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Eine Denkschrift von Friedrich von Gentz über die erste Baierische Ständeversammlung

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Textdaten
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Autor: Alfred Stern
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Titel: Eine Denkschrift von Friedrich von Gentz über die erste Baierische Ständeversammlung
Untertitel:
aus: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft Bd. 10 (1893), S. 331–339.
Herausgeber: Ludwig Quidde
Auflage:
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Erscheinungsdatum: 1893
Verlag: Akademische Verlagsbuchhandlung von J. C. B. Mohr
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Erscheinungsort: Freiburg i. Br.
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Quelle: Scans auf Commons
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[331] Eine Denkschrift von Friedrich von Gentz über die erste Baierische Ständeversammlung. Die nachfolgende Denkschrift Friedrichs von Gentz ist im Auftrage Metternich’s vom 20. bis 24. Februar 1819 ausgearbeitet worden. Dies Datum ergibt sich unwiderleglich aus F. von GentzTagebüchern II (1873), p. 307; 308: „Den 20. An einem Aufsatz für Metternich über die Vorfälle in der Baierischen Ständeversammlung gearbeitet“ – – – „Den 24. Das Memoire über die Vorfälle in Baiern geendigt.“ Heinrich von Treitschke, dem das Verdienst gebührt, zuerst auf Gentz’ Denkschrift aufmerksam [332] gemacht zu haben (Deutsche Geschichte II, 504) hat diese Stellen in Gentz’ Tagebüchern übersehen. Auch hat ihm die Denkschrift nur in der Copie vorgelegen, die der Legationsrath Piquot seinem Berichte an den König Friedrich Wilhelm III. vom 14. April 1819 beilegte und die Piquot selbst als flüchtig bezeichnete. Sie findet sich aber noch an einer anderen Stelle des Geheimen Staatsarchives zu Berlin (A. A. I Oesterreich. Rep. I 66 fol. 148–156) „Communications confidentielles et officielles de M. le Comte de Zichy“ in sorgfältiger Abschrift, zur Mittheilung an die Preussische Regierung bestimmt. Diese Form liegt dem folgenden Abdruck zu Grunde, wobei jedoch auf die alte Orthographie keine Rücksicht genommen worden ist. Aus Piquot’s Bericht vom 10. April ergibt sich, dass die ursprüngliche Bestimmung der Denkschrift war, durch Vermittlung des Baierischen Gesandten in Wien dem Münchener Hofe übermittelt zu werden. Dass sie diese Bestimmung erfüllt, bezeugt auch Caraman, der Französische Gesandte in Wien, in seinem Berichte an Dessoles vom 22. April 1819 (Paris. Archives du Ministère des Affaires Etrangères). Zugleich aber ergibt sich daraus, dass auch Caraman sich das Actenstück zum Zwecke der Uebersendung nach Paris hat verschaffen können. Eines fortlaufenden Commentares bedarf es nicht. Es spricht für sich selbst und wird als Ergänzung der bisher bekannten Geisteserzeugnisse von Gentz nicht unwillkommen sein.

Alfred Stern.     


Bemerkungen über die ersten Vorgänge in der Baierischen Ständeversammlung.
Geschrieben am 20. Februar 1819.

Die Baierische Ständeversammlung ist noch so neu, dass man es vielleicht unzeitig finden könnte, sich über ihren Charakter und ihre möglichen oder wahrscheinlichen Resultate ein Urtheil zu erlauben. Sie hat eben [aber?] gleich bei ihrer Entstehung eine so bestimmte und so beunruhigende Gestalt angenommen, dass man ihrer ferneren Entwicklung nicht ohne eine gewisse Bangigkeit entgegensehen kann. Unabhängig von dem lebhaften Interesse, welches wir den persönlichen Eigenschaften und Tugenden eines der allgemeinen Liebe würdigen Souveräns schuldig sind, steht das künftige Schicksal Baierns mit den Angelegenheiten Deutschlands in viel zu naher Berührung, als dass wir bei solchen Erscheinungen, wie die letztverflossenen Wochen uns darboten, mit Gleichgültigkeit vorübergehen könnten. Wenn ich hier einige Bemerkungen über die ersten Vorgänge in der Baierischen Ständeversammlung vorlege, verberge ich mir dabei keineswegs, wie unvollkommen und unreif die Data sind, auf welche [333] ich selbe gründe, und bin weit entfernt, Schlüsse daraus zu ziehen, welche die Folge der Begebenheiten leicht umstossen könnte. Ich beschränke mich auf das, was uns jetzt vor Augen liegt.

