Eine Bergfahrt in Süd-Tirol
Als ich am 30. September 1895 um Mitternacht auf dem bayerischen Bahnhofe der Vaterstadt mich einstellte, wurde ich nicht bloß von meinem erkorenen Reisegefährten, sondern auch von einigen Bekannten und Freunden erwartet, die der Versuchung nicht hatten widerstehen können, mich auch einmal im Bergkostüm mit Rucksack und Pickel unter die kritische Lupe zu nehmen, und die es natürlich an wohlmeinenden Ermahnungen, nicht zu verwegen im Klettern zu sein, nicht fehlen ließen. Wir konnten dazu wohl lachen. Für mich war es die sechste Bergfahrt, ich hatte also bereits genügende Erfahrungen gesammelt und schon mehrere Hochtouren gemacht, die nicht unter die Rubrik „leicht“ fielen, und was meinen Gefährten anging, so ersetzte er den Mangel an Erfahrung durch seine Eigenschaft als vorzüglicher Turner und durch größere Jugend und Elastizität: einen kräftigeren, gewandteren und kühneren Genossen konnte ich mir nicht wünschen. Ein absoluter Neuling war übrigens auch er nicht; er hatte schon einmal von München aus mit fröhlichen Genossen einen, allerdings kurzen, Ausflug in die Berge gemacht und sehnte sich gerade deshalb danach, einmal unter kundiger Führung den verschneiten Riesen dichter auf den Leib zu rücken.
Eine direkte Kurierzugfahrt von Leipzig nach Bozen ist nur ein „sogenannter“ Genuss, und doch hatten wir keine Zeit zu verlieren und waren darauf angewiesen, die Fahrt möglichst abzukürzen, um volle vierzehn Wandertage herauszuschlagen. Früh ¼ 2 Uhr sagten wir, die wettergeprüften Hüte lustig aus dem Coupéfenster schwenkend, der schon von den frostigen Schauern des Herbstes angewehten Vaterstadt Valet und Abends 8 Uhr schritten wir durch die köstliche, weiche, laue Dunkelheit eines südlichen Abends vom Bozener Bahnhofe unserem Gasthofe zu, den Rucksack auf dem Rücken, den Pickel unterm Arm, und sahen spähend empor zum Himmel, ob er uns wohl einen schönen Tag verheiße. Schon auf dem Brenner hatten allerlei Dünste und Gewölk sich um die Bergspitzen herumgetrieben. Von Franzensfeste abwärts war das noch bedenklicher geworden, und diese abwechslungsreiche [255] Fahrt hatte dadurch viel von dem märchenhaften Zauber eingebüßt, der ihr in klarer Mondnacht eigen ist.
Wir hatten ursprünglich die Absicht gehabt, mit dem Stellwagen nach dem Mendelpass hinauf zu fahren, aber unser Wirth hatte uns gerathen, lieber bis Auer die Eisenbahn zu benutzen und dann von Kaltern aus die Passhöhe auf der alten Straße zu ersteigen, und dieser Vorschlag hatte uns besser gemundet, da unsere Füße Verlangen danach trugen, zunächst einmal wieder „vertreten“ zu werden. So fuhren wir denn am nächsten Morgen in aller Frühe etschabwärts nach Auer, ließen uns neben der Eisenbahnbrücke mit der Fähre übersetzen und wanderten im goldigsten Sonnenscheine, der es fast zu gut mit uns meinte, den Kalterer See entlang nach Kaltern. Man war mitten in der Weinlese und wir begegneten förmlichen kleinen Karawanen mit Ochsengespannen und mächtigen Kürbisflaschen, die sich hinaus in die Weingärten begaben, um dort die reifen Trauben zu schneiden, die den Seewein liefern. Bei der jedenfalls altehrwürdigen Art und Weise, in der die Thiere ins Joch gespannt sind, nahm es uns nicht weiter Wunder, als wir auf eine Gruppe stießen, die sich nicht klar darüber war, wie sie dem armen Öchslein die vollständig abgestreifte Schale wieder auf den blutrothen Stumpf des einen Hornes bringen sollte; dieselbe soll übrigens, wie uns ein bäuerlicher Heilkünstler belehrte, unter Umständen wieder anwachsen; hier aber mochte es an der erfahrenen, sicheren Hand fehlen. Ab und zu war uns auch ein Blick gegönnt in eine Bütte voll halbzerquetschter Trauben, die bereits in's Stadium der Edelfäule gelangt waren; wer diesen Blick zum ersten Male thut, hat einige Mühe, sich gegenwärtig zu halten, dass aus diesem Brei schließlich einmal Wein wird. Das Laub der Reben war fast überall blau; es wird, um die verderbliche Peronospera nicht aufkommen zu lassen, mit einer Kupferlösung angespritzt, und diese wohlthätige Flüssigkeit hinterlässt die unheimliche blaue Färbung. Wer es übrigens noch nicht weiß, dem sei anvertraut, dass es auf die Dauer kaum etwas Ermüdenderes giebt, als einen Gang durch von reifen Trauben strotzende Weingärten; selbst an den riesigsten Trauben hat man sich bald satt gesehen und das Auge sehnt sich nach Abwechselung.
