenn man sie zu der verhaßten Ehe mit dem Ungeliebten zwang. Und doch versagte mir immer wieder der Muth, wenn ich die Mutter sah, wie ihr Auge voll Liebe und Stolz auf dem jungen Paar ruhte, wie sie sich im Anblick des Glücks ihres Erstgeborenen selbst wieder verjüngte; wie sie, die den Plan dieser Verbindung zuerst erfaßt und zur Ausführung gebracht hatte, sich ihres gelungenen Werkes freute; wie sie glaubte, nun erst das vermeintliche Unrecht ganz wieder gutgemacht zu haben, das sie Hubert, noch ehe er das Licht des Tages erblickt, durch ihre Unvorsichtigkeit zugefügt und dessen sie sich anzuklagen nie aufgehört hatte. Auch dem Vater schien eine schwere Sorge von der Brust gewichen. Und was ihr Glück war, das war meine Verzweiflung. Mit Hubert selbst hatte ich kein Mitleid, ich haßte ihn, ich konnte, ich wollte nicht glauben, daß das Gefühl, das er so offen zur Schau trug, ein echtes, tiefes sei, daß er in Casimira mehr als eben das Aeußerliche, das schöne, reizende Weib, um das ihn die Welt beneidete, zu schätzen wußte. Der Gegensatz unserer Naturen, wie sie sich von früh auf entwickelt hatten, war ein zu großer, ich war zu sehr daran gewöhnt, das, wofür ich mich begeisterte, was mir als ein Ideal vorschwebte, von dem älteren Bruder verspottet zu sehen und umgekehrt das gering zu schätzen, wofür er sich die überkommene Ehrfurcht bewahrt hatte, als daß ich in diesem Fall an eine Gemeinsamkeit unserer Empfindungen hätte glauben können.

Und sein eigenes Benehmen bestärkte mich in dieser Ansicht, die freilich nur zu sehr mit meinen Wünschen übereinstimmte. Geflissentlich bestürmte er Mira mit seiner unwillkommenen Zärtlichkeit, wenn andere zugegen waren, wenn ich selbst Zeuge sein mußte. Es war, als erriethe er meine Pein, als strebte er so recht absichtlich, den Stachel noch tiefer in die Wunde zu bohren. O, was litt ich damals! Wie mußte ich mir Gewalt anthun, auch nur äußerlich meine Fassung zu bewahren, mich nicht auf ihn zu stürzen, ihn von ihr zu reißen mit Gewalt – doch genug!

Mira verfügte nicht über dieselbe Kraft der Selbstbeherrschung wie ich. Sie hatte alles ruhig über sich ergehen lassen als ein Nothwendiges, so lange sie die Welt eben nur durch die Augen [840] meiner Mutter sah und nicht mehr von der Welt kannte, als diese ihr zu zeigen für gut fand. Nun ihr aber meine Liebe neue, ungeahnte Aussichten erschlossen hatte, an denen sie ermessen konnte, was ihr bevorstand, erwachten die angeborene Leidenschaft und der Stolz der Polin in ihr und empörten sich gegen den Zwang.

„Mach’ ein Ende!“ beschwor sie mich, wenn sie einen Augenblick Zeit gefunden hatte, sich von der Aufsicht, unter der sie mein Bruder hielt, frei zu machen, um in meine Arme zu eilen. „Flieh’ mit mir, verlange mich offen von ihm als Dein Weib, tödte mich, mach’ mit mir, was Du willst, nur so laß mich nicht länger leben!“

Und ich, der Titan, der Himmelsstürmer, der Feigling, ich versprach’s ihr und verschob die Ausführung des Entschlusses von einem Tag auf den andern.

Der Mutter Geburtstag kam so heran. Alle feierten ihn, die Familie, die Nachbarn, die zur Gratulation angefahren kamen, die Dienerschaft, für die der Tag ein besonderer Festtag war, nicht nur, weil sie insgesammt ihre Herrin liebten, sondern auch, weil er ihnen selbst eine Reihe herkömmlicher Vergünstigungen brachte, alle mit aufrichtigem Herzen, mit ungeheuchelter Freude. Nur ich vermochte es nicht und Mira. Denn was galten ihr, der Mutter, alle in noch so großer Zahl dargebrachten Geschenke gegen das eine, das sie sich selbst bereitet hatte, das Huberts Verlobung ihr gewährte, und eben das eine konnten wir ihr nicht gönnen. Alle Glückwünsche übertrug sie im Grund ihres Herzens auf ihn, sein Glück war das ihre; der Tag, den ich seit meiner Kindheit aus vollem Herzen festlich mitzubegehen gewohnt war, vermehrte heute nur meine Qual.

Die Gelegenheiten, da wir uns allein sehen konnten, wurden seltener; Miras Widerstreben, ihr Ekel gegen die Zärtlichkeiten ihres Bräutigams wuchs, seine Ueberwachung ward eine strengere, er mochte wohl ahnen, was in ihr vorging. Es war auch kein Wunder, immer unverhohlener that sie’s ihm kund, ihm und den andern, denn selbst in meines Vaters Zügen las ich zuweilen die aufsteigende Besorgniß; nur die Mutter schien in blinder Freude über das Glück ihres Lieblings von alledem nichts zu bemerken.

So viel wie nur möglich suchte Hubert sein körperliches Gebrechen jetzt zu verbergen, und es gelang ihm dieses auch bis zu einem gewissen Grad, denn er hatte seine schwachen Kräfte stets in Uebung erhalten und der Trotz verlieh ihm nun neue, stärkere. Es war nicht mehr jene gekränkte Eitelkeit, die ihn plötzlich verzichten ließ damals, als wir beide Evelinen von Langenau in harmloser Weise huldigten, sondern ein prahlerischer Trotz, der ihn festhalten hieß um jeden Preis, was ihm einmal nach seiner und der Eltern Ansicht gehörte. Sein Selbstbewußtsein hatte sich gehoben; wie schon einmal in unserer frühen Kindheit wollte er mir’s gleich thun in allen körperlichen Uebungen.

Er lenkte wie sonst sein kleines Gefährt, das nur für zwei Personen Raum hatte, und bei den Besuchen in der Nachbarschaft, den Spazierfahrten in der Umgegend mußte Mira an seiner Seite sitzen, während die Mutter bei mir auf dem hohen Kutschirwagen Platz nahm, da der Vater, welcher sich in dieser Zeit etwas leidend fühlte, uns selten begleitete.

Einmal standen beide Wagen fahrbereit vor der Thür; ich hatte schon, der Mutter wartend, die Zügel in der Hand, während Huberts Gespann noch von dem Reitknecht gehalten wurde. In diesem Augenblick eilte Mira der Mutter und Hubert, die noch im Haus weilten, voraus, sprang zu mir herauf, forderte mich ungestüm auf, zuzufahren, und da ich zögerte, riß sie mir die Zügel aus der Hand und schlug mit der Peitsche auf die erschrockenen Thiere los, die sich erst zornig aufbäumten und dann blitzschnell mit dem leichten Fuhrwerk zum Hofthor hinaus rasten. Ich hatte Mühe, der Leidenschaftlichen, die am liebsten gleich für immer in die Welt, in die Freiheit hinausgefahren wäre, die Zügel, die sie nicht im mindesten zu regieren wußte, aus der Hand zu winden und die scheu gewordenen Thiere nach einer Strecke des wildesten Laufs zum Stehen zu bringen. Huberts Gefährt jagte hinter uns her, so schnell die kleinen Jucker, die es zogen, nur rennen konnten; aber immerhin brauchte es einige Zeit, bis er uns eingeholt hatte. Diese benutzte ich, um Mira zu überreden, daß sie das Geschehene als einen Scherz darstelle, als welchen es denn auch die erschreckte Mutter bereitwillig aufnahm. Auch Hubert that desgleichen, doch sah ich ihm wohl an, daß es nicht sein Ernst war. Trotzdem überhäufte er Mira, die jetzt natürlich zu ihm umsteigen mußte, sobald er zu Athem gekommen war, mit Ausdrücken zärtlicher Besorgniß, nannte sie seinen kleinen Wildfang, während mich aus dem bleichen, durch die hastige Fahrt erhitzten und entstellten Gesicht ein Blick tödlichen Hasses streifte.

Aber seine Kräfte hatten sich bei der ungewohnten Eile der Verfolgung erschöpft, er vermochte kaum mehr, die Zügel zu halten. Der beabsichtigte Besuch mußte aufgegeben werden, und langsam, im Schritt fuhren wir nach dem Schloß zurück.

Auch Bootfahrten wurden wie vordem unternommen, und da die Mutter wie viele Frauen von je ein Bangen davor gehabt hatte, so war ich auch hierbei der nothgedrungene, durch die Sitte bedingte Begleiter des jungen Paares. Aber Hubert duldete kaum, daß ich am Steuer saß, er allein wollte alles besorgen. Er trieb ein verwegenes Spiel mit dem leichten Fahrzeug, ließ es auf dem Wasser tanzen und schaukeln, daß es mit den Bordrändern die Fluth berührte, oder zwang es zu einer plötzlichen scharfen Wendung, daß es sich schräg auf die eine Seite legte; das alles nur, um seine Kraft, seine Kunst, seinen Muth zu zeigen und in der Hoffnung, uns einen Schreck einzujagen, was ihm freilich nie gelang. Denn Mira saß kalt und theilnahmlos ihm gegenüber und warf nur mir, der ich ihr absichtlich ferne saß, zuweilen einen Blick zu, aus dem mir die ganze Leidenschaft, ach, und auch der ganze Jammer ihrer armen Seele entgegensprühte, der mir all das wiederholte, glühender, dringender wiederholte, was sie mir einst, da wir uns noch unter vier Augen sehen und sprechen konnten, mit beschwörender, verzweifelter Stimme gesagt hatte.

Ach, ich hatte nicht den Muth, ihn zu fliehen, diesen Blick, der täglich vorwurfsvoller, flehender auf mir ruhte, und auch nicht den Muth, ihm Stand zu halten. Ich schämte mich vor ihr und vor mir selbst meiner erbärmlichen Feigheit.

Hubert aber triumphirte und einmal trieb er das verwegene Spiel zu toll, daß der Flußgott sich rächte und ihm ein Ruder aus der Hand schlug, wodurch das Boot, auf einen verborgenen Stein aufrennend, jäh umkippte und Wasser fing. Da war er der erste, der erbleichend einen Schrei des Schreckens ausstieß. Ich aber richtete mit starkem Arm das dem Sinken nahe Fahrzeug wieder auf, schöpfte das eingedrungene Wasser aus, wobei mir Mira tapfer beistand, und lenkte es mit dem einen Ruder zurück zur Landungsstelle, während er unthätig, wie gelähmt da saß und mit finsterem Blick, ohne ein Wort zu sprechen, unseren vereinten Bemühungen zusah.