Es ist unmöglich, sich nicht zu fragen, durch welchen sonderbaren Zusammenfluss von Umständen die Baierische Regierung so schnell von der Linie, auf welcher sie vor kurzer Zeit noch stand, und welche behaupten zu wollen sie fest entschlossen schien, verdrängt werden konnte. Der Geist, der sich vom ersten Augenblicke an in der Deputirtenkammer offenbart, die Grundsätze, die man aufstellt, der Ton, in welchem man sie angekündigt hat, das alles musste in einem so wohl geordneten, so wohl disciplinirten Staate selbst den, der die Zeit und ihre Gefahren kennt, befremden. Mir wenigstens, ich bekenne es frei, waren diese Symptome in Baiern unerwartet. Ich suche sie mir selbst zu erklären; ich suche zu erforschen, was dieser kaum aus der Wiege hervorgegangenen Volksrepräsentation den Muth einflössen konnte, da anzufangen, wo andere ihres gleichen zu endigen pflegen. Nur in diesem Sinne, nicht als voreilige oder absprechende Kritik bitte ich diese Bemerkungen zu würdigen.

1. Der Baierischen Verfassungsurkunde selbst lege ich wenig oder gar keinen Antheil an den in der Deputirtenkammer vorgefallenen und ferner vorauszusehenden Auftritten zur Last. Nach meiner innigsten und unwandelbaren Ueberzeugung ist jede geschriebene, von Menschenhänden aus einem Wurfe gegossene Constitution ein gebrechliches, unsicheres, gewagtes und gefahrvolles Werk. Dies vorausgesetzt, war die Baierische Constitution unstreitig eine der besseren, die ein bis dahin nur durch Gesetze, seine eigenen und seiner Väter Gesetze, beschränkter Monarch einem aus ungleichartigen Bestandtheilen erwachsenen Staate verleihen konnte. Selbst der Theil der Urkunde, der mir gleich anfangs der bedenklichste schien, der viel zu abstracte, den Lieblingsideen des Zeitalters viel zu sehr schmeichelnde Eingang war wenigstens in so vorsichtig gehaltenen Worten abgefasst, dass mit einiger Geschicklichkeit in der Auslegung und einiger Festigkeit in der Anwendung dem von einer solchen Tafel der Bürgerrechte ein für allemal unzertrennlichen Missbrauch noch wirksam genug hatte vorgebeugt werden können. Auch die der Verfassungsurkunde einverleibten Edicte, über welche ich mir ohnehin, da sie grossentheils auf Localverhältnissen beruhen, kein strenges Urtheil erlauben dürfte, schienen mir im ganzen, wenn auch nicht fehlerfrei, doch zweckmässig und von vielen Seiten löblich.

2. Der erste grosse Keim der Uebels lag nach meiner Ansicht darin, dass die Regierung auf die Wahl der ständischen Deputirten keinen bestimmten und entscheidenden Einfluss nahm, vielmehr, wie [334] ich aus dem Erfolge schliessen muss, dieses wichtige Geschäft seinem eigenen freien Laufe überliess. Die Regierung hatte bereits in dem § 41 des Separatedictes über die Bildung der Ständeversammlung ihr freiwilliges Verzichtleisten auf jede Einmischung in das Wahlgeschäft auf eine Weise ausgesprochen, die in einer neuen und unversuchten Verfassung, in einem Lande, das nie von Volkswahlen gewusst hatte, und in einem Zeitpunkte, wie der gegenwärtige, zu weit getrieben war; dass dieser Artikel aber buchstäblich vollzogen werden sollte, hatten wohl die Freiheitsenthusiasten selbst kaum gehofft. Wohin dieses Resignationssystem geführt hat, lehren die Resultate. So viel sich aus der Ferne beurtheilen lässt, besteht die Mehrheit der Deputirtenkammer aus unbedeutenden, charakterlosen, in öffentlichen Verhandlungen ungeübten Männern. Wer aus der Masse hervorragt, und folglich den Ton angibt und angeben muss, scheint unglücklicherweise durchaus zu der Classe von Politikern zu gehören, denen alle alte Ordnung ein Greuel ist, die das Heil der Welt nur in den halsbrechenden Theorien suchen, und von welchen die baierische wie jede andere Regierung nichts als einen endlosen, durch keine Nachgiebigkeit zu entwaffnenden, mit keiner Capitulation zu erlöschenden Krieg zu erwarten hat. Die Namen einiger dieser Deputirten waren (im politischen Sinne) so übel berüchtigt, ihr Charakter als erklärte Demagogen war so vollständig anerkannt, dass man in der That erstaunen muss, wie die Regierung nicht alles aufgeboten hat, sie von der Kammer entfernt zu halten. War dies unmöglich, so hätte man ihnen wenigstens kräftige Gegengewichte bereiten müssen, wovon sich bis jetzt leider noch kaum eine Spur gezeigt hat.