In Kaltern stärkten wir uns im Kühlen durch ein Frühstück und ließen uns dann bei einem uralten Schusterlein die Bergschuhe nageln und an den Hacken mit Krampennägeln versehen; man bekommt das nirgend besser gemacht, als in den Bergen selbst. Des Alten Schwiegertochter bot uns einen Teller mit Trauben an, der Alte beschrieb uns den alten Saumpfad hinauf zum Mendelpaß und so ward uns die Zeit nicht lang, und guten Muths setzten wir uns dann in der Mittagssonne in Bewegung und stiegen bald im Walde steil über grobes Geröll bergan, ohne jeden Zweifel darüber, ob unser Pfad der richtige sei: es hatte ja Alles haarklein gestimmt. Aber wir geriethen immer weiter links, und ich war bereits stutzig geworden, als der Weg plötzlich ganz aufhörte. Wohl kletterten wir noch eine Weile an dem steilen durchnäßten, ja fast kothigen Hange hin, geriethen aber dann an den Rand einer Schlucht, in welcher ein Wasserfall zu Thal stürzte und jenseits dessen eine senkrechte Wand uns entgegen starrte; es wäre also nutzlos gewesen, die Schlucht über die Steine des Wasserfalles zu durchklettern. Der Versuch, in dichtem Unterholz und Gestrüpp weiter aufwärts zu klimmen, erwies sich wegen der zunehmenden Steilheit gleichfalls als unausführbar, und nach langem Widerstreben mußten wir uns zur Umkehr entschließen und versuchten, den verlorenen Pfad wieder zu gewinnen. Das war nicht leicht; überall durch Gestrüpp beengt, wurden wir durch versumpfte Stellen, kleine Schluchten und zu Thal gehende Wasseradern zum Ausweichen gezwungen und direkter Abstieg war überhaupt unmöglich; man musste eine Zickzackbewegung durchzuführen suchen, soweit das thunlich war. Die Geschichte hatte ihre lächerliche Seite, aber auch ihre anstrengende, und als wir den steinigen Pfad wieder erlangt hatten, waren wir eigentlich recht froh und stolperten lachend über's Geröll bergab, um den Anstieg an der richtigen Stelle, also weiter rechts, zu wiederholen; dass es links nicht ging, das war uns ja zur Genüge klar. Auf breiterem Wege, als der anfängliche, stiegen wir rasch hinan; an der hohen Wand gerade vor uns zeichnete sich die weiße Zickzacklinie der Mendelstrasse, die wir unterhalb des Passes schneiden wollten, scharf und unverkennbar ab, und zu unserer Rechten konnten wir sie weit hinab bis zur Landschaft Eppan verfolgen. Leider war es auch mit diesem Wege nichts; er wurde immer schmäler und unkenntlicher, verlor sich in Geröll, das bei Regenwetter augenscheinlich zum Bette eines namenlosen Baches ward, und führte uns zuletzt an einem tiefen Einschnitt, der uns zwar nicht geschreckt haben würde, jenseits dessen aber unnahbare waldige Wände uns entgegen starrten – erst hinter diesen lief die Strasse am Hange hin. Mit mehr Hartnäckigkeit als Einsicht verfolgten wir, an den Ausgangspunkt zurückgekehrt, einen dritten Weg noch weiter rechts, so lange, bis wir im Wasser patschten, das durch Geröll thalab sickerte und rieselte; hatten wir eine Höhe gewonnen, so blickten wir hinab in ein tiefes, schluchtartiges Waldthal, und jenseits desselben ragten neue Bergkoulissen empor, von denen sich augenscheinlich eine hinter die andere schob und die jedesmal durch einen tiefen Einschnitt voneinander getrennt waren. Die Sonne ging bereits goldig zur Rüste, und Schatten füllten die Thäler, als wir nach diesem dritten vergeblichen Versuch auf eine Frau stießen, welche vom Dorf herauf gekommen war und die Luft mit dem langgezogenen Rufe „Franzele!“ erfüllte und dazwischen Selbstgespräche hielt, welche dem gesuchten Franzele einen ungewöhnlich warmen Empfang zu verbürgen schienen. Der Bube kletterte mit der Ziege, deren gelegentliches Klingeln der einzige Laut in der Waldeinsamkeit war, an dem waldigen Rande links von uns unsichtbar herum und setzte den mütterlichen Lockungen ein beharrliches Schweigen entgegen; wahrscheinlich wünschte er den Moment des Wiedersehens, dem er mit gemischten Empfindungen entgegensah, möglichst hinauszuschieben. Die beiden verirrten Touristen flößten der braven Frau augenscheinlich weit weniger Interesse ein, als der Gedanke, der Bube könnte die Ziege verlassen und diese sich verstiegen haben. Als es uns endlich, indem wir ihr eine tiefgehende Teilnahme für das Schicksal Franzeles und seiner Ziege vorspiegelten, gelungen war, sie zum Reden zu bringen, wies sie uns nach links, also in die Richtung unseres ersten Aufstiegs - da gehe der alte, seit Erbauung der Mendelstrasse halbverlassene Saumpfad hinauf. Solcher Gestalt wie die bekannten Vierfüßler am Berge stehend, beschlossen wir nothgedrungen, nach Kaltern hinabzusteigen und am nächsten Morgen einen Führer bis an die Stelle mitzunehmen, wo der famose Saumpfad seinen Anfang nahm. Daß wir denselben allein nicht fanden, war uns nun zur Gewissheit geworden. Ziemlich beschämt kehrten wir den Bergen, an denen wir uns einen geschlagenen halben Tag abgemüht hatten, ohne an's Ziel zu kommen, den Rücken, schulterten den Pickel und marschirten hinab nach Mitterndorf, das eine Fraktion von Kaltern bildet und wo wir ein Nachtquartier zu finden hofften; erstens hatten wir von hier aus näher und dann liefen wir unten in Kaltern Gefahr, ausgelacht zu werden, wenn wir auch natürlich klug genug gewesen sein würden, das Ganze als eine Rekognoszirung zu bezeichnen; und ausgelacht will Keiner sein, selbst nicht von einer lustigen Kellnerin. Der eigentliche Gasthof war vor Kurzem abgebrannt und ward eben wieder aufgebaut; der zweite Wirth stand mit dem Käppchen auf dem Kopfe vor der Thür, als wir an seinem Hause vorübermarschirten, und sein freundliches Gesicht schien uns einzuladen; als wir auf ihn zusteuerten, nickte er uns wohlwollend zu, als wir aber fragten, ob wir die Nacht über bleiben könnten, schob er das Käppchen zurück, kratzte sich hinterm Ohr und meinte, „ja, Betten hätte er schon, aber bei ihm übernachteten halt bloß Burschen, die einmal eine Nacht von zu Hause sein müßten, aber so Herren, wie wir...