Freilich, einen Augenblick hatte ich auch gedacht, es wäre das Beste, wenn das Boot vollends umschlüge und wir alle drei, die wir auf der Erde nicht zusammen leben konnten, in den Wellen ein nasses Grab fänden. Ja, es wäre für uns alle das Beste gewesen. Einen Augenblick aber hatte mich auch ein anderer Gedanke durchzuckt, ein schrecklicher, sündhafter, wahnsinniger Gedanke, dem ich hier nicht Worte zu leihen vermag.


5.

Es muß sein, ich muß auch dies noch bekennen und in der Erinnerung, die ich heraufbeschwöre, all das Entsetzen und die Qual jenes Tages nochmals durchleben, der über mein Schicksal entschied und über das ihrige und über – – o meine Mutter, meine arme, geliebte Mutter!

Das Leben in Groß-Stegow wurde von Tag zu Tag unerträglicher für alle, die Mutter allein ausgenommen, die noch immer in dem schönen Wahn von Huberts Glück schwelgte, eifrig mit den Zurüstungen zur Hochzeit beschäftigt war und für alle Zeichen des aufsteigenden Gewitters blind und taub blieb. Der Vater hatte aus Miras auffälligem Benehmen Verdacht geschöpft, und wenn auch sein Vertrauen in mich – o wie schnöde habe ich’s ihm gelohnt! – nicht im geringsten erschüttert war, so bestand er doch nicht mehr, wie das ursprünglich seine Absicht gewesen war, darauf, daß ich längere Zeit in Stegow bliebe, vielmehr wünschte er jetzt, daß ich nach Berlin zurückkehrte und wenigstens die ersten Stufen des Staatsdienstes praktisch durchmachte. Natürlich konnte dies erst nach Huberts Hochzeit geschehen, meine frühere Abreise hätte Aufsehen erregt und Gerüchte, die schon hier und dort in der Nachbarschaft umliefen bestätigt.

Die Tage wurden länger und länger, der längste war nicht mehr fern. Und ich, ich schwankte noch immer zwischen Titanentrotz und knabenhafter Verzweiflung, zwischen kühnem Hoffen und [842] feigem – Entsagen? Nein, das stand fest in mir, entsagen konnte und wollte ich nicht mehr, es wäre ein Verbrechen an Mira, an mir selbst, ja auch an den Eltern und an Hubert, wie ich mir einzureden suchte, gewesen. Sie gehörte mir durch das Gesetz der Natur, der Selbstbestimmung, des freien Willens, das höher steht als alles Menschenrecht, hoch über all den künstlichen Satzungen, die eine der Natur und ihren Zwecken entfremdete Gesellschaft zur Beschönigung ihres Eigennutzes, ihres Dünkels, ihres hohlen Formenkults aufgestellt hat, hoch über allen Familienrücksichten. So phantasierte ich in meinen muthigen Stunden. Aber ist denn die Kindesliebe, die gehorsame Verehrung derer, die uns das Leben geschenkt haben, und die opfermuthige, dankbare Rücksichtnahme auf ihre Wünsche, auf ihr Glück nicht auch ein Naturgesetz? – So fragte ich mich in den zaghaften. An Huberts, an des Bruders Glück dachte ich nicht, er war des edlen Schatzes nicht werth, den ihm ein Zufall in den Schoß geworfen hatte, ihm wollte ich ihn nicht lassen und wenn ich auf Tod und Leben mit ihm darum kämpfen mußte.

Aber auch dem Vater, von dem ich’s wußte und fühlte, daß ich seine ganze Liebe besaß, auch ihm wagte ich’s nicht, mich anzuvertrauen, nicht in der Stunde, da er mit mir über meine Zukunft sprach, mein Herz vor ihm auszuschütten. Gerade das unbedingte, nicht von dem leisesten Verdacht beirrte Vertrauen, das er auf mich setzte und das ich durch mein Geständniß zerstören mußte, hielt mich zurück von dem Schritt, zu dem mein Herz, mein Gewissen mich drängten.

O, hätt’ ich’s gethan, hätt’ ich ihm alles gesagt, so wie ich’s heute in verspäteter Reue auf dieses Papier schreibe, es wäre anders geworden!

Worin es mir Hubert jetzt mehr denn früher zuvorthat, das war das Pistolenschießen, für das er von Jugend an den scharfen, sicheren Blick, die ruhige Hand gehabt und worin er sich durch fortwährende tägliche Uebung auf unserem Schießstand zum Meister ausgebildet hatte, derweil ich in meiner Studienzeit diese Uebung vernachlässigt hatte. Der Schießstand war es denn auch, auf dem er mich mit Vorliebe zum Wettkampf herausforderte, und natürlich immer im Beisein Miras, die jede Gelegenheit, in meiner Nähe zu sein, mich mit ihrer stummberedten Augensprache zu einem Entschluß zu treiben, bereitwillig ergriff. Auch die Mutter begleitete uns oft zu dem unblutigen Waffenspiel und strahlte vor Freude und Stolz, wenn, wie dies stets geschah, ihr Liebling als unbestrittener Sieger daraus hervorging. Sie wurde nicht müde, Mira auf die Wunder hinzuweisen, die er vollbrachte, wenn er aus einer aufgesteckten Spielkarte in ansehnlicher Entfernung das Aß mitten herausschoß, oder die Kugeln der Reihe nach mit unfehlbarer Sicherheit zwischen die konzentrischen Kreise der Standscheibe sandte, daß die Schußlöcher dort eine regelmäßige Figur bildeten, oder wenn er zwei gleichzeitig aufgeschnellte Glaskugeln rasch hinter einander hoch in der Luft durchbohrte, daß die Splitter wie ein Staubregen zur Erde kamen. Meine weit geringeren Leistungen begleitete sie mit so herzlichem Lachen, so harmlos heiterem, gutmüthigem Spott, daß ich oft, nur um ihr das Vergnügen zu machen, absichtlich stark neben das Ziel oder gar in die blaue Luft schoß. Huberts Schweigen, sein überlegenes Lächeln in diesem Falle hatte etwas Höhnisches, Beleidigendes, Verächtliches, aber die Mutter lachte so hell, so herzlich – – o dieses Lachen, wie es mir seitdem und heute im Ohr gellt! –

Es war kurz nach jener verunglückten Bootfahrt, als wir, Hubert und ich, uns eines Nachmittags wieder nach dem Schießstand begaben; ein Diener folgte uns, der die Waffen und die Munition trug. Mira, deren absonderliches Benehmen bei Tisch allen, mit Ausnahme der Mutter, aufgefallen, war von letzterer gebeten worden, sie irgend eines auf die Vermählung bezüglichen Geschäfts wegen auf ihr Zimmer zu begleiten. Sie gehorchte mit der Miene eines Opfers, nicht ohne einen vielsagenden Blick auf mich, der Hubert und wohl auch dem Vater nicht entgangen war. Etwas später sollten die Damen uns zum Schießstand nachkommen, und auch der Vater wollte sie heute begleiten. Schweigend schlugen der Bruder und ich den Weg dorthin ein, jeder mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Mir brannte Miras letzter Blick, der stumme flehende Opferblick, den sie mir zugeworfen hatte, ehe sie der Mutter zu dem verhaßten Geschäft gefolgt war, und aus dem ich deutlicher, dringender denn je die verzweifelte Bitte: „Befreie mich, ende diese Qual, die ich nicht länger tragen kann!“ herausgelesen hatte, wie ein glühender Vorwurf auf der Seele. Ja, ich mußte ein Ende machen mit diesem Zustand, gleichviel wie! So konnte es nicht länger fortgehen! Aehnliche Gedanken mochten Hubert beschäftigen, der gesenkten Hauptes mit düsterer Stirn neben mir herhinkte, den stützenden Arm des Dieners verschmähend.

[857]
Der Schießstand war eine gute Strecke vom Schloß an der Grenze des Guts angelegt worden; auf der einen Seite begrenzte ihn der Fluß, nach der andern, dem Schloß zugewandten, ragte eine lange hohe Mauer auf, um zu verhindern, daß die etwa verirrten Geschosse jemand, der von dieser Seite kam oder auf den Feldern beschäftigt war, treffen konnten. Ein starker Erdwall diente als Kugelfang und ihm gegenüber lag der Eingang, welcher durch eine von leichtem Holz gezimmerte, nach der Schußlinie offene Hütte führte, in der die Scheiben und allerlei Geräthschaften aufbewahrt wurden und auch der Schütze, wenn es regnete, unterstand.

Nachdem der Diener die geladenen Waffen und die Munition auf den langen Holztisch, der sich hier befand, niedergelegt, die Scheiben nach Huberts Anordnung aufgestellt, den bequemen Stuhl, den dieser beim Schießen benützte, an den richtigen Platz gebracht hatte, wurde er gegen die sonstige Gewohnheit von Hubert entlassen. Ich schloß daraus, daß Hubert nicht Lust hatte, das Spiel zu beginnen, ehe die Zuschauer, für die es doch hauptsächlich berechnet war, eingetroffen, denn der Mann, der ihm die Waffe nach jedem Schuß neu zu laden pflegte und überdies als Zeiger diente, blieb sonst anwesend, bis wir die Uebung beendet hatten. Er entfernte sich auch jetzt nur zögernd, erstaunt, nachdem ihm sein Herr den Befehl in barscher Weise wiederholt hatte. Oder wünschte Hubert eine Auseinandersetzung mit mir, zu der er keine Zeugen brauchen konnte? Um so besser! dachte ich, denn ich ahnte etwas derartiges, als er, die geladene Waffe vor sich auf dem Tisch, ohne sie zu ergreifen, in seinem Stuhl Platz nahm und finster brütend ins Leere starrte. Ich schoß indessen die meinige nach einem beliebigen Ziel ab, ohne es, wohl infolge der inneren Erregung, in der auch ich mich befand, zu treffen.

„Weit gefehlt!“ höhnte Hubert, „Du scheinst bei den Weibern mehr Glück als mit der Kugel zu haben, mein Junge! Aber nimm Dich in acht! Wenn Du’s nicht besser lernst, wird Dich der erste Ehemann, dem Du in die Quere kommst, lustig übern Haufen schießen.“

Es war ein böser, feindseliger Ton, in dem er dieses sagte. Ich nahm mich mit Gewalt zusammen und erwiderte kalt, aber ruhig: „Bei den Frauen anderer habe ich nie mein Glück versucht.“

„Aber bei ihren Bräuten!“ lachte Hubert giftig. „Sei vorsichtig, auch das könnte Dir schlecht bekommen!“

„Was willst Du damit sagen?“ frug ich ihn, meiner Erregung nicht länger Herr, in der Voraussicht, daß der entscheidende Augenblick, den ich so oft herbeigesehnt, so lange ängstlich vermieden hatte, endlich herannahe und daß er selbst ihn herbeiführen wolle.