3. Man begreift, dass bei den ersten Merkmalen der zunehmenden Gährung in den Köpfen, die Regierung auf den Gedanken verfallen konnte, der öffentlichen Meinung durch zweckmässig abgefasste Schriften eine vortheilhafte Richtung zu geben. Die Mittel und Werkzeuge aber, deren sie sich in dieser Absicht bediente, waren nicht glücklich gewählt. Die Landtagszeitung habe ich von den ersten Nummern an als einen misslungenen Versuch betrachtet. Man nennt als Herausgeber oder Hauptarbeiter an derselben einen Mann, dem es sicher an Verstand und Kenntnissen nicht mangelt, der aber, was auch immer der Grund davon gewesen sein mag, bei dieser Gelegenheit auf falsche Wege gerieth. Wenn gefährliche Grundsätze, willkürliche Auslegungen der Constitution, phantastische Erwartungen und verwegene Ansprüche auch hin und wieder schon laut geworden waren, so hätte die Regierung entweder ein würdevolles Stillschweigen (welches wohl das Beste gewesen wäre) darüber beobachten, oder sie mit grossem Nachdruck und imposanter Autorität zurückweisen [335] müssen. Die Landtagszeitung setzte ihnen eine halb strafende, halb populäre, im ganzen matte und furchtsame Polemik entgegen. Sie machte das Uebel ärger, indem sie stärkere und kühnere Gegner zum Kampf aufrief; besonders aber, indem sie Dinge, welche die Volksaufwiegler zwar allerdings gemeint und gewollt, jedoch bis dahin nur im Dunkeln verbreitet hatten, förmlich zur Sprache brachte, und nicht bloss gegen Missverständnisse, sondern gegen offenbar frevelhafte Absichten eiferte, die eine noch unerschütterte und ihrer guten Sache sich bewusste Regierung nicht einmal voraussetzen durfte. In einem der früheren Stücke dieser Zeitung ward z. B. höchst unbehutsamer Weise eine erdichtete Rede geliefert, worin ein künftiger Deputirter seine Amtsgenossen über alle die Schritte belehrte, die ein rechtliches Mitglied der Ständeversammlung nicht versuchen und nicht unternehmen sollte. Aus dieser Rede haben wahrscheinlich viele im Lande, die es noch nicht wussten, oder wenigstens nicht deutlich wussten, gelernt, was ein Deputirter allenfalls unternehmen könnte, und die, die es nur allzu gut wussten, was er unter gewissen Umständen unternehmen durfte. Nebenher stiftete diese Zeitung den grossen Nachtheil, dass sie die Regierung selbst den feindseligen Angriffen anderer Zeitungsschreiber preisgab, die, weil die Localobrigkeiten aus Furcht oder bösem Willen ihnen nicht mehr Einhalt thaten, das halbofficielle Blatt ohne alle Schonung herabsetzten und zerrissen. So erschienen kurz vor der Eröffnung der ständischen Sitzungen, im Bamberger Fränkischen Merkur, ja selbst in der Allgemeinen Zeitung jene frechen Artikel, die den Ausbruch einer gewaltsamen Revolution weit eher, als den ruhigen Genuss einer königlichen Wohlthat in Baiern zu verkündigen schienen.