“ Wir ließen ihm nicht Zeit, seine Bedenken vollends auszukramen, sondern forderten ihn auf, uns seine Beletage zu zeigen. Über eine leiterähnliche, schmale, steile Treppe ging’s auf den Boden, auf dem Berge von reifen Maiskolben („Türken“ sagt man in ganz Tyrol) aufgethürmt waren, aber die anstoßenden beiden Kämmerchen waren freundlich und sauber und die Betten eher etwas weniger hart, als dies in Tyrol Landesbrauch. Das war Alles, was wir brauchten; lachend forderten wir den Mann auf, uns auch bezüglich der Preise als Burschen zu betrachten, warfen die Rucksäcke ab und fuhren mit dem Kopf in's Waschwasser, um dann unten im Gastzimmer ganz gut zu Abend zu essen. Eines Führers für den nächsten Morgen hatten wir uns schon vorher in der Person eines eisgrauen Greises versichert, der sich erbot, uns bis zur Einmündung des Pfades in die Mendelstraße zu leiten, und als wir früh um fünf Uhr (die Herbstnebel lagen noch im Thale und über dem See) an die Scheune pochten, in der er mit seiner Alten eine Art Kammer bewohnte, war er schon marschfertig. Nun stellte sich denn heraus, daß einige Tage vorher ein schwerer Regenguß den Anfang des Pfades einfach weggerissen und unter Schutt und Geröll begraben hatte, so daß wir, indem wir uns an die in Kaltern gegebene Beschreibung hielten, nothwendig zu weit links gerathen mußten, auf einen Waldarbeiterpfad, der immer weiter links in die zerrissenen Wände führt und dort plötzlich endet. Auf dem richtigen Wege brauchten wir bis zur Paßhöhe trotz bequemster Gangart nicht ein Drittel der Tags zuvor geopferten Zeit und nicht ein Zehntel der aufgewandten Anstrengung. Nachdem wir unseren, von der Last der Jahre gebeugten alten Führer zurückgeschickt und die neue Straße noch mehrmals geschnitten hatten, erreichten wir das trefflich bewirthschaftete Mendelwirthshaus. War’s auch hier nicht so einsam, wie in den Villen, die in der nächsten Nachbarschaft entstanden sind und in denen bereits die Winterschutzläden vor die Fenster gesetzt waren, so waren wir doch die einzigen Gäste auf der Veranda und nahmen unser Frühstück ein, während der nachgerade unvermeidlich gewordene Amateurphotograph neben uns mit seinem Apparat hantirte und die hier sichtbaren Theile der Ortlergruppe und die Presanella auf der Trockenplatte fixierte. Pickel und Rucksäcke zurücklassend, machten wir zunächst, die früchtebeladenen Haselbüsche plündernd, den Waldspaziergang nach dem rechts gelegenen Penegal, einem 1733 Meter hohen, grünen Plateau, das eine prächtige Aussicht auf Bozen, Ueberetsch, die Dolomiten und den Adamello bietet. Hier fanden wir eine kleine Gesellschaft, der es mächtig imponirte, dass wir den Rückweg im Laufschritt antraten und diese Gangart fortsetzten, bis das kurzgeschorene Wiesenland in Unterholz überging. Nachdem wir, fern von dem eigentlichen Table d’hôte-Treiben, zu dem der Stellwagen inzwischen die Gäste gebracht hatte, auf der Veranda getafelt hatten, stellte sich uns unser Führer nach dem links gelegenen Monte Roën vor, ein keines deutschen Wortes mächtiger armer Schneider aus einem der Thalorte, der inzwischen heraufbeordert worden war. Auch diese Tour ist bis zur Romener Alpe ein bequemer Spaziergang, der nicht mehr als zwei Stunden erforderte; ermüdender ist eine weitere Stunde, die durch hohes Haidekraut und Alpenrosengestrüpp hinauf auf's Plateau führt. Es gilt mit einer Höhe von 2053 Metern für eine der herrlichsten Warten der Alpenwelt, denn fast ganz Südtirol liegt mit zahllosen Ortschaften und mit dem Kalterer und den Moutigler Seeen vor den Blicken ausgebreitet und auch die Bergumrahmung ist großartig – der Blick schweift vom Ortler und Rosengarten bis zum Brenner, Groß-Venediger und Großglockner. Die Kürze des Herbsttages gestattete kein längeres Verweilen auf dieser luftigen Warte, und der Abstieg wurde in einem Tempo vorgenommen, das schon auf ebener Straße angreifend gewesen wäre, hier aber auf Wegen, die Geröllrinnen glichen, und denen man nicht immer zur Seite ausweichen konnte, den armen „Unterthanen“ das Härteste zumuthete. Es begann stark zu dämmern, als wir das Dörfchen Amblar erreichten, ein bereits echt italienisches Nest, dessen Abendläuten schon lange tröstlich zu uns heraufgeklungen hatte. Die Mägde am Brunnen konnten uns keine halbwegs genießbare Herberge nachweisen, sondern riethen uns, weiter nach San Romedio zu [256] marschiren; dazu schüttelte wieder der Führer den Kopf und meinte, so weit würden wir auf keinen Fall in der Dunkelheit kommen, denn der Weg in der Schlucht sei zu schlecht. Wir hörten nun etwas von einem Unterkommen in Don munkeln, auf dem Wege nach San Romedio, und diesem Oertchen strebten wir denn ziemlich eilfertig zu und erreichten es durch Wasser und über Steine bei sinkender Nacht.
Die Herberge war freilich fragwürdigster Natur; wir traten in einen Kramladen („gemischte Waarenhandlung“, generi misti lautete die Firma) und ein altes Weib, das hier aus Rembrandt’schem Halbdunkel uns entgegentrat, gab uns die beruhigendsten Zusicherungen. Wer aber weiß, wie die Italiener jeden Schinderweg eine strada bellissima und ein vorsintfluthliches Gefährt, vor das zwei lendenlahme Gäule gespannt sind, una carrozza con due cavalli nennen, der trägt Bedenken, und mein Gefährte, der die Unterhaltung nicht verstand, meinte zweifelnd: „Was, in die Räuberhöhle soll’s gehen?“ Ich hatte denn auch gute Lust, den Marsch fortzusetzen, da aber der Führer in diesem Falle jede Verantwortung ablehnte und entschieden streitlustig dreinschaute, mußten wir wohl in den sauren Apfel beißen. Ich bin nun gerade nicht schreckhaft, als wir aber über eine steile Hühnersteige von Treppe in die stichdunkle Gaststube traten, in der verschiedene hemdärmlige Kerle herumlärmten und aus der man in eine rußige Küche sah, in der ähnliche Gestalten ohne Licht um das dürft'ge Herdfeuer hockten, da kam mir die Sache auch als für Damennerven ungeeignet vor. Nun, der Wirt machte uns zu Ehren Licht, und die unheimlichen Gestalten verzogen sich allmälig. Schien man auch keine Ahnung davon zu haben, daß zu einer Lampe nicht bloß ein Zylinder, sondern auch eine Glocke gehört, so kam uns doch das Zimmer nun bei Weitem behaglicher vor. Unsere Hoffnungen auf ein ordentliches Abendessen wurden dagegen rasch herabgestimmt; es gab im ganzen Orte kein Fleisch, wir konnten also nur in Wasser gekochten Reis haben, dem einige Scheiben Kohlrabi und ziemlich viel Selleriekraut als Würze beigemischt waren. Immerhin schwammen keine Fliegen darin, und da dies nach Lage der Dinge ein unverhoffter Trost war, so löffelten wir unsere große thönerne Schüssel geduldig aus. Die Komposition war auch garnicht so übel, mundete uns wenigstens besser, als die in der Herdasche gebackenen Kuchen aus Maismehl, die man uns ebenfalls anbot. Nach Obst forschten wir umsonst; ein Bote, welcher den ganzen Ort abgesucht hatte, kam endlich mit einigen Aepfeln niedrigsten Ranges zurück, denen der Wirth aus eigenen Mitteln ein paar Hände voll Haselnüsse hinzufügte. Betten mußten für uns erst aufgeschlagen werden; wir konnten auch kein gemeinsames Zimmer bekommen, was meinem Reisegefährten sehr wider den Strich ging - ein romantisches Gemüth konnte wohl auf den Verdacht kommen, daß man uns einzeln abzuthun beabsichtige. Nun, es genügte, diesen Gedanken auszusprechen, um uns heiter zu stimmen, und so folgten wir denn getrost, als man uns meldete, daß unsere Lagerstätten bereitet seien.