[858] „Glaubst Du,“ fuhr Hubert mit einer Steigerung des früheren Tones fort, „daß ich wie Blicke, die Du unausgesetzt auf Mira wirfst, nicht bemerkt, daß ich es nicht bemerkt habe, wie Du Dich in ihre Nähe drängst, sie mit Deinen fein gedrechselten Phrasen, die Du ja wohl auf der Universität gelernt hast, verfolgst und ihr Gemüth zu umstricken, zu verderben suchst?“

„Hubert!“ schrie ich.

„Schweig!“ erwiderte er in befehlendem Ton, „und laß mich reden, den Aelteren! Freilich, ich theile Deinen Geschmack vollkommen. Mira ist schön, ein berückendes, herrliches Weib! O, auch ich bin nicht blind für ihre Vorzüge, so wenig wie für die Deinen, denn auch Du bist ein hübscher feiner Junge mit gesunden, kräftigen, gelenken Gliedern, so recht wie ein Romanheld sein soll, während ich auf Krücken herumhumple. Und doch rathe ich Dir als guter Freund: Laß ab von ihr; nimm Dich und Deine Sinne von nun ab besser in Zaum! So leicht wie einst auf die kleine Eveline werde ich auf sie, die mir gehört, nicht verzichten; die Zeiten haben sich geändert seitdem. Und ich rathe Dir dieses nicht nur, sondern ich befehle es Dir, denn Mira gehört mir, sie ist mein Eigenthum, meine Braut und bald mein eheliches Weib, die künftige Herrin von Groß-Stegow!“

„Sie ist Dein Opfer,“ unterbrach ich ihn, außer mir vor Wuth über den rücksichtslosen Ton, in dem er von ihr, die ich anbetete, sprach, „und nicht länger soll sie es sein! Lang genug bin ich ein Feigling gewesen, der sie hilflos leiden sah, lang genug hab’ ich’s widerstrebend in mir verschlossen, aber endlich muß es heraus, Du selbst willst es. Glaubst Du wirklich, Mira, die Herrliche, liebe Dich, armer Thor?“ Er wollte aufspringen, ich drängte ihn mit Gewalt in den Stuhl zurück. „Nein, jetzt rede ich, der Jüngere, und Du, der Aeltere, der Majoratsherr, Du sollst und mußt mich hören, anhören bis zum Ende. Nicht Dir, mir gehört Miras Herz! Aus Klostermauern erlöst, ohne jede Kenntniß von der Welt und den Menschen, hat sie sich dem Wunsch der Mutter, ihrer Wohlthäterin, gefügt, ist sie Deine Braut geworden, hat sie stumm Deine Liebkosungen ertragen, wäre sie vielleicht gar Dein eheliches Weib geworden, wenn ich nicht gekommen wäre. Aber ich kam und weiter soll es nicht gehen, das will die Natur nicht, mag es tausendmal Dein und der Eltern Wunsch sein! Mich liebt sie, mich flehen ihre Blicke um Befreiung aus dem schmachvollen Joch an, in das man sie geschmiedet, und ich sah ihre Qual und zögerte. Fliehen wollte sie mit mir, sterben lieber, als Dir gehören. Aber nicht durch feige Entführung und Flucht, nicht als eine Todte, lebend will ich sie mir gewinnen. Was ich längst hätte thun sollen, heute noch soll es geschehen. Vor unsere Eltern will ich hintreten und sie von ihnen, von Dir vor aller Welt verlangen als mein Eigenthum, das sie durch freie Wahl und durch eine höhere Bestimmung ist als die Eure, die ich nicht anerkenne!“

„Elender, Schamloser!“ zischte Hubert. Mit einem plötzlichen Ruck machte er sich von meiner Faust, die ihm bis dahin schwer auf der Schulter gelastet hatte, frei. Er tastete wie im Fieber nach der geladenen Pistole, die vor ihm auf dem Tisch lag, ergriff sie, sprang auf und stürzte mit der erhobenen Waffe auf mich los. Aber auch ich war meiner Sinne nicht mehr mächtig. „Krüppel, erbärmlicher Krüppel, Du wagst es?“ gab ich ihm die Beschimpfung zurück; „wohl, so mag es sein, Du oder ich, einer von uns beiden muß sterben!“ Blitzschnell faßte ich ihn mit der linken Hand am Hals, mit der Rechten entriß ich ihm die Pistole und setzte sie ihm auf die Brust.

„Mörder! Mörder!“ stöhnte er halberstickt unter meinem Griff.

„Erwin!“ gellte da plötzlich ein verzweifelter Schrei. „Was thust Du?“

Es war meine Mutter. Sie mochte den anderen, die mit ihr vom Schloß kamen, in ahnungsvoller Besorgniß vorausgeeilt sein, als sie den Lärm unserer Stimmen vernommen hatte, und nun, da sie das Schlimmste, was sie besorgen konnte, bestätigt sah, warf sie sich in der Todesangst ihres Herzens zwischen uns und riß meine bewaffnete Hand gewaltsam weg von des Bruders Brust, ach, nur um sie gegen ihre eigene zu kehren. Hubert sank, von meinem Griff befreit, schwerfällig in den Stuhl zurück, und in demselben Augenblick, ehe ich noch zur Besinnung gelangt war, krachte der Schuß und die Mutter stürzte lautlos neben mir zu Boden.

Die Waffe entfiel meiner Hand, eine Weile stand ich betäubt, das Gräßliche kaum begreifend, dann beugte ich mich über sie. Nur ein schwaches, dumpfes Röcheln rang sich noch von ihren mit blutigem Schaum bedeckten Lippen, über ihr Auge, das treue, zärtliche Mutterauge, war schon der trübe, gläserne Schleier des Todes gebreitet. Die Kugel hatte ihr die Brust durchbohrt, die Brust, die mich genährt. Ich wollte sie aufrichten, ein Blutstrom brach aus der Wunde, es war alles vorbei, und ein lebloser Körper entglitt meinen Armen, die nicht würdig waren, ihn zu halten. Und Hubert lag mit weit aufgerissenen, starren Augen lautlos, regungslos, wie ein Leichnam mit bleichen Lippen und offenem Mund in seinem Stuhl. Hatten Schreck und Entsetzen auch ihn getödtet, hatte meine Faust ihn erwürgt? –

Ein Geräusch schnell nahender Schritte weckte mich aus der Betäubung, in der ich das alles nur wie durch einen rothen, zuckenden Schleier sah. Auf der Schwelle des Eingangs erschien Mira, hinter ihr mein Vater; der Anblick, der sich ihnen hier bot, bannte sie einen Augenblick schaudernd auf die Schwelle. „Mörder! Doppelter Mörder!“ rief mein Vater, rief Mira. Oder waren es nur die Rächerstimmen in meiner Brust, die so riefen? –

Jetzt erst ward ich mir meiner unseligen That ganz bewußt. Vor ihrem Anblick floh ich wie ein gehetztes Wild die Schießbahn hinunter, kletterte über den Wall, gelangte aufs freie Feld, sprang über Gräben und Hecken ohne Weg und Ziel, den Abend, die Nacht hindurch, immer verfolgt von dem fürchterlichen Ruf, bis ich erschöpft zusammenbrach.

Am nächsten Morgen stellte ich mich selbst den Gerichten.


6.

Ich entsinne mich, daß ich in einer Krankenzelle im Bette lag, wo der Arzt mich pflegte; daß ich in einer Gefangenzelle ruhelos auf und nieder ging; daß ich viele Verhöre bestand, ohne daß ich wußte, was ich angegeben, noch wie lange das gedauert hatte, bis ich endlich in einem großen Saal saß, den viele Menschen füllten, Geschworene, Richter und ein vielköpfiges Publikum von Männern und Frauen, feierlichen Ernst, stilles Mitleid, erbarmungslose Neugier in den Zügen. Ich selbst saß auf der Anklagebank, die mit Schranken umgeben, von Gendarmen bewacht war, und hinter mir saß der Vertheidiger, den man mir beigegeben, ohne daß ich’s verlangt hatte. Er sprach mir Muth zu, dessen ich nicht bedurfte, denn ich war ruhig, schier theilnahmlos.

Der Präsident eröffnete die Sitzung. Da der Angeklagte, so etwa begann er, gleich bei der ersten Vernehmung ein volles Geständniß abgelegt und dasselbe bei allen ferneren uneingeschränkt aufrecht erhalten habe, auch der Einwand der Vertheidigung, daß bei ihm eine geistige Störung und hierdurch bedingte Unzurechnungsfähigkeit vorliege, durch das auf genaueste Untersuchung und Beobachtung gegründete Gutachten der Herren Sachverständigen bereits widerlegt sei, da zwei Hauptbelastungszeugen, nämlich die im Lauf der Voruntersuchung ins Kloster getretene Casimira von Gliwitzka, welche auf Grund ihrer verwandtschaftlichen Beziehungen zu dem Angeklagten das Zeugniß abgelehnt habe, und der durch den Schmerz über des Sohnes Frevelthat ans Krankenlager gefesselte Vater des Angeklagten, welcher nach ärztlichem Ausspruch als nicht vernehmungsfähig zu betrachten sei, wegfallen, und da auch der schwerkranke Bruder sein Zeugniß nur schriftlich habe zu Protokoll geben können, so sei zu hoffen, daß dieser überaus traurige Fall den Gerichtshof wenigstens nicht allzulang beschäftigen werde. Er verlas hierauf das Gutachten der Aerzte, das Zeugniß meines Bruders, das den Thatbestand genau wiedergab, soweit ich mich dessen entsinnen konnte, denn seit ich von Miras Rücktritt ins Kloster und meines Vaters Krankheit vernommen hatte, beschäftigten sich meine Gedanken nur noch damit.

Ich bestätigte alles, was die später vernommenen Zeugen über mein Vorleben, mein Verhältniß zu dem Bruder angaben. Es waren meist Leute aus unserer Dienerschaft, die in Trauerkleidern erschienen, mich mit theilnehmendem, sogar thränenfeuchtem Blick ansahen und gerne zu meinen Gunsten ausgesagt hätten. Die Querfragen, die der Staatsanwalt an sie richtete, bezogen sich namentlich darauf, ob ich nicht früher schon Gelüste nach dem Majorat an den Tag gelegt, meinen Bruder mit schelen Augen betrachtet, hämische Reden über ihn geführt habe, ob ferner der Gang nach dem Schießstand an jenem verhängnißvollem Nachmittag nicht doch auf meine, wenn auch nur mittelbare Veranlassung unternommen worden, ob ich an dem Zurückbleiben der anderen, [859] am Fortschicken des Dieners nicht doch etwa mit betheiligt gewesen sei. Sie mußten das alles, soweit sie überhaupt darüber aussagen konnten, verneinen.