4. Unter diesen ungünstigen, fast drohenden Vorbedeutungen wurde die Ständeversammlung eröffnet. Ich betrachte hier die Rede des Königs nicht in Bezug auf seine persönlichen Gesinnungen, über deren Vortrefflichkeit kein Zweifel obwalten kann, sondern aus dem Standpunkte, welchen die Verfasser derselben gewählt hatten, um die Stellung des Monarchen gegen die neue Ordnung der Dinge zu bezeichnen. Gerade in dieser Beziehung aber ist sie nach meinen Grundsätzen und Ansichten verfehlt. Der König von Baiern bedurfte keiner Deputirtenkammer, um seine Pflichten gegen sein Volk zu erfüllen. Er hatte bis dahin seinem erhabenen Berufe hinreichend Genüge geleistet, um vor Gott, Welt und Nachwelt die Rechenschaft nicht scheuen zu dürfen. Die Lage seines Staates war nicht bloss, wie es in der Rede heisst, „beruhigend“; sie war so stark und in Vergleich mit so vielen andern Staaten so glücklich, als sie unter den gegebenen Umständen sein konnte; und was darin der Verbesserung [336] fähig war, liess sich ohne Beschränkung der königlichen Macht, auf dem Wege der Gesetzgebung verbessern, wie das Edict über das städtische Gemeinwesen und mehrere kurz vor der Ständeversammlung publicirte deutlich genug bewiesen. Die Constitution wurde theils aus politischen Gründen, die ich hier nicht zu erörtern habe, theils aus wohlwollender Condescendenz gegen den Zeitgeist, und seine wahren oder eingebildeten, in Baiern wie allenthalben lebhaft aufgeregten Wünsche und Bedürfnisse beschlossen. Von den politischen Gründen war der König niemandem Rechenschaft schuldig; die anderen musste das Volk in unbedingter Dankbarkeit verehren, als ein Uebermass königlicher Huld, die selbst Ansprüche von zweifelhaftem Werthe, die selbst ein unruhiges und ungeregeltes Streben, da das öffentliche Wohl den Vorwand dazu lieh, mit zuvorkommender Grossmuth behandeln wollte. Dies war das wahre Verhältniss des Königs zu einer von ihm geschaffenen Ständeversammlung, und dies der Text, der mit Muth und Geschicklichkeit bearbeitet, allen Missdeutungen vorgebeugt hätte. Man hielt für besser, den König so sprechen zu lassen, als wäre seine ganze bisherige Regierung nur eine Vorbereitung auf diesen Augenblick gewesen; als liesse sich seine frühere Verwaltung entschuldigen allenfalls, aber nicht rechtfertigen; als finge das eigentliche Baiern nun erst an, oder träte wenigstens aus der Asche des Alten ein neues, wundervoll verjüngtes, hervor. – Der Minister des Innern bediente sich sogar am Schluss eines Vortrags, der die Nothwendigkeit so weitgreifender Umwälzungen wahrlich nicht dargethan hatte, der auffallenden Worte: „S. M. der König haben durch die Constitution die Form des Staates geändert, und die Verwaltung habe bereits angefangen, in allen Abstufungen der neuen Richtung zu folgen“. – So hatten wenigstens der König, so hatten seine treuesten und einsichtsvollsten Räthe die Sache ursprünglich nicht gemeint; und in jedem Falle war es weder nothwendig noch rathsam, sich über einen so kritischen Punkt mit dieser officiellen Bestimmtheit zu äussern.

5. Dass die vorstehenden Bemerkungen nicht aus der Luft gegriffen sind, ergibt sich unverkennbar aus der in der Deputirtenkammer beschlossenen Adresse an den König und aus der Sprache, die bei dieser Gelegenheit geführt wurde. Was die Eröffnungsrede nur angedeutet hatte, ward hier mit unerwarteter Kühnheit, und ohne, dass irgend ein Widerspruch laut geworden wäre, commentirt, ergänzt, erweitert, in ein vollständiges, abgerundetes System von königlicher Demokratie verarbeitet, so dass nun kein Zweifel mehr blieb, dass die Form des Staates wirklich geändert war. Kein erfahrener Staatsmann wird sich durch ein paar nothgedrungene Höflichkeitsformeln, [337] die zur augenblicklichen Verkleidung dienten, irre führen lassen; der wahre Sinn der Adresse, und noch mehr der sie begleitenden Reden liegt am Tage. Die Ständeversammlung soll kein Werk der königlichen Gunst, keine reine Frucht der königlichen Sorgfalt und Weisheit sein, sie ist ein wohlgegründetes Recht der Nation; und dem Könige bleibt nur das Verdienst, diesem Rechte gehuldigt zu haben. Die Baiern haben ihre Unmündigkeit abgestreift; die Rednerbühne ist „das Symbol ihrer politischen Mündigkeit, die Verkünderin ihrer politischen Wiedergeburt“ – ihre gerechten Ansprüche sind endlich anerkannt; der für jetzt noch enge gezogene Kreis der Volksvertreter wird zur rechten Zeit seine Erweiterung finden; Volk und Thron, Thron und Volk sind wechselseitig durch einander bedingte Gewalten, die von dem Bürger des freigewordenen Staates gleiche Rücksicht, gleiche Ehrfurcht, vermuthlich auch bald gleichen Gehorsam zu fordern haben. – Auf diesem Boden steigt das neue Baierische Staatsrecht empor.