Meinem Alter oder meinem Italienisch verdankte ich den Vorzug, in einem Nebenzimmer zu schlafen, das augenscheinlich die „gute Stube“ darstellte; über der Thür hatte irgend ein Dorf-Raphael zwei Gestalten angebracht, von denen er die eine durch Markierung einer Büste als weiblich zu charakterisiren versucht hatte; beide hielten die Enden eines breiten rosa Bandes, auf dem geschrieben stand: „Evvivan i nostri amici!“ (Es leben unsere Freunde!") Mein Freund war höher untergebracht; ich verzichte jedoch darauf, die bauliche Konstruktion des Hauses klar zu machen. Die Thür besaß zwar ein Schloss, der Drücker desselben fehlte indessen, und auch ein Schlüssel oder ein Riegel war nicht vorhanden; in dieser Hinsicht genoss mein müdes Haupt wenigstens eines gewissen Trostes, denn ich fand einen Riegel vor, der sogar funktionirte. "Ich denke einen langen Schlaf zu thun, denn dieses Wandertages Qual war groß!" parodirte ich den Wallensteiner in der Mordnacht von Eger, aber ich hatte mich kaum ausgestreckt, als mir mit Schaudern klar ward, daß es für mich unter diesem Dache keinen Schlummer gebe. Wer hieß mich aber auch vergessen, daß, so weit die welsche Zunge klingt, die kleinen braunen Springer die Herren der Situation sind und nur vor einem großen Aufwand von Insektenpulver widerstrebend das Feld räumen? Ich stand auf und machte Licht. Die Beleuchtung meiner Lagerstatt zeigte mir ein so reges Leben, daß ich darauf verzichtete, den Kampf mit diesen blutgierigen Insekten aufzunehmen. Am Tische sitzend, den Arm als Kopfkissen benutzend, habe ich in den Kleidern mit Pausen geschlafen, bis der Oktobermorgen durch die vorhanglosen Fenster graute, und als ich den Hemdärmel aufstreifte, fand ich den Arm so schön punktirt, daß ich einer Forelle etwas zu rathen hätte aufgeben können. Die schöne Punktirung war übrigens mit größter Unparteilichkeit über den ganzen Körper vertheilt und nicht ohne Neugierde suchte ich meinen Freund in seiner unverschließbaren Kammer auf. Ihm hatten günstigere Sterne geleuchtet; sobald er bemerkte, wie man sich mit vereinten Kräften bemühte, ihm einen Aderlass zu bereiten, war er aus dem Bette gesprungen, hatte seinen langhaarigen Kapuziner-Wettermantel aus Kameelhaar angezogen und sich in diesem, wie ein Schmetterling in seinem Puppengehäuse, zusammengedrückt. In dieser Hülle hatten ihm die blutgierigen Angreifer absolut nichts anhaben können, und so hatte er fest und sanft geschlafen und nicht einmal von einem bärtigen Kerl geträumt, der sich, das Messer in der Faust, über ihn beugte und ihm die Gurgel zu durchschneiden suchte. [263] Ich will nicht gerade behaupten, daß Gustav Rasch Recht habe, wenn er betheuerte, aller Kaffee in Tyrol bestehe aus Feigenmehl, Thonbohnen und einem geringen Zusatz von Mokkabohnen, aber ich trug kein Verlangen nach der Probe darauf, wie man ihn in Don zubereitet, sondern lohnte den Führer ab und wir marschierten frohen Muthes abwärts nach der herrlichen Schlucht, die sich nach dem heiligen Romedius, einem Einsiedler bayerischer Abstammung, nennt, der hier seine Tage beschlossen haben soll. Es ist das lange her, denn der Heilige hat sich, der Sage nach, einen Bären, der ihm sein Pferd zerrissen hatte, gezähmt und ihn gezwungen, ihm als Reitthier zu dienen. Auf dem Wege nach der Schlucht stießen wir übrigens im schmalen Bachthal auf Hindernisse, die es uns ganz unmöglich gemacht haben würden, San Romedio in der Nacht zu erreichen. Die schweren Regengüsse der Vorwoche hatten an einer Stelle ein großes Stück des schmalen Pfades einfach in den Wildbach geschwemmt und ihn an einer anderen in der Breite mehrerer Häuser vermauert, d.h. eine mächtige Schlaglawine, die das durchnäßte Erdreich des rechtsseitigen Hanges über den Felsuntergrund hinabschob, hatte sich über den Weg in's Bachbett ergossen. Es gelang uns indes, beide Hindernisse zu überklettern, ohne daß wir nöthig gehabt hätten, unseren ersten Gedanken auszuführen, d. h. Schuhe und Strümpfe auszuziehen und den ziemlich reißenden Bergbach bis zu der Stelle zu durchwaten, wo der Pfad wieder begann. Wir sanken zwar bis an die Knöchel in den Schlamm, der noch keine feste Kruste gebildet hatte, aber höher stieg der braune Brei nicht, und Bergschuhe machen sich nicht viel aus einem Bad im Bach und daraus, nach demselben mit einem Bündel Gras abgerieben zu werden.