Trotzdem trat der Staatsanwalt, der sich nun zu einer längeren Rede erhob, dafür ein, daß ich die That mit voller Ueberlegung und nach reiflicher Vorbereitung begangen habe, um den Bruder unter dem Vorwand, daß er sich durch eigene Unvorsichtigkeit, wie das ja wohl auf dem Schießstand vorkommen könne, selbst getödtet habe, zu beseitigen und mich damit in den Besitz des Majorats sowie der jenem mißgönnten Braut zu setzen. Er erwähnte in scharfsinniger Weise alles, was etwa für diese Auffassung sprechen konnte, und gab nur in zweiter Linie die Möglichkeit zu, daß ich im Affekt, d. h. unter dem Einfluß des Augenblicks gehandelt habe.

Und des Muttermords, der größten und schwersten Schuld, deren mein Gewissen mich anklagte, ihrer erwähnte er nur nebenbei. Was das Eingreifen der Mutter, so meinte er, und ihren dadurch veranlaßten Tod betreffe, so trete die Anklage in diesem Punkt der Ansicht der Vertheidigung bei, daß nämlich besagte Geschehnisse auf einen beklagenswerthen, von dem Angeklagten zwar mittelbar begünstigten, aber doch nicht bestimmt vorherzusehenden Zufall zurückzuführen seien, daß insbesondere ein Angriff auf das Leben der Mutter nicht in der bewußten Absicht des Angeklagten gelegen, der tödliche Schuß sich vielmehr unabhängig von dessen Willen entladen habe. Selbst von einer Verschuldung durch Fahrlässigkeit sei abzusehen, wohl aber verdiene diese erschütternde Folge des ersten Verbrechens von den Herren Geschworenen bei ihrer Berathung und Abstimmung als erschwerend in Betracht gezogen zu werden.

Demgemäß wurden die Fragen gestellt, die erste auf versuchten Mord, die zweite auf versuchten Todtschlag, eine dritte, die mein Vertheidiger beantragt hatte, auf Zulassung mildernder Umstände. Die Geschworenen zogen sich zurück, sie kehrten wieder und ihre Antwort lautete auf die erste Frage verneinend, auf die zweite bejahend. Die Zulassung mildernder Umstände wurde abgelehnt.

O, das Urtheil, das die Richter fällten, war milde genug, es lautete auf sieben Jahre Zuchthaus. Schwerer, viel schwerer verurtheilte mich das Gericht in meiner Brust!

Nun war auch das überstanden, mein Vertheidiger drückte mir bedauernd die Hand, er sprach etwas von Gnade; ich wollte keine Gnade. Neugierig drängte sich die Menge um mich, als ich abgeführt wurde, und noch am gleichen Abend trat ich meine Strafe an.

Sieben Jahre, Jahre blühender Mannheit, von der Welt getrennt durch Kerkermauern, in Gesellschaft von Betrügern, Dieben, Mördern – Mördern? – Ja, war denn auch nur einer darunter so schlimm wie ich? Sie alle hatten aus Noth, Eigennutz, angeborener oder anerzogener Rohheit gesündigt, aber gegen seinen Bruder hatte keiner die Waffe erhoben, seine Mutter hatte keiner getödtet. Und ich, der ich von Kindheit an nur Gutes von den Eltern genossen, ich, dessen Geist und Herz sich an den besten Lehren, den ehrwürdigsten Beispielen gebildet, ich hatte das gethan, ich allein! Mußte ich nicht dankbar sein, daß jene mich ihres Umgangs würdigten? –

Auch der Direktor des Zuchthauses war mild und gütig mit mir, viel zu mild, viel zu gütig. Er wollte mich mit Rücksicht auf die Erziehung, die ich genossen hatte, bei der Schreiberei beschäftigen. Ich dankte es ihm, aber ich wollte nichts vor den anderen voraus haben, ich verlangte nach schwerer Arbeit, die den Geist, der nicht ruhen will, übertäubt durch die Anstrengung der Glieder, jener Glieder voll strotzender Kraft und Gesundheit, in deren Besitz ich mich so stolz über den Bruder erhoben hatte. Auch diese unverdiente Linderung wurde mir zu theil, in harter Arbeit von früh bis spät durfte ich mir Stunden traumlosen Schlafs in der Nacht erkämpfen. O, was das werth ist, weiß nur der, der sich wie ich endlos lange Stunden auf dem Bett gewälzt hat, bis ihn der Schlaf nicht als der stille Tröster, sondern als der fürchterliche Traumspender umfing, der die Todten wieder aufweckt aus ihren Gräbern und sie mit gräßlichem Vorwurf in dem stieren, gläsernen Blick vor sein Lager stellt.

Meine Aufführung im Zuchthaus war, was man in der dortigen Geschäftssprache eine musterhafte nennt. Als im Spätwinter des Jahres 1868 Amnestievorschläge einverlangt wurden befand ich mich unter denen, die, natürlich ohne ihr Vorwissen, der Allerhöchsten Gnade empfohlen wurden – „der Allerhöchsten“, so nennen es die Menschen in ihrem thörichten Wahn.

Die Nachricht von meiner Freilassung wurde mir ganz unerwartet durch den Zuchthausdirektor, der mich zu sich rief, mir die bescheidene Summe dessen, was ich mir durch Arbeit erspart hatte, auszahlte, ein Zeugniß übergab und sich sogar erbot, mir behilflich zu sein, wenn ich eine Stelle suchen wolle.

Eine Stelle – der Gedanke erschreckte mich, die unerhoffte Freiheit erschien mir als eine neue Qual. Eine Stelle suchen, hier im Vaterland mit dem Zeugniß aus dem Zuchthaus, ich, mit diesem Namen, nein, das wollte, das konnte und durfte ich auch nicht, so sehr mich die Großmuth des Mannes rührte.

Etwas von dem alten Hochmuth regte sich in mir, und als sich die Pforten des Kerkers nun vor mir aufthaten und die weite freie Welt unter dem weiten freien Himmel vor mir lag, da erwachte einen Augenblick auch wieder die alte, sündhafte Leidenschaft in mir.

„Hole Dir Mira!“ rief es in mir. „Sie liebt Dich, befreie sie aus dem Kloster, Du bist stark und muthig und die Welt ist so weit!“

„Wie, Du, Du, der Mörder,“ so sprach mein Gewissen dagegen, „Du wagst es, an sie, die Reine, noch zu denken, die sich schaudernd von dem Friedensstörer abwendet? Ist’s nicht genug an dem, was geschehen? Willst Du Dein verruchtes Werk durch neue Gewaltthat krönen, mit blutiger Hand die Frucht des Muttermords pflücken?“

Und dann sprach eine dritte Stimme, eine leise, süße, rührende Stimme, die aber mächtiger war als die andern: „Wo ist Dein alter Vater? Lebt er noch oder hat Dein Verbrechen auch ihn getödtet? Verlangt Dich’s nicht, ihn noch einmal zu sehen, ihn und den Bruder und die alte Heimath, die Stätten Deiner Unschuld, Deines Glücks und Deiner Schmach? Willst Du ihm nicht zu Füßen stürzen, ihm, dessen Glück Du grausam zerstört und der Dich geliebt hat und Dir vertraute und stolz auf Dich war – seine welken Hände küssen, sie mit Deinen Thränen benetzen und mit flehendem Aufblick zu ihm die Bitte stammeln: ‚Vater, vergieb!‘?“

Die Stimme behielt recht. Aber meine Kräfte hatte ich überschätzt, die frische Luft der Freiheit war mir noch zu ungewohnt, sie wirkte zu stark auf meine an die dumpfe Kerkerluft gewöhnten Organe; das freie Licht blendete mich, der weite, von keiner Mauer begrenzte Raum machte mich schwindeln. Eine Mattigkeit befiel mich, wie ich sie im Kerker nie empfunden, taumelnd schier machte ich mich auf den Weg, wirr im Kopf, und im Herzen nur immer den einen Wunsch, die einzige brennende Sehnsucht nach dem Vater.

Es waren zu Fuß verschiedene Tagereisen von dem Ort, wo ich die Freiheit erlangt hatte, bis zu dem väterlichen Gut, und meine des Wanderns ungewohnten Glieder versagten mir oft den Dienst, und doch mußte ich eilen, denn ich fürchtete, ein Unfall könnte den alten Mann treffen, indeß ich zögerte. Dieser Gedanke, die marternde Angst, daß er sterben könnte, ehe ihn mein Auge noch einmal gesehen, ehe er mir vergeben hatte, trieben mich vorwärts, sie rissen mich empor, wenn ich erschöpft am Wege zusammengebrochen war.

Lebte er noch? Ich wußt’ es nicht und wagte auch nicht, jemand danach zu fragen aus Furcht, eine verneinende Antwort zu erhalten und auch, weil ich meinte, man müsse mir meine That an der Stirne ablesen können. Noch befand ich mich in einer mir wenig bekannten Gegend, wo auch die Leute mich wenigstens nicht von Angesicht kannten, und doch vermied ich die große Heerstraße, schlug die weniger betretenen Fuß- und Feldpfade ein und machte so manchen Umweg. In den entlegensten Dorfschenken kehrte ich nachts ein, froh wenn ich dort einen kargen Imbiß und ein dürftiges Lager auf dem Dachboden oder dem Stroh der Scheune fand, als ein reisender Handwerksbursch, für den sie mich mit meinem Bündel auf dem Rücken halten mochten. Aber je näher ich Groß-Stegow kam, desto mehr wuchs die Furcht des Erkanntwerdens, und nun floh ich alle betretenen Pfade, nährte mich kümmerlich von dem, was ich von umherziehenden Händlern erkauft hatte, verbrachte die Nacht, wenn ich sie nicht zum Wandern benützte, draußen auf dem freien Feld oder im Wald. Natürlich litt mein Aeußeres stark unter solcher Lebensweise. Die wenigen Menschen denen ich begegnete, sahen mir mißtrauisch nach. „Der [862] kommt aus dem Zuchthaus,“ mochten sie denken, und sie hatten ja recht, wenn sie mich auch gewiß eher für einen entsprungenen, als für einen durch des Königs Gnade befreiten Sträfling hielten. Ich war’s zufrieden, wenn sie mich nur nicht erkannten, und jetzt, wo ich mich schon auf väterlichem Grund und Boden befand, freute ich mich schier meines verlotterten, verkommenen Aussehens. So, sagte ich mir, mag der verlorene Sohn der Bibel einst an den väterlichen Herd zurückgekehrt sein. Aber wird man dich auch so empfangen wie ihn, der doch nur ein leichtsinniger Verschwender war? Wird dein Vater auch die Arme nach dir ausbreiten, wie der seinige nach ihm? Wird dein Anblick ihm nicht Entsetzen einflößen, wird er, von dem du Vergebung erhoffst, dich nicht mit dem letzten Athemzug noch verfluchen? – Diese Angst wurde stärker, je näher ich dem Ziel meiner Schritte kam, sie hemmte meinen Gang, während die Sehnsucht mich vorwärts trieb.