6. Die Regierung hätte die Deputirtenkammer sogleich mit praktischen Verhandlungen, officiellen Vorträgen, Gesetzesentwürfen oder andern positiven Arbeiten beschäftigen, – oder, wenn dieses sich nicht thun liess, nachdem die Wahl der Ausschüsse vollendet war, sie unter irgend einem schicklichen Vorwande vertagen sollen. Dass die erste eigentliche Sitzung mit einer tumultuarischen, unanständigen Debatte über elende Petitionen begann; dass die darauf folgenden bis zur Ueberreichung des Budgets fast keinen positiven Gegenstand zum Zwecke hatten, mithin ausschliessend eiteln Declamationen, unzeitigen Vorschlägen und verfänglichen Wortstreitigkeiten gewidmet werden konnten, war ein sehr grosses Uebel. Den Schaden, den diese ersten Sitzungen gestiftet haben, wird die Regierung lange und empfindlich fühlen. Hier haben die Irrlehrer und Volksverführer ihre ersten Waffen versucht; hier wurde bei einer Stelle der Adresse, wo von „Rechten der Krone“, und zwar im rein-politischen Sinne die Rede war, der Zusatz „und der Nation“ verlangt; und die Bemerkung, dass in den diplomatischen Verhältnissen der König der Repräsentant der Nation sei, durch einen Deputirten beantwortet, der die Unbescheidenheit so weit trieb, zu sagen: „diesen Grundsatz habe auch Napoleon gehabt, aber zum Unglück des Volks“. Noch niederschlagender als selbst dieser Frevel war das Resultat, dass der ungebührliche Zusatz mit sehr grosser Stimmenmehrheit durchging. – Einen ähnlichen Gang nahmen die rein-demagogischen Motionen über die Oeffentlichkeit der Verhandlungen. – Der Angriff eines Deputirten gegen die Kammer der Reichsräthe scheint nach schweren Kämpfen zuletzt ohne wesentliche Folgen geblieben zu sein. [338] Die Verhandlung selbst aber war in Form und Inhalt gleich empörend. Weder in Frankreich noch in England hätte je ein Mitglied des Unterhauses gewagt, gegen einen feierlichen Beschluss des Oberhauses in so ungeziemenden Ausdrücken Beschwerde zu erheben. Die angegriffene Stelle war ohne alle Einschränkung correct, constitutionell, dem Standpunkte der Reichsräthe in der neuen Verfassung aufs vollkommenste angemessen, dabei weise und heilsam, und durch die ersten Schritte der Deputirtenkammer nur zu sehr gerechtfertiget. Weit entfernt aber, den Redner, der die darin ausgesprochenen Wahrheiten als Verletzung des Volksrechts und Verrath an der Constitution getadelt hatte, wenigstens durch unzweideutige Missbilligung zu bestrafen, gestattete man der zu München erscheinenden politischen Zeitung dem Ankläger eine Lobrede zu halten, und das Unternehmen als einen Beweis zu citiren, „von welchem guten Geiste die Kammer der Deputirten belebt sei“. Die Allgemeine Zeitung ging noch weiter, und nannte diese anstössige Scene ein „erhebendes Schauspiel für In- und Ausland“. Solche Fortschritte hat die Krankheit in kaum vierzehn Tagen gemacht!