Wie außerordentlich wenig Menschen den Weg von San Romedio nach Don zurücklegen, geht wohl daraus hervor, daß man weder in San Zeno noch in Cles etwas von der Wegzerstörung wußte; auch in Don war sie unbekannt gewesen und doch war sie schon eine Woche alt.
In dem einsamen schmalen Bachthale hatten wir überall lieblich duftende Alpenveilchen gefunden und ein ziemlich reges Vogelleben beobachtet. Die eigentliche Schlucht ist so enge, daß man, von der entgegengesetzten Seite kommend, den Eingang in dieselbe leicht übersehen kann; in derselben springt, plötzlich und unerwartet in dieser Einsamkeit, auf einer hohen, steilen Felsecke, am Zusammenflusse zweier Bäche, die Einsiedelei in die Augen. Links am Eingang befindet sich ein Wirthshaus, rechts das Gebäude des Priorats, das schon seine 600 Jahre alt ist. Durch den Hof zwischen beiden Baulichkeiten, die einträchtig bei einander stehen, steigt man aus einer Kapelle in die andere zum Allerheiligsten empor. Wie schon aus dem Vorhandensein des Wirthshauses hervorgeht, wallfahrten zur Sommerszeit viele Andächtige hierher. Hat man die Einsiedelei hinter sich, so wird die Schlucht so enge, daß die steilen, triefenden Wände fast auf einander zu fallen scheinen; tritt man heraus, so klappert eine Mühle und jenseits derselben kochen die Trauben im Sonnenbrand. Bald ist dann San Zeno erreicht, in die berühmte gothische Kirche des Ortes traten wir auf einen Augenblick ein und betrachteten uns eine Marmorurne mit der Asche dreier Heiligen, die hier im Jahre 397 von den Heiden erschlagen worden sein sollen. Die schöne Straße munteren Schrittes verfolgend, gewahrten wir bald die prächtige Brücke, welche in einem gewaltigen Bogen die tief eingerissene Schlucht des Noce überspringt und hinüber nach Cles führt. Der Blick von der Brücke in die furchtbare Tiefe ist schwindelerregend: wie ein schmales Silberband windet sich unter ihr der Noce durch die steilen Wände. Früher wurde dieser Verkehr durch die weiter unten gelegene Brücke Ponto alto (hohe Brücke) vermittelt, die man aber weggenommen hat; überall an der Straße machten Tafeln darauf aufmerksam, dass Ponto alto nicht mehr existire, und dieser Hinweis ist so überflüssig nicht, denn an den Bauern in den einsamen Hochthälern gehen schließlich auch so wichtige Dinge, wie die Eröffnung einer neuen Brücke – mag sie zehnmal ein Wunder der Technik sein – leicht spurlos vorüber. So sind, als Ponto alto noch stand, aber schon ohne Geländer und mit theilweise beseitigtem Belage, einige Bauern, die eine gerichtliche Vorladung nach Cles erhalten hatten, in dunkler, nebliger Nacht ohne jede Ahnung der ihnen drohenden Gefahr, ohne Ahnung davon, daß ihr Leben an einem Haare hing, den altgewohnten Weg über Ponto alto gefahren und dank dem glücklichen Instinkt ihrer „Rösser“ glücklich drüben angelangt. Ein Seitenstück zum berühmten Ritt über den Bodensee! In Cles hatte man ihnen lange nicht glauben wollen, daß sie den Großväterweg gefahren seien, und als sie sich später Ponto alto in halb abgebrochenem Zustande ansahen, haben sie sich schaudernd abgewandt und wahrscheinlich ihrem Schutzheiligen mehr als eine Kerze gespendet, um ihm für ihre wunderbare Rettung zu danken.
Um die Mittagsstunde langten wir in Cles an und kehrten im „Schwarzen Adler“ ein, dessen kaiserlicher Doppelaar herausfordernd in die Straße hinaushängt und den Italianissimi täglich und stündlich ein Dorn im Auge ist; sie schreien Verrath und möchten das Gasthaus in Verruf erklären, weil - es auch die Eigenschaft einer Studentenherberge des deutschen und österreichischen Alpenvereins erworben hat. Von Cles bis Malé konnten wir den Stellwagen benutzen, und nachdem wir unsere Rucksäcke mit köstlichem Obste vollgestopft hatten, machten wir es uns im Vordersitze bequem und lauschten den Neckereien, welche der Postillon mit einem hübschen Landmädchen austauschte, die trotz ihrer brennend schwarzen Augen jedenfalls nur ein blinder Passagier war. Sie hatte in Cles Einkäufe gemacht und nahm es nicht übel, dass wir ihr Körbchen durchstöberten; es enthielt – wohlriechende Seife und elegante Briefbogen und Couverts, an denen die Chromo-Lithographie ein Uebriges gethan hatte; der Schatz weilte also augenscheinlich in weiter Ferne, asphaltirte vielleicht sogar eine Straße im barbarischen Deutschland, während zwei Barbaren, seine Auserkorene vor sich, mit derselben auf einer der schönen Straßen hinrollten, mit denen die österreichische Regierung den Südtyrolern und ihren unsinnig geprügelten Muli (Maulthieren) so landesväterlich unter die Arme greift.
In Malẻ, das wir in der ersten Dämmerung erreichten, bot man uns diensteifrig eine carrozza zur Weiterfahrt an, doch waren wir viel zu froh, endlich wieder marschiren zu können, und guten Muthes gingen wir durch die weiche Dämmerung dem ungefähr eine Stunde entfernten Dimaro zu, das für diese Nacht unser Quartier bilden sollte. Lange grüßten die Lichter des Ortes zu uns herüber, ehe wir über die Brücke des Noce unseren Einzug in das echt italienische, finstere Gewinkel und in die „Corona“ (Krone) hielten.