Ja, da lag sie wieder vor mir, die weite Ebene mit ihrer grünen Wand von Kiefern- und Tannenwäldern und in der Ferne der schimmernde Spiegel des Haffs, da grüßte mich auch das Schloß meiner Väter, der Stammsitz derer von Klaritz, den sie sich in treuer ehrlicher Arbeit von Jahrhunderten gegründet, da lag sie vor mir, die Heimath.

Und ich, der jüngste, mißrathene Sproß jenes tugendreichen Geschlechts, mit wie anderen Gefühlen betrat ich sie jetzt als damals, da ich nach der ersten längeren Entfernung vom Vaterhaus dorthin zurückkehrte, von den alten Freunden und Bekannten traulich begrüßt, auf der Schwelle mit offenen Armen empfangen von den Eltern, dem Bruder und – Mira! Ja, auch sie hatte ich hier zum erstenmal gesehen, sie, deren Anblick so heiße Flammen in meiner Brust entfacht hatte, daß alle anderen Empfindungen darin zu Asche versengt wurden, Mira mein Glück – mein Verderben! Und wie anders war alles heute! Die alten Diener kannten mich nicht mehr, sie durften mich nicht erkennen und ich mußte mich vor ihnen verbergen, damit sie mich nicht griffen und fortjagten wie einen Strolch, der in böser Absicht den Hof umkreist, – die Mutter todt durch mich, der Vater, wenn er noch lebte, ein armer, gebrochener Greis, auch der Bruder um sein Glück betrogen und Mira im Kloster, der Welt entsagend, eine Gottesbraut!

Wieder war’s Frühlingszeit wie damals. Wohl erkannte ich auch jetzt wieder jeden Baum, jeden Strauch, aber sie waren verwildert, wie das ganze Gut und auch das Schloß den Eindruck des Verfalls auf mich machte, und nicht mehr die Stimmen der Kindheit waren es, die mich mit ihrem Zauber umfingen, sondern die mahnenden Stimmen des Gewissens, die mir zuriefen: „Das alles hast Du gethan!“

Von allen Seiten umschlich ich das Haus und den Garten, nur an eine Stelle wagte ich mich nicht heran, die Stelle dort beim Fluß, obwohl der Schießstand verschwunden und alles der Erde gleich gemacht war. Als ich einmal in ihre Nähe kam, trieb mich ein Schauder zurück. Mir war’s, als schwebten rächende Geister über der Stätte und lauerten auf den Mörder.

Bis in den Hof hinein schlich ich mich und belauschte dort die Gespräche der Diener und Stallburschen. Sie schalten auf den neuen Verwalter und klagten, daß der junge Herr nur selten noch das Zimmer verlasse, und wie’s der alte, den man an warmen Tagen im Mittagssonnenschein noch manchmal in den Garten hinausführe, auch nicht mehr lange treiben könne, und wie schade es sei um das schöne Gut und die schönen Gespanne.

Er lebte noch! Da bat ich den Himmel um Sonnenschein, ich – den Himmel, und er erhörte mein Gebet, vielmehr er that’s dem alten Vater zu lieb, daß ich ihn sehen konnte am andern Mittag, hinter der Hecke versteckt, nur heimlich, von ferne, aber doch ganz deutlich.

O, wie so krank und hinfällig sah er aus mit dem silberweißen Haar, dem gebeugten Haupt, den eingefallenen, gramdurchfurchten Zügen, daraus die Augen, die alten treuen Augen nicht mehr leuchtend wie einst, sondern trüb und traurig und in ihrer Trauer doch so mild hervorblickten, daß ich neue Hoffnung schöpfte. Nein, diese sanften Augen konnten nicht in Zorn und Haß aufblitzen, nicht in Schreck und Abscheu erstarren; diese welken, zitternden Hände konnten nur segnen, nicht fluchen!

Ein Diener schob den Rollwagen, in welchem der Greis, sorgsam mit Decken umhüllt, saß, ein anderer trug die Krücken und einen Korb. Krücken! – So weit war es mit ihm!

Sie führten ihn weiter und ich schlich mich die Hecke entlang ihnen nach, bis sie stillstanden an einer Stelle des Gartens, der einzigen, die noch mit besonderer Sorgfalt gepflegt war.

Hier standen zwischen Blumenbeeten dunkle Cypressen und eine Bank, und mehr vermochte ich von meinem Standpunkt aus zunächst nicht zu sehen.

Die beiden Diener halfen dem alten kranken Herrn aus dem Wagen heraus, sie reichten ihm die Krücken, stützten ihn mit ihren Armen und trugen ihn mehr, als sie ihn führten, nach jener Bank. Dort ließen sie ihn nieder, schoben ihm weiche Polster unter den Rücken und einen Schemel unter die Füße. Nachdem der eine sodann den Korb, der mit Blumen gefüllt war, geöffnet und ihn im Bereich seiner Hände niedergestellt hatte, zogen sie sich beide ehrerbietig zurück.

Da saß nun mein Vater allein, ich konnte mich auf den Zehen näher heranwagen, und nun sah ich, wie er Blumen und einen Kranz mit zitternder Hand aus dem Korb nahm und sie auf einen kleinen Hügel niederlegte, an dessen Fuß die Bank stand und den mir die Cypressen bisher verborgen hatten. Er war mit Felssteinen umfaßt, von Epheu umwuchert; ein Rosenstock stand darauf und ein marmornes Kreuz. Mein Vater saß wieder ganz still, er hatte die Hände gefaltet und blickte mit verklärtem, wehmüthig sehnsüchtigem Blick auf den Hügel und das Kreuz. Die Sonnenstrahlen, die durch das Gezweig brachen, warfen gaukelnde Lichter auf den Hügel und umflossen das greise Haupt wie mit einem Glorienschein.

O, nun begriff ich’s, der Hügel mit dem Kreuz darauf, er war das Grab meiner Mutter, und heute, heute war ihr Geburtstag. Wie drängte es mich, mich darüberzustürzen, die heilige Erde mit Thränen zu benetzen, meine heiße Stirn an dem Marmor zu kühlen, mich zu ihr zu betten zum letzten, alles sühnenden Schlaf!

Wie, ich, der Mörder, zu seinem Opfer? Durfte ich das? Durfte ich die fromme Andacht des alten Mannes durch meinen Anblick entweihen? War nicht meine heimliche Gegenwart schon eine Entweihung des Orts, ein Hohn auf des Vaters Schmerz? –

Und doch sah er so mild aus, der Greis, wie ein Heiliger, und die Heiligen verzeihen!

Eine Thräne schimmerte in seinem Auge, und auch mir drängten sich Thränen heiß herauf aus der beklemmten Brust. O, daß ich sie weinen dürfte zu seinen Füßen, daß ich ihm Luft machen dürfte, dem verzweifelten Schrei, der mir schluchzend fast die Kehle sprengte: „Vater!“

Hatte ich’s gerufen? Ich weiß es nicht. Ganz plötzlich legte sich eine Wolke vor die Sonne, die gaukelnden Lichter erloschen, tiefer Schatten senkte sich auf den Hügel, auf meinen Vater, auf das ganze weite Gefild, und aus der Wolke klang es wie ferner Donner auf mich herab: „Hebe Dich fort, Verfluchter!“

Da erfaßte mich haarsträubendes Entsetzen, und wie Orestes, der Muttermörder, über dem die Furien ihre Geißel schwangen, stürzte ich fort, an den herbeieilenden Dienern vorüber, sie fast über den Haufen rennend, über die Hecke, fort, nur fort!

„Erwin!“ – so glaubte ich hinter mir eine schwache zitternde Stimme zu vernehmen.


7.

Fort, nur fort, so weit die Welt ist, fort! Aber für die Meerfahrt reichte meine Barschaft nicht aus, und der nächste Hafen, den ich hätte erreichen können und wo man mich vielleicht an Bord genommen hätte, wenn ich mit meiner Hände Arbeit die Kosten der Fahrt bestritt, lag zu nah bei meiner Heimath. Viele kannten mich dort, und wenn auch nicht, so mußte ich meine Papiere vorweisen und der Name Klaritz war an der nordischen Küste weithin bekannt, auch meine That war dort noch im frischen Gedächtniß der Menschen. Südwärts, in entgegengesetzter Richtung mußte ich ziehen, wo andere, fremde Menschen wohnten, freiere Sitten und Gebräuche herrschten, wo man’s mit den Papieren, dem Namen nicht so genau nahm. So bildete ich mir ein, und unter fremdem Namen schlug ich mich, wie ein Verbrecher, durch die Lande, hier und dort durch gelegentliche Arbeit mein Brot verdienend, nie muthig genug, dauernd in einem Dienst zu bleiben, zuweilen auch von den Wohlthaten mitleidiger Menschen mich nährend, bis tief in die Schweiz hinein.

[863] Als ich in katholisches Land kam und oft feierlichen Prozessionen von Mönchen und Wallfahrern begegnete, ihre frommen Gesänge vernahm und die heiligen Gebräuche wieder sah, die mich an meine Kindheit gemahnten, da kam mir wohl auch der Gedanke, in ein Kloster zu treten. Dort, sagte ich mir, erhältst du einen andern Namen, dort findest du Ruhe und Frieden; und wenn ich mich dann mit der Menge auf die Kniee warf und mich bekreuzend die Gebete, wie ich sie einst gelernt, wiederholte, da bildete ich mir ein, ich sei reif zu solchem Los. Aber war nicht diese Einbildung schon ein Beweis des Gegentheils? Durfte ich ein Los begehren, das Mira sich erwählt? Nein, wandern mußte ich, unstät wie jener, der den Herrn von seiner Schwelle stieß, bis Gott selbst mir das Ziel setzte, und so zog ich weiter, tiefer ins Gebirg hinein, wo Eis und ewiger Schnee die Berge deckt und an den kahlen Felszacken kein Halm sprießt und die Ströme zu Gletschern erstarren.

Da, als ich über den Mont Cenis wollte, verließen mich plötzlich Muth und Kraft. Ich hatte mich bei geringer Nahrung überarbeitet beim Ausgraben einer Hütte, die durch einen Lawinensturz verschüttet worden war im Thal auf der italienischen Seite. Nur ungern hatte man mich ziehen lassen, denn es gab dort noch genug zu thun, auch die Eisenbahnlinie war unterbrochen und es fehlte an Arbeitskräften. Die Passagiere der Züge mußten umsteigen, eine Strecke zu Fuß zurücklegen, und eben das war’s, was mich forttrieb. Ich wußte, daß in dieser Zeit viele Norddeutsche die Gegend durchreisten, und vor einer Begegnung mit meinen früheren Landsleuten scheute ich mich. Darum schlug ich mich tiefer ins Gebirg und wanderte die alte, verlassene Straße hinauf.