7. Das Schlimmste bei der Sache ist, dass allen diesen gefahrvollen Verirrungen bisher wenig oder gar kein Widerstand geleistet wurde. Das Monopol der Rede üben vier oder fünf Freiheitsapostel aus, die in allen seitherigen Debatten der Kammer eine grosse Mehrheit auf ihre Seite zu ziehen wussten. Ob es irgend eine Opposition – d. h. eine Regierungspartei, denn diese könnte nur noch als Opposition auftreten – geben wird, lässt sich nicht bestimmen; bis jetzt ist nichts davon sichtbar geworden. Die zur besseren Belehrung des Volks öffentlich bekannt gemachten Sitzungsprotokolle sind auf jeder Seite voll von verwegenen und ausschweifenden Aeusserungen, und nirgends ein kräftiges Wort, das dem Unwesen Schranken setzte. Die Regierung scheint in der Kammer weder Vertreter noch Organe zu haben; sie müsste denn, in unseliger, aber nicht beispielloser Verblendung, diejenigen als ihre Bundesgenossen betrachten, die sich durch eine oder die andere Schattirung in Denkungsart oder Sprache von ihren erklärten Feinden unterscheiden. Wenn sie auf keine anderen Stützen zu zählen hat, so wird es ihr schwer werden, dem bevorstehenden Ungewitter die Spitze zu bieten.

8. Wie die Baierische Regierung selbst über die bisherigen Vorfälle denkt, ist mir unbekannt. Es sind jedoch, wie mich dünkt, hier nur zwei Fälle möglich. Der eine, dass sie mit dem Gange der Deputirtenkammer einverstanden sei; der andere, dass sie, die Gefahr richtig beurtheilend, und nur vom Drange des Augenblicks überwältigt, fest an dem Entschlusse halte, ihr Ansehen und ihre Rechte [339] zu behaupten. Der erste Fall liegt ganz ausser meiner Sphäre; nichts berechtigt mich, ihn vorauszusetzen, und fände er wider alles Erwarten und wider alle Wahrscheinlichkeit statt, so wäre der Standpunkt, von welchem meine Bemerkungen ausgingen, ohnehin nicht mehr haltbar. Baiern wäre alsdann ein vollkommen revolutionirter Staat, und sofort in eine Laufbahn geworfen, auf welcher wir ihm nicht mehr folgen könnten.

Im zweiten Falle aber kann man unsere Besorgnisse für übertrieben erklären; man kann ihnen entgegen setzen, dass zehn oder zwölf stürmische Sitzungen für den Ausgang der Sache nichts beweisen; dass bei Verhandlung der Hauptfragen ein besserer Geist die Kammer beherrschen wird; dass die Regierung ihre wirksamsten Mittel und ihre kräftigsten Werkzeuge wohl für diese Hauptfragen aufbewahrt haben könne; dass sie auf die Kammer der Reichsräthe, als auf ein sicheres Reservecorps rechne; dass der Thron zu fest stehe, um durch Worte erschüttert zu werden; und endlich, dass das ganze Schauspiel nicht von hinreichender Dauer sein werde, um die Fundamente des Staates zu verletzen. – Da ich nicht den geringsten Beruf fühle, den Unglückspropheten zu spielen, so nehme ich alle diese Einwürfe bereitwillig an, und wünsche sie noch verstärken zu können. Auch ich rechne viel auf die persönliche Denkungsart des Monarchen, auf die Klugheit und Geschäftserfahrung seiner Minister; auf regelmässigen und nachdrücklichen Widerstand in der Kammer der Reichsräthe, auf die Energie einzelner Männer, die oft im entscheidenden Momente das zerrüttete Gleichgewicht wieder herstellen; selbst auf die Stimmung des besseren Theils der Nation, insofern es nur der Regierung noch gelingt, gegen die rastlosen Verderber der öffentlichen Meinung Licht und Luft zu gewinnen. Indessen ist das Uebel schon jetzt von bedeutender Grösse; es geringe zu schätzen, wäre ein tödtlicher Irrthum. Die erste Periode der Deputirtenkammer wird, was nun auch ferner geschehe, lange und schwer zu verwischende Spuren hinter sich lassen; und was heute noch durch kräftige Massregeln gerettet werden könnte, wird vielleicht in wenig Wochen unwiederbringlich verloren sein.