Spricht man auch das Italienische ganz leidlich und ohne besondere Schwierigkeit, so thut’s doch wohl, plötzlich unerwartet aus dem Munde eines hübschen Wirthstöchterleins in ganz korrektem Deutsch nach seinen Wünschen für das Abendessen gefragt zu werden. Die Wirthe in Welschtirol verstehen sich auf ihren Vortheil und schicken ihre Töchter auf ein Jahr nach Bozen oder nach Innsbruck, damit die Dolomitenkletterer, die immer häufiger aus dem Norden angewandert kommen, nicht genöthigt sind, ein mehr oder minder fragwürdiges Italienisch radebrechen zu müssen, oder sie halten wenigstens eine des Deutschen mächtige Kellnerin, die, wenn der deutschen Gäste viele sind, eine gewisse Machtstellung im Hause erlangt. Wir waren auch bei der hübschen Illuminata gut aufgehoben und haben fürstlich geschlafen; die Erwerbung von Insektenpulver war uns zwar in Cles gelungen, aber die Betten im besten Zimmer der „Corona“ waren über jeden Verdacht erhaben. Unser nächstes Marschziel war Madonna di Campiglio, der Monte Spinale und Pinzolo im Val Rendena: eine scharfe Tagestour, so daß wir in aller Frühe ausrückten. Mein Reisegefährte hatte die Uhr in der „Krone“ zurückgelassen und wir waren schon eine gute Viertelstunde aufwärts gestiegen, als es dem uns in athemloser Eile nachsetzenden Stubenmädchen gelang, uns durch Rufen zum Stehen zu bringen; das hübsche Kind wollte nicht einmal eine kleine Belohnung annehmen, als es uns mit hochrothen Wangen die Uhr aushändigte, was ich ausdrücklich erwähnen will, da man den Italienern im Allgemeinen eine große Empfänglichkeit für Trinkgelder nachrühmen muß. Erst durch schönen Wald, durch dessen Lücken links düstere, bizarre Dolomitenzacken und Felsentürme ernst hereingrüßten, dann über die weiten, welligen Flächen der Alpe Ginevra gelangten wir an einen Wegweiser, der nach dem Val Crosté und dem Monte Spinale zeigte. Der blauen Markierung folgend, erreichten wir durch wilden Wald, in welchem die Bäume da, wo sie gefallen waren, auch vermoderten, und in welchem eine Tafel, laut welcher die Jagd reservirt ist, die einzige Erinnerung an die Zivilisation bildete, das ausgedehnte, aus vielen Hebungen und Senkungen bestehende und mit Heustadeln und verlassenen Sennhütten übersäte Plateau und die Spitze, deren „Steinmandl“ wir noch etwas erhöhten und gegen die Stürme zu festigen suchten, die in einer Höhe von etwas über 2000 Metern gehörig toben mögen, wenn sie aus den Schluchten der Brentagruppe herüberbrausen.
Mein Freund kam hier den Dolomiten zum ersten Male so nahe, daß ihre todtenähnliche Starrheit und eigenthümliche Wildheit den tiefen Eindruck auf ihn machte, dem sich Keiner zu entziehen vermag, der ihnen zum ersten Male entgegentritt. Ueber den grünen Wällen der Ginevra-Alpe ragten die schneeigen Häupter der Presanellagruppe auf, und wir würden uns schwer von diesem prächtigen Punkte getrennt haben, wären wir nur einigermaßen mit Lebensmitteln versehen gewesen. So aber ergab die Inventur, welche wir in einer verlassenen, offenen Hirtenhütte bezüglich des Inhalts unserer Rucksäcke anstellten, ein wahrhaft klägliches Resultat. Neben einigen Stückchen des charakterlosen, blasigen Weißbrotes, das man überall vorgesetzt bekommt und das ich in frischem Zustande überhaupt noch nie zu erlangen vermochte, gab es nur ein Endchen Wurst, das noch aus der Heimat, ein Restchen Rostbraten, das aus Mitterdorf-Kaltern stammte und von dem ich heute noch nicht begreife, warum ich es nicht längst einem der hungrigen Köter zugeworfen hatte, die sich mit eingeklemmtem Schwanze und stets auf der Flucht befindlich in den italienischen Dörfern herumtreiben und die ihr Dasein fristen, so gut sie eben können. Einige Birnen und eine halbe Flasche lauwarm gewordenen Rothweines vervollständigten das Mahl, das wir in dem Blockhause einnahmen, und doch hat uns schwerlich die opulenteste Mahlzeit je nur halb so gut gemundet, wie dieses unzulängliche Kompromiß zwischen dem hungrigen Magen und dem schmalen Vorrath. Ich glaube, selbst die Ochsenhirten, die während der paar schönen Monate hier oben die urwüchsigste Sommerfrische genießen, sind keinen Mittag so übel daran gewesen, wie wir. Sonst führen sie ja ein primitives Dasein. Ein abgerinderter Baumstamm, der drehbar in den Boden gerammt war, streckte einen stehen gelassenen, starken wagerechten Ast über die kleine Bodenvertiefung, die als Feuerstätte diente. An diesem Ast hingen sie augenscheinlich den Kessel auf, in welchem sie die unvermeidliche Polenta bereiteten, und drehten den Baum zur Seite, wenn die Götterspeise nicht mehr der vollen Hitze bedurfte. Ihre Lagerstätten bestanden aus mit welkem Laube gefüllten offenen Kästen, auf deren Rändern wir bei unserem kargen [264] Mahle saßen, und durch die Fugen und die offene Fensterluke hatte der Höhenwind ungehinderten Zutritt.
Neben solchen Behausungen sind die Schutzhütten des Alpenvereins freilich Paläste, und man wird verstehen, daß ich nicht erstaunte, als ein Hirt und seine Tochter, die mich einst in der neuen Regensburger Hütte, angesichts der Geißlerspitzen (im Grödener Thale), aufsuchten und um die Erlaubnis baten, das Innere der Hütte zu besichtigen, vor dem Eintritt die pfundschweren, groben Nagelschuhe von den Füßen streiften und nur barfuss den wohnlich ausgestatteten Raum zu betreten wagten.