Hier an einer Stelle, wo ich mich niedergelassen hatte, von welcher der Hang nach der einen Seite steil, fast senkrecht abfiel in schwindelnde Tiefe, daraus gedämpft das Rauschen eines Wildbachs zu mir herauftönte, während rings herum die Bergriesen sich thürmten, hier in der schauerlichen Einsamkeit kam es über mich: wie klein ist doch der Mensch im Vergleich zu diesen Riesenwerken der Schöpfung, er, der sich ihr Herr dünkt! Was ist er mehr als ein winziges Gebilde des Zufalls, in die Welt geschleudert wie jene? Aber während sie feststehen in ihrer steinernen Majestät und mit eisbedeckter Stirn dem Lauf der Zeiten trotzen, wird er rastlos umhergetrieben von den Launen des Schicksals, heute erhoben und morgen zu Boden geschmettert, bis ihn früher oder später die kühle Erde deckt oder der kalte Schnee, wie die Bewohner jener Hütte im Thal. Sie hätten ihr elendes Leben wohl gerne noch weiter geführt, aber ich, was soll ich noch hier? Und wenn keine Lawine niederstürzt, mich zu begraben, ist nicht der Abgrund vor mir auch ein Grab, so gut wie jedes andere? Einer weniger von Millionen! Wer fragt danach, wen stört es? Die Berge stehen so fest wie vorher, aber das ist es, was der Mensch vor jenen Schöpfungskolossen voraus hat, der freie Wille, durch den er, wenn er’s für gut findet, seinem Dasein selbst ein Ziel setzt.

Mit solchen Gedanken beugte ich mich tiefer über den Abgrund, ein eisiger Hauch wehte von drunten zu mir herauf, der mir wohlthat; immer stärker drang das Brausen des Wildbachs in mein Ohr, es betäubte mich.

Schon faßte mich der Schwindel, da war mir’s plötzlich, als riefe hinter mir eine Stimme, eine schwache zitternde Greisenstimme: „Erwin!“ und ich fuhr zurück.

„Erwin!“ Das war meines Vaters Stimme, die Stimme des alten, gelähmten Mannes, der täglich im warmen Mittagssonnenschein an dem Grab seines Glücks saß, den Hügel mit frischen Blumen schmückte und mit gefalteten Händen, wie ein Heiliger verklärt, geduldig abwartete, was der Himmel über ihn beschlossen und wann es ihm gefiele, ihn abzurufen und wieder zu vereinigen mit der, die er auf Erden am meisten geliebt.

Und das Dasein, das er, der Schuldlose, der ein langes Leben voll schwerer, redlicher Arbeit hinter sich hatte, so geduldig trug, das wollte ich, der Schuldbeladene, abkürzen und feige von wir werfen?

Was hatte ich denn gethan, meine Schuld zu sühnen, mir den Tod, der als ein Erlöser nach des Tages Arbeit den Pflichttreuen abruft, zu verdienen? War meine Arbeit denn gethan, hatte ich auch nur einen ernsten Versuch gemacht, den Weg der Pflicht, den ich einmal verlassen, wieder zu finden, der Pflicht gegen die Menschheit, gegen den Schöpfer meiner Kraft und gegen mich selbst, jener Pflicht, deren muthige Erfüllung allein das Vergangene auslöschen und selbst wieder gutmachen konnte? – Nein, wo sich mir eine Gelegenheit dazu bot, war ich ihr in falscher Scham entflohen, und nun wollte ich der Pflicht des Lebens selbst entfliehen, diese neue Schuld wollte ich auf mein Gewissen, diese neue Schmach auf mein Geschlecht, auf das greise Haupt meines Vaters laden? Nein, nie! Dank, Vater, daß Du mich gewarnt, daß Du mir den rechten Weg gezeigt hast, den ich fortan wandeln will.

Ganz entsetzt floh ich von der Stelle.

Ach, nun erkannte ich, wie viel mir noch zur rechten Buße fehlte, wie alles Bisherige nur Selbstbetrug gewesen war. Und ich beschloß, ein neues Leben zu beginnen, meine Kraft, die ich in ziellosem Umherschweifen vergeudet hatte, fortan der Menschheit dienstbar und nützlich zu machen, wo und wie immer es sei. Drunten im Thal gab es Arbeit, zu ihr, der ich feige entflohen war, wollte ich muthig zurückkehren.

Nur den alten Namen wollte ich zuvor begraben, wie ich den alten Menschen begrub. Der sollte todt sein für diese Welt und als ein neuer, besserer in ihr wieder auferstehen.

Hier an der Stätte, wo schon so mancher, wie die am Weg stehenden Kreuze und Bildstöcke bewiesen, gegen seinen Willen den Tod gefunden hatte, wollte ich mich mit Willen noch lebend begraben, und doch sollte es scheinen, als hätt’ ich’s nicht selbst gewollt, als wäre ich verunglückt wie jene.

Meinen Paß aus dem Zuchthaus, die Papiere, die meine Herkunft bezeugten, meine Uhr und den geringen Rest meiner Barschaft steckte ich in die Taschen der Kleider, die ich im Bündel mit mir trug, damit es nicht scheine, als hätten Räuber mich überfallen. Dann ließ ich das Bündel den steilen Hang vorsichtig so hinabgleiten, daß es an einer Felszacke hängen blieb. Dort mochte es, wenn es von einem Vorübergehenden entdeckt wurde, dafür zeugen, daß Erwin von Klaritz hier abgestürzt, daß sein Leichnam irgendwo drunten in der grausigen Tiefe zerschmettert liege.

Ich aber schritt rüstig, denn alle meine Kräfte waren mir wiedergekehrt, des Weges zurück und meldete mich drunten bei der Direktion zur Arbeit an dem verschütteten Bahnkörper, wo ich mit offenen Armen aufgenommen wurde.

Es dauerte Wochen, bis das letzte Hinderniß beseitigt und die Linie wieder frei war. Ich hatte wacker dabei mitgeholfen. Die Beamten, die dies wohl bemerkten, fragten mich, ob ich schon einen andern Dienst habe. Ich verneinte; da bot man mir, weil es eben an Kräften mangelte, an, als Eisenbahnarbeiter Aushilfsdienste zu thun, und ich nahm’s an. Freilich, Papiere hatte ich keine, ich gab vor, sie seien mir abhandengekommen, nannte mich Johann Stiller, meine Heimath, mein Alter gab ich richtig an. Man forschte nicht weiter, man brauchte eben Leute, und zudem war ich ja nur aushilfsweise angestellt.

Ich war, wie mein Name besagte, ein stiller Mann, versah meinen Dienst pünktlich, lernte mit Leichtigkeit die verschiedensten Verrichtungen, zu denen man mich gebrauchte.

Nach verhältnißmäßig kurzer Zeit wurde mir die Bedienung einer Weiche anvertraut, und als der schon bejahrte Bahnwärter in dem Häuschen, vor dem Sie mich gesehen haben, starb, erhielt ich seine Stelle.

Immer und bis heute bin ich nur ein Hilfsarbeiter, aber aus dem provisorischen Verhältniß wurde eben stillschweigend ein dauerndes; die Beamten mochten mir wohl einen Theil meiner Schicksale, so sehr ich mich auch zusammennahm, von den Zügen ablesen, aber sie drangen nicht weiter mit Fragen in mich.

Nun hatte ich, was ich wollte. Vergessen von den Meinigen, von allen, die die Kunde meines Todes erreicht hatte, und doch von dem großen Strom des Lebens täglich, stündlich umbraust, wollte ich lernen, mich selbst, meine Vergangenheit vergessen.

Wie schwer das ist, das hat mir Ihr Anblick gezeigt, des ersten bekannten Gesichts, das ich nach vielen Jahren wiedersah, obgleich ich oft, wenn die Schnellzüge in der Reisezeit an mir vorüberflogen oder auch einige Minuten still hielten und ich mit geschulterter Fahne regungslos auf meinem Posten stand, heimlich nach den Wagenfenstern spähte.

Keinen hab’ ich, keiner hat mich erkannt, nur Sie, die Sie ja auch mein innerstes Wesen früher erkannt als die anderen und als ich selbst und mich oft gewarnt haben vor mir selbst.

[878]
Das Häuschen, das mir Schutz bietet vor den Unbilden der Witterung in der Zeit, da ich nicht draußen im Dienst beschäftigt bin, ist gerade groß genug für mich und meine Bedürfnisse. Es enthält einen Raum zum Schlafen mit einer einfachen Bettstatt, der besten, in der ich seit lange geruht habe; eine Küche mit einem kleinen Herd, auf dem ich mir selbst die bescheidenen Vorräthe zubereite, die ich mir immer für die ganze Woche vom nahen Markt hole, eine Kammer, wo ich sie aufbewahre, und einen Bodenraum für den Holzbedarf, den mir die Eisenbahndirektion liefert. Vor dem Haus ist ein kleines Gärtchen, in dem ich einige Gemüse und Blumen züchte, und daneben ein kleiner Hügel mit einem Kruzifix darauf, wie man sie hier in der Umgegend überall findet. Für mich aber hat der Hügel mit dem Kreuz noch eine besondere Bedeutung; er erinnert mich an das Grab im Garten von Groß-Stegow, und damit er diesem noch ähnlicher werde, hab’ ich ihn mit Felssteinen und Epheu eingehegt und einen Rosenstock darauf gepflanzt, der freilich nur kümmerliche Blüthen trägt. Sobald aber in meinem Gartenbeet ein paar Blumen aufgehen, was auch selten genug geschieht, so winde ich einen Kranz daraus und lege ihn dort nieder.

Mein Dienst ist ein schwerer. Ich muß bei Tag und bei Nacht die meiner Aufsicht zugewiesene Bahnstrecke begehen und nachsehen, ob das Geleise frei und in gutem Zustande ist, „denn die Elemente hassen das Gebild aus Menschenhand“, zumal in unserer Gegend. Ich muß rechtzeitig die Signale aufstecken und die Weiche bedienen für die Züge, die sich hier kreuzen, und das Wohl vieler Menschenleben liegt in meiner Hand, in derselben Hand, deren sinnloses Wüthen einst ein Menschenleben zerstörte, das mir theurer war als das von Tausenden. Ist das nicht mehr, als ich verdiene? Ich versehe daher meinen Dienst auch mit der äußersten Pünktlichkeit und Gewissenhaftigkeit, obwohl meine Kraft nicht mehr die alte ist. Die Unruhe, das Wanderleben haben meine Gesundheit, die ja doch jetzt in meinen Mannesjahren die allerstärkste sein sollte, angegriffen. Ich empfinde oft ein Zerren in den Gliedern, ein Stechen auf der Brust; ich muß viel husten und fühle mich manchmal zum Tode erschöpft. Ein Arzt ist hier nicht in der Nähe, auch brauch’ ich keinen; die alte Kräuterfrau im Dorfe hat mir einen Thee gegeben, den ich mir selbst koche und der mir die Schmerzen lindert, so daß ich mich stets wieder aufraffen und meinem Dienst nachkommen kann.

Und doch hat mich auch hier der Versucher noch einmal umgarnt.

Hier, wo die Kurierzüge oft wegen der Kreuzung minutenlang stillhalten, kommt es häufig vor, daß die Passagiere überflüssige Gegenstände auf den Bahnkörper werfen, und darunter befinden sich manchmal auch Zeitungen. Ich pflege das alles aufzulesen und die Blätter, ohne mich weiter um ihren Inhalt zu bekümmern zum Anzünden meines Herdfeuers zu benutzen. Einmal aber, es ist noch gar nicht so lange her, warf ich doch einen Blick in solch ein Zeitungsblatt, und zwar, weil ich beim Aufheben desselben zufällig bemerkt hatte, daß es aus meiner Heimath kam. Es war eine Nummer der Amtszeitung unseres Kreises. Wer mochte sie hier mit andern hingeworfen haben, ohne eine Ahnung, daß sie einem Landsmann in die Hände geriethe? Es war doch ein seltsamer Zufall, wenn es nicht mehr als ein Zufall war!

Nachdem ich die Aufschrift erkannt hatte, konnte ich dem Drang nicht widerstehen, auch weiteres von dem Inhalt zu lesen. Ich las die erste Seite. O, wie fremd berührte mich alles, was da gedruckt stand von Staatsverträgen, Fürstenbesuchen, Volksversammlungen, von dem, was man zusammengefaßt „Politik“ nennt. Es waren große Veränderungen in meinem Vaterland, im ganzen Deutschland vor sich gegangen, von denen ich wohl hier und da ein Wort reden gehört hatte, welche die ganze Welt in Athem hielten und mich, der ich ja todt war für diese ganze Welt, jetzt so kalt ließen.

Dann las ich von Gemeindeangelegenheiten und Familienereignissen, Festen der Freude und der Trauer. Kaum hier und dort noch ein Name von bekanntem Klang, der mir auffiel, ohne daß ich eine bestimmte Erinnerung daran zu knüpfen vermocht hätte. Wie weit lag sie hinter mir, diese Welt mit ihren pomphaft feierlichen Gebräuchen, ihren künstlich zurechtgemachten Begriffen, ihren heimlichen Intriguen, ihren Schmerzen und Freuden, ihrem Hader und Gezänke um ein Nichts! Ich mußte lächeln, und schon wollt’ ich das Blatt mit den andern ins Feuer werfen, da stieß ich auf der letzten Seite, im amtlichen Anzeigetheil, auf ein Inserat mit der fettgedruckten Ueberschrift: „Aufruf an einen Verschollenen.“

So wenig bedarf es, um einen Todten, wie ich mich eben noch nicht ohne Genugthuung genannt hatte, ins Leben zurückzurufen und ihn mitten in das Getümmel, das ihm eben noch so verächtlich schien, hineinzuschleudern.

Ich las meinen Namen, nicht den, welchen ich jetzt trug, sondern den, welchen ich einst getragen hatte, den alten Namen „Klaritz“, und nun fing ich den Aufruf von vorne zu lesen an.

Er lautete, soweit er mir im Gedächtniß geblieben ist:

„Aufruf an einen Verschollenen!

Nachdem der hochedle Herr Hubert von Klaritz, Majoratsherr auf Groß-Stegow, seinem hochseligen Herrn Vater nach kurzer Frist im Tode nachgefolgt ist, so ist von dem Mannesstamm dieses Hauses als letzter Sproß und rechtmäßiger Erbe des Majorats wie der damit verbundenen Einkünfte, Rechte und Pflichten der jüngere Bruder des Verstorbenen, Erwin von Klaritz, (hier folgten die Daten meiner Geburt, meiner Verurtheilung, Freilassung, meines Verschwindens und muthmaßlichen Todes) zu betrachten.

Da eine amtliche Bestätigung des Todes dieses Erben nicht vorliegt, auch die Leiche desselben seinerzeit nicht aufgefunden werden konnte, desgleichen sein dermaliger Aufenthaltsort dem zuständigen Gericht unbekannt ist, so ergeht an ihn, wenn er noch leben sollte, die Aufforderung, seine Rechte innerhalb einer Frist von sechzig Tagen, vom Datum dieses Aufrufs an gerechnet, bei dem Gericht persönlich oder schriftlich unter Vorlage der seine Identität bezeugenden Papiere geltend zu machen, widrigenfalls derselbe gesetzlich als todt, der direkte Mannesstamm Derer von Klaritz als erloschen erklärt würde und das Testament des Erblassers, welches den Verkauf des Besitzes unter gewissen Vorbehalten, die Theilung des Erlöses sowie des vorhandenen Barvermögens unter die von ihm aufgeführten Personen und Korporationen, insbesondere die Auszahlung eines bedeutenden Legats an das Kloster der Nonnen du sacré coeur auf Trinita de’ Monti zu Rom, wo seine im Vorjahr verstorbene Verwandte von mütterlicher Seite und einstige Braut, weiland Casimira, Edle von Gliwitzka unter dem Namen ‚Schwester Magdalena‘ seiner Zeit den Schleier genommen hat, anordnet, rechtsgültig in Kraft träte.“

Es folgte das Datum, das nur wenige Tage zurücklag, die Angabe des Orts und die nähere Bezeichnung des Gerichts, von welchem der Aufruf ausgegangen war.

Eine Weile starrte ich, keines bestimmten Gedankens fähig, auf das inhaltsschwere Blatt. Mein Vater todt und mein Bruder und Mira – – und ich der einzig Ueberlebende, der Erbe, der Herr von Groß-Stegow –, wenn ich wollte! Es war zu viel, als daß es mich nicht verwirrt und betäubt hätte.

Sollte ich sie beklagen, diese Todten, meinen Vater, der das Ziel seiner Sehnsucht erreicht hatte, mit der todten Mutter wieder vereinigt war, und den Bruder, den verkrüppelten Kranken, den diese so sehr geliebt und der nun in verklärter, vollkommener Gestalt bei ihr weilte, und Mira, die sich auf den Namen einer Büßenden getauft hatte und nun wie diese eingegangen war zum ewigen Frieden, vereinigt mit ihrem himmlischen Bräutigam und vereinigt mit den Eltern, dem Bruder in einer Gemeinschaft, die kein Haß, keine Eifersucht mehr stört? – Nein, um sie durfte ich nicht klagen!

Aber ich, der Ueberlebende, hatte ich nicht die Pflicht, ihre Gräber zu pflegen; durfte ich das dem Fremden überlassen, der das Gut kaufte und gleichgültig, mißmuthig vielleicht dem Vorbehalt des Testaments, der sich hierauf bezog, nachkam? War es nicht meine Pflicht, das Erbe meiner Väter anzutreten, die [879] Scholle, die sie bebaut hatten, zu schützen, zu fördern, zu vermehren, wenn und so lang es in meiner Kraft stand, ihren Stamm vor dem Erlöschen zu bewahren, den Namen, den ich geschändet und von mir geworfen hatte, zu neuen Ehren zu bringen, mein Gedächtniß zu reinigen von der Schmach, mit der ich es belastet, und es gereinigt glücklicheren Enkeln zu hinterlassen, wenn man mich neben den Eltern und dem Bruder zur letzten Ruhe einbettete? –

Es war dunkel geworden, unheimlich flackerte und prasselte das Herdfeuer, vor dem ich saß; sein Rauch kräuselte und ballte sich zu gespensterhaften, teuflischen Fratzen, die an den Wänden und an der Decke entlang huschten, tiefe Finsterniß lag in den Ecken des engen Raumes.

„Thu deine Pflicht! Wolle nur!“ raunte mir der Böse ins Ohr. „Die Papiere zu beschaffen, wird dir ein leichtes sein. Wenige leben noch, die dich gekannt haben, sie werden dir die Identität mit ihrem Eid bezeugen, und bist du erst Herr des Guts, so werden sie rasch vergessen, was früher geschehen ist, sie und alle, denen es aus zweiter Hand überliefert wurde. Was aber kannst du erst thun, wenn du Herr von Groß-Stegow bist, welche Fülle von guten, verdienstlichen Werken an den Armen, der Gemeinde, dem Staat, Wohlthaten, die dir im Himmel angeschrieben werden und dir Ehre bringen auf Erden und Liebe und Dankbarkeit bei den Menschen!“ –

Und noch immer saß ich vor dem flackernden Herdfeuer und starrte auf das Zeitungsblatt, das meine Hände krampfhaft umklammert hielten; ein fürchterlicher Kampf tobte in meiner Brust. – Da schlug plötzlich draußen das Glockenzeichen an, das die Abfahrt des Zugs von der nahen Station meldete. Ich sprang auf, zerknitterte das Blatt, das sich an meine Hände festzukleben schien, und schleuderte es in die Flammen, die hoch aufloderten. Dann eilte ich mit der Laterne, die ich rasch entzündete, hinaus. Ich hatte kaum noch Zeit, das Signal aufzuziehen, die Weiche zu stellen, meinen Posten einzunehmen, da brauste der Zug an mir vorüber.

Der kalte Angstschweiß stand mir auf der Stirn, zum erstenmal, seit ich im Dienst war, hätte ich fast meine Pflicht versäumt, und worüber –? Mir graute, wenn ich dessen gedachte, was mich so erfüllt hatte, daß ich die Stunde darüber vergaß, und dessen, was hätte geschehen können, wenn mich die Glocke nicht aus dem Taumel geweckt hätte, wie einst die Osterglocken den Faust. Thränen, die ich lange nicht geweint hatte, traten auch mir in die Augen, nicht das Glockensignal mit seinen paar eintönigen Noten, die ich stündlich vernahm, war es für mich, sondern ein Ton wie von siegenden Engelschören, die eine Seele dem Himmel gerettet.

Als ich in mein Häuschen zurückgekehrt war, fand ich nur noch Gluthen im Herd vor, obenauf lag die Asche jener Zeitung, und auf sie, auf die Asche des Majorats von Groß-Stegow, stellte ich nun den Topf, in dem ich mir erleichterten Herzens meine bescheidene Abendsuppe bereitete. Sie schmeckte mir wie ein Siegesmahl dem Kämpfer nach gewonnener Schlacht.