Den Abstieg haben wir nach Turnerweise, und da kein besorgter Führer unseren Uebermuth zügelte, querfeldein laufend und springend ausgeführt, durch kniehohes Gestrüpp von Alpenrosen, Preisel- und Heidelbeeren und Haidekraut. Nur ab und zu wurde Halt gemacht, um eine Handvoll blauweißer, duftender, hochreifer Heidelbeeren zu pflücken, die eine ungewöhnliche Größe hatten. Die Praxis belehrte uns gleichzeitig darüber, daß die Beeren der Alpenrose und die Preißelbeeren einander zwar sehr ähnlich sehen, aber sehr verschieden von Geschmack sind. Durch schönen Wald erreichten wir auch glücklich die Straße wieder und hielten in der Nachmittagsgluth unseren Einzug im „Albergo Dante Alighieri“ in Madonna di Campiglio. Im „Grand Hotel des Alpes“, welches im Sommer und Herbst sehr besucht zu sein pflegt, herrschte Todtenstille und alle Thüren und Fenster waren geschlossen. Die letzten Gäste waren, wie wir schon in Dimaro erfahren hatten, durch den panischen Schrecken verjagt worden, welchen das wohl beglaubigte Auftauchen zweier Bären verbreitet hatte. Einer dieser zottigen Gesellen sollte eine ganze Schafheerde an den Rand einer Schlucht gejagt haben, in welche sich die geängstigten Thiere kopfüber stürzten, und die eleganten Sommerfrischler trugen natürlich kein Verlangen, auf einer Frühpromenade an einer Krümmung des Weges plötzlich mit einem tiefen Gebrumm begrüßt zu werden: es war wirklich lächerlich leer in Madonna di Campiglio. Auf dem freien Platze vor dem Hotel vertrieben sich ein paar malerische Lazzaronigestalten die Zeit mit dem geliebten Kugelspiel Boccia, dessen Geheimnisse nicht auf den ersten Blick zu ergründen sind. Wir hatten sofort ein Zuschauerpublikum an ihnen, als wir an einem baufälligen Reck verwegenster Konstruktionen einige Aufzüge und Wellen probierten. Im „Dante Alighieri“ spielte eine Anzahl Arbeiter aus der nahen Sägemühle Karten und sie machten nach italienischer Art für hundert Gulden Lärm, während sie Alle für fünfzig Kreuzer verzehrten. Wir begnügten uns also damit, einen Liter Weißwein zu trinken und setzten dann unseren Marsch nach Pinzolo fort, den Magen auf den Abend vertröstend. Eine Art Sommerkneipe am Wege empfahl „Birra di Blumau“, und da das Blumauer Flaschenbier der beste Tropfen ist, den man in Tirol vorgesetzt bekommen kann, so vermochten wir der Lockung nicht zu widerstehen. Die Leute waren im Begriff, ihre Bude bis zur nächsten Saison zu schließen, brachten aber richtig noch eine Flasche Bier zum Vorschein und - konnten sich Glück dazu wünschen, es nicht mit Münchnern zu thun zu haben. Ohne Verbal- und Realinjurien wäre es in diesem Falle kaum abgegangen, denn ein durch mehrtägige Bierentziehung gereizter Bayer hätte in diesem Gebräu, das saurer geworden war, als das Gemüth einer alten Jungfer nur immer sein kann, schließlich ein boshaftes Attentat auf Leben und Gesundheit gewittert. Wir aber waren viel zu glücklich, um unserem Urtheil eine andere Form, als die eines Opfers an die unterirdischen Götter zu geben: wir gossen also die Brühe aus und setzten unseren Stab fürbaß, führten auf der herrlichen Straße parodierend den Parademarsch aus und sandten der Brentagruppe, die für diesmal nicht auf dem Programm stand, wie verführerisch sie auch herüberwinken mochte, manchen bewundernden Gruß. Wir waren weit davon entfernt, müde zu sein, als wir im ersten Abendgrauen in Pinzolo einrückten, und doch hatten wir dreizehn Stunden Marsch hinter uns und keinen warmen Bissen im Leibe, ja, ein zehnjähriger Schulknabe würde das Quantum Nahrung, das uns überhaupt zur Verfügung gestanden hatte, kaum als ein hinlängliches zweites Frühstück für sich anerkannt haben.
Die Kirche, in der Gottesdienst gehalten wurde, war derart überfüllt, dass die Betenden bis heraus auf die Straße knieten, darunter Frauen und Mädchen, denen der um Kopf und Schultern drapierte Schleier allerliebst stand. In der Kirche hätten wir auch den Führer finden können, der uns an den Mandrongletscher, nach der Leipziger Hütte und auf den Adamello führen sollte; wir fragten in seiner Wohnung vergebens nach ihm, man versprach uns aber, ihn nach der „Corona“ zu senden, damals dem Hauptquartier der Sektion Leipzig. Der Wirth hatte zwar als Freiwilliger unter schwarz-gelben Fahnen mit gegen die Schaaren Garibaldi's gefochten, sprach aber ebenso wenig Deutsch als sein Sohn und Erbe, der doch alle Veranlassung hätte, so viel Deutsch zu lernen, daß er mit seinen Gästen sich verständigen kann; und diese Gäste sind überwiegend Deutsche, denn das Bergsteigen gehört nur bedingungsweise zu den Gewohnheiten der sparsamen Italiener. Sie sind zu allen Zeiten gute Rechner gewesen und sehen nicht ein, warum man für das Anrecht darauf, in eine Gletscherspalte zu stürzen oder durch eine Schneewächte zu brechen, drei bis fünf Gulden Führerlohn bezahlen soll. [270] Wir hatten es also mit der Kellnerin zu thun, einer munteren Italienerin, in deren Munde das Tyroler Deutsch höchst drollig klang, die nur lachte, als wir auf dem Balkon Nüsse fanden, die zum Trocknen hingeschüttet waren, und uns davon so viele aneigneten, als zum Dessert wünschenswerth schien, und die mir auch die Pilze, die ich aus dem Val Genova im Taschentuch mitbrachte, gratis zubereitete. Mit Rücksicht auf sie sei der Mantel der christlichen Liebe über die Rechnung gebreitet, die uns am Ende präsentirt wurde und die wiederum das rechnerische Genie der Italiener bekundete, das in der doppelten Buchführung seinen reinsten Ausdruck gefunden hat.
Der Führer Giacinto Collini stellte sich ein, als wir beim Abendessen saßen und erklärte sich nach einem prüfenden Blicke, der eine Inventur aller unserer physischen und moralischen Eigenschaften aufzunehmen schien, bereit, uns auf den Adamello zu führen; einen zweiten Führer müßten wir freilich mitnehmen, auch wenn wir unser Gepäck selber trügen. Der Adamello gehört allerdings zu den Spitzen, die eigentlich für jeden Touristen zwei Führer erfordern, und im Oktober ist die Sache der Schneestürme wegen doppelt ernst zu nehmen. Es kann ja auch einem Führer etwas Menschliches passieren und ohne Führer ist man dort oben verloren.