Dann holte ich vier Kerzen aus meiner Vorrathskammer, ging hinaus und steckte sie auf die vier Ecken des Kreuzpostaments, streute, was ich von Blumen in meinem Gärtchen zusammenbrachte, auf den Hügel und hier hielt ich meine Todtenfeier.

Ist’s nicht gleichgültig, wo das begraben liegt, was der Mensch, wenn er stirbt, auf der Erde zurückläßt? Und so lange er lebt und wirkt: ist’s nicht gleichgültig, wo der Mensch seine Pflicht thut und unter welchem Namen, wenn er sie nur thut? – – – – – – – – – – – – –

Eine größere Zeitpause trennte das im vorstehenden Kapitel Enthaltene von dem folgenden, das nur aus wenigen Blättern noch bestand, die den Schluß dieser Bekenntnisse bildeten.

Das Papier war ein anderes und auch die Schrift war verändert, sie war vielfach verzerrt und schwer zu entziffern, wie wenn jemand mit hastiger, oft stockender Feder seinen letzten Willen niederschreibt. An manchen Stellen brach das Geschriebene jäh ab, um dann ohne die rechte Vermittelung neu zu beginnen, und auch sonst machte sich im Zusammenhang manche Lücke bemerkbar, die ich hier ergänzt und ausgefüllt habe. Man sah, daß ein Kranker, ein Sterbender die Feder geführt mit der letzten Kraft seines Willens, dem die körperliche Kraft oft und endlich ganz versagt hatte, so daß das Geleitschreiben der Eisenbahndirektion, durch die ich diese Papiere empfing, ihren eigentlichen Schluß bildet.


9.

Sie haben es wohl aus den Zeitungen erfahren, welche Verheerungen die Elemente in diesem Frühjahr in unserer Gegend angerichtet haben. Plötzliche Schneefälle führten Ueberschwemmungen herbei, die alles, was Widerstand leistete, unterwühlten und mit fortrissen. Wir bei der Eisenbahn hatten schwer zu thun, um den Verkehr aufrecht zu erhalten. Die Steigung der Bahn auf der mir überwiesenen Strecke ist eine bedeutende und die Züge, die von unten herkamen, brauchten nicht selten eine Schiebmaschine, um sich durchzuarbeiten. Eine solche wurde ihnen oft auf der letzten Station beigegeben, oft auch nachträglich reklamirt. So kam einmal, als der Zug aufwärts meinen Posten schon passirt, wohl auch nach meinem Ermessen die nächste Station schon ohne Hilfe erreicht hatte, eine solche Maschine nachgedampft. „Befohlen!“ schrie mir der Führer im langsamen Vorbeifahren zu. Da muß wohl, dachte ich mir, der Zug, als er an mir vorbei war, also zwischen mir und der nächsten Station, stecken geblieben sein, und ich mußte annehmen, daß das dort bekannt und von dorther die Hilfe bestellt sei. Ich wußte aber auch, daß der nächste thalwärts fahrende Zug dort um diese Zeit fällig sei, und indem ich mir darüber meine Gedanken machte, ertönte das Alarmzeichen, das mir befahl, jedes Fahrzeug, das sich auf der Strecke befand, anzuhalten und wieder einen Augenblick später das Glockensignal, das die Abfahrt des fälligen Zuges meldete.

„Da muß ein Irrthum obwalten, ein Mißverständniß, das von den schlimmsten Folgen sein kann!“ durchzuckte es mich blitzschnell. „Die Hilfsmaschine ist überflüssig, sie rennt vielleicht in den Zug, der von oben kommt, und“ – – Ich dachte nicht weiter, sondern rannte der Maschine nach, die eben an mir vorbeigefahren war. Ein furchtbares Schneegestöber herrschte, ein eisiger Wind wehte von den Bergen, ich stürzte, so schnell mich die Füße trugen, vorwärts auf dem Geleise. „Du kommst zu spät,“ sagte mir die Vernunft, „und wenn die Maschine bei dem Wetter und der Steigung auch nur langsam vorrückt, du wirst sie nicht erreichen, nicht mehr rechtzeitig erreichen.“ Aber die Pflicht trieb mich trotzdem weiter; die Bahn macht hier überdies verschiedene starke Biegungen, so daß die Begegnenden sich, auch abgesehen vom Wetter, nicht früher sehen können, als bis sie aneinander sind und das Unglück nicht mehr zu vermeiden ist. Aber das war’s eben, was mich hoffen ließ, daß es mir doch noch gelingen könnte, die Maschine zu erreichen, ehe es geschehen war, denn ich kannte jeden Pfad an den Berghängen und konnte so die Bogen abschneiden. Freilich waren es böse und heute bei dem Schneewehen doppelt beschwerliche und gefährliche Pfade, aber durch den heulenden Sturm glaubte ich schon das Wehklagen der Hunderte zu vernehmen, Männer, Frauen und Kinder, die mit zerschmetterten Gliedern entsetzlich verstümmelt sich am Boden krümmten oder zwischen den Trümmern der Wagen festgekeilt waren. Das spornte mich zu fast übermenschlicher Hast, ich glitt aus, stürzte, raffte mich wieder auf, kletterte und rannte weiter mit fliegendem Athem und keuchender Brust. Da, da löste sich aus dem Nebel und dem sinnverwirrenden Gewirbel der Schneeflocken etwas Schwarzes, eine schwarze Masse, ich hörte das langsame, stoßweise Stöhnen des Schlots: das war die Maschine. Wie ein Wahnsinniger brüllte ich: „Halt! Halt! Zurück!“ daß mir der Schrei fast die Lungen sprengte, aber im nächsten Augenblick war ich vorne bei der Maschine und sprang auf. „Zurück!“ schrie ich dem erschrockenen Führer zu, „zurück, der Zug kommt, alles ist verloren!“ Ich griff selbst nach dem Hebel, jener kam mir zuvor, einen Augenblick, da stand die Maschine keuchend, in allen Fugen knarrend, dann fuhren wir in rasender Schnelligkeit zurück. An meinem Wärterhaus dämpfte der Führer, dem ich inzwischen eilends das Nähere mitgetheilt hatte, den Lauf seines Fahrzeugs soweit, daß ich abspringen konnte. Ich eilte zur Weiche und dann auf meinen Posten, wo ich fest und regungslos stand. Da, nur einen Augenblick später, wenige Minuten vielleicht, vernahm ich das Schnauben und Stampfen des nahenden Zugs. Er brauste an mir vorüber und ich zählte noch die Wagen, die mit Passagieren überfüllt waren, sah durch die überlaufenen Fensterscheiben die dunklen Gestalten der Menschen, die keine Ahnung hatten von der furchtbaren Gefahr, in der sie geschwebt hatten, und dann vergingen mir die Sinne, ich brach zusammen.

Der Beamte, der mich so fand, ließ mich ablösen und ins Krankenhaus schaffen. Hier liege ich nun und schreibe diese Zeilen, nachdem ich lange in Fieberphantasieen gelegen habe; Brustfieber [882] nennen es die Aerzte und sie schütteln bedenklich den Kopf auch jetzt noch, wo ich wieder bei voller Besinnung bin, nur schwach, so schwach, daß ich kaum imstande bin, die Feder zu halten. Trotzdem habe ich mir Papier und Schreibzeug geben lassen. Nicht vergessen, nicht ganz vergessen will ich sein! Sie sollen, Sie müssen es wissen und es wieder erzählen zu Hause in unserer Heimath, wie ich gebüßt, wie ich das Vergangene gesühnt habe. Der Direktor hat mich besucht und noch mancher andere Beamte, auch etliche von den Passagieren, die in jenem Zug saßen, die ich gerettet habe. Denn es ist so. Der zu Thal fahrende Zug hat zwar im letzten Augenblick vor der Abfahrt, als schon das Zeichen gegeben war, zufällig noch einen kurzen Aufenthalt an der Station gehabt, aber doch bin ich es, der den Zusammenstoß verhindert hat, welcher ohne mein Eingreifen unvermeidlich gewesen wäre. Sie drückten mir alle, zum theil unter Thränen, die Hand, und der Direktor hat zu mir gesagt: „Sie sind ein braver Mann, Sie haben stets Ihre Pflicht gethan, in diesem Fall aber haben Sie noch mehr gethan, Sie haben Hunderten von Menschen das Leben gerettet.“ Hunderten! Habt ihr’s gehört, ihr seligen Geister drüben im Jenseits, hast Du’s gehört, Vater, Bruder, Mira, und Du, theure geliebte Mutter, daß ich für Dein Leben, für das eine, das ich zerstört, der Menschheit Hunderte zurückgegeben habe? O, ich bin stolz auf meine That, und doch fließen mir, wenn ich daran denke, unaufhaltsam die Thränen aus den Augen! O wie süß ist es, zu weinen, so zu weinen!

Der Krankenpfleger – ich habe einen Wärter, der mich aufs liebreichste pflegt – will nicht, daß ich so viel schreibe, weil es mich aufregt, wie er sagt. Des Abends kommen auch die Fieberphantasien wieder, aber es sind keine häßlichen Bilder mehr, wie im Anfang, da mir immer das Eisenbahnunglück vor der Seele schwebte, das ich mich zu verhindern bemühte. Im Traum sehe ich meine Eltern, meinen Bruder und Mira. Sie halten sich an den Händen und blicken so mild, so freundlich auf mich herab, als wollten sie sagen: „Komm zu uns! Wir erwarten Dich!“

Auch meine Mutter, die ich sonst immer nur mit dem Ausdruck des Todes in dem verglasten Auge sah, lächelt mir jetzt versöhnt und freundlich zu.

Ich komme bald, bald! Meine Kräfte werden schwächer, es geht mit mir zu Ende – ich kann nicht mehr.




Hiermit endet das Manuskript. Als ich es gelesen hatte und die Augen wieder emporschlug, dehnte sich vor mir das blaue Meer und über mir lachte der blaue Himmel Italiens. Aber all die sonnige Bläue vermochte mir Geist und Herz nicht zu erheitern wie sonst. Ein trüber Schleier schien sich mir über die herrliche Natur zu breiten, mein Geist weilte hoch im Norden, in der weiten, von Kiefern- und Tannenwäldern durchzogenen Ebene, die der Spiegel des Haffs begrenzt, und alle Empfindung meines Herzens gehörte dem Mann, der dort seinen Lebenslauf voll froher Hoffnung in einem Schloß begonnen und ihn fern von der Heimath im Krankenhaus, mit sich und seinem Schicksal versöhnt, beendet hatte, der lange Zeit für mich und die Welt ein Todter gewesen war, bis er gleich einer Erscheinung bei jenem einsamen Wärterhäuschen vor mir auftauchte, und der mich nun zur Vollstreckerin seines letzten Willens gemacht hat, welchen ich hiermit erfülle.