Zeitlich am anderen Morgen machten wir uns reisefertig und fanden nach eingenommenem Frühstück, für das treulich gesorgt war, in der „Kuchel“ unsere beiden Führer: Giacinto Collini, hoch in den Vierzigern, mit leicht angegrautem Haar, aber wetterfest und kräftig, elastisch und aufrecht; man hatte sofort Vertrauen zu ihm; der Träger und Führeraspirant mochte ein hoher Zwanziger sein und hatte bei den Kaiserjägern seine drei Jahre gedient; er war gefällig und unverdrossen und wir sind mit Beiden in jeder Hinsicht zufrieden gewesen.
Da der Tag uns doch nur bis zur Leipziger Hütte, dem Rifugio (Schutzhaus) di Mandron, bringen konnte, hatten wir es mit dem Aufbruche nicht weiter eilig; wir sind aber doch um sieben Uhr aufgebrochen, in ziemlich dichtem Nebel. Die am Mandrongletscher entspringende Sarca, welche das Thal durchtost, hat dasselbe weithin mit Gestein und Geröll bedeckt und die grünen Matten von einst für immer vermurt; man hat den Wildbach zwar durch Steindämme wieder eingeengt, aber beim nächsten Hochwasser wird er dieselben überfluthen und neue Schichten von Gestein auf den alten ablagern; die gedankenlose Waldverwüstung scheint allen Thälern Tyrols dieses Schicksal bereiten zu wollen, ganz abgesehen davon, daß bei der Verwitterung der Dolomiten schon nach jedem starken Regen ein Theil des Schuttkranzes, der diese Berge umgiebt, mit den Wildbächen in's Thal geschwemmt wird. Um nach dem Mandronferner zu gelangen, hat man das fünf [271] Stunden lange, wegen der Lawinengefahr fast unbewohnte Val di Genova zu durchwandern, das bei dem angeblich von Karl dem Großen erbauten Kirchlein San Stefano mit Edelkastanien beginnt und sich in fünf Stufen, die man nach und nach, theilweise ziemlich mühsam, über loses Granitgetrümmer und erratische Blöcke und durch kleine Gießbäche zu erklimmen hat, bis zu den Regionen des ewigen Eises erhebt.
An dem schönen, stolzen Fall des Nardisbaches vorüber, wo auch der Anstieg nach der Presanella beginnt, erreicht man, vielfach durch schönen Wald, die Malga di Bedole (Malga heißt ungefähr Alm), welche wegen ihrer Bergumrandung erst der sehr hochstehenden Sonne zugänglich wird. Hier erhebt sich die Klubhütte des Tridentiner Alpenvereins, und da wir unterwegs nur eine kurze Frühstücksrast gehalten hatten und noch drei Stunden ziemlich scharfen Steigens vor uns lagen, würden wir hier auf jeden Fall eine Pause haben eintreten lassen, auch wenn die Scenerie nicht eine über alle Maße großartige, ja in den Alpen wohl einzige wäre.
Im Rücken Wald, rechts und links mächtige, theilweise bewaldete Wände, vor uns die freundliche italienische Hütte und hinter dem prächtigen Lärchenwalde, der sie umgiebt, die Vedretta del Mandron (Vedretta = Gletscher), deren Eisstrom aus einem engen Felsschlunde hervorbricht und wie ein blauer Mantel über die Felsen herabhängt. Andere Gletscher schieben sich mit sanftester Neigung hinab in's Thal; hier hat man es mit einem jähen, steilen Absturz zu thun, und infolgedessen oberhalb der Absturzstelle mit einer fortwährenden Verwerfung, Spaltung und Berstung der in stetem Fluß befindlichen Eismasse. Der Gletscher bildet Blöcke, Würfel, Zinnen, Thürme, Pyramiden, kurz alle erdenklichen Formen, die in grenzenlosem Wirrsal durch- und übereinander liegen, und jede Nacht reißen neue gähnende Klüfte auf, jeden Morgen brechen Thürme donnernd zusammen. Das Eis blitzt bald silbern im Sonnenlicht, bald hat es blaue, graue und grüne Tinten; über dem Gletscherfelde aber erscheinen die Spitzen des Mandron alto, der Lobbia bassa und des Monte Menicigolo, der den zweiten Gletscher, die Vedretta della Lobbia, fast ganz verdeckt; erst vom Wege zur Leipziger Hütte aus wird er sichtbar und vervollständigt das gewaltige Bild. Und damit es in dieser selbst den Stolzesten erdrückenden Umgebung auch an der ernsten Mahnung nicht fehle, erhebt sich mitten auf der ebenen Alpe ein Kreuz zum Andenken an den unglücklichen Professor Mighetti, der in den Wäldern beim Botanisiren durch Absturz den Tod gefunden, sich "zerfallen" hat, wie der bezeichnende Ausdruck der Aelpler lautet.
Die italienische Hütte nimmt sich fast etwas kokett aus und gleicht eher einer Sommerfrische, als einer Schutzhütte, sie hat allerdings auch weniger auszuhalten, als der feste, ernste Bau, den die Sektion Leipzig drei Stunden höher neben die kleinen Mandronseen (in Tirol wird jeder Tümpel „See“, jede Kracke „Roß“ genannt, zur Ausgleichung dafür, daß Berge, wie der Brocken, noch als Col [Hügel] gelten) gesetzt hat, und in die man noch im Juni nur durch eins der Schießscharten ähnlichen Fenster gelangen kann, weil die Thür immer mit einer zolldicken Eiskruste versehen ist, die mit den Pickeln losgeschlagen werden muß. (Inzwischen hat man ein großes, einstöckiges Haus neben den alten Bau gesetzt, der nur noch als Führerunterkunft dient.) Neben dem Rifugio di Bedole haben die Trientiner eine Art Laube erbaut, hart am rieselnden Quell; wir waren boshaft genug, dieselbe „die Seufzerlaube“ zu taufen, denn ihre sonstige Bestimmung erschien uns unerfindlich. - Möglich, daß man an einem schönen Sommerabend in dieser Laube einen Romeo und eine Julia aus Mailand oder Brescia antrifft, die sich bei Mandolinengeklimper ihre Unzertrennlichkeit klar zu machen suchen. In der mit Lebensmitteln gut versehenen Hütte fehlte es auch nicht an Jagdgewehren, die wohl Führern oder Hirten gehören mochten.
Wir hatten den von der Sektion Leipzig erbauten schmalen, aber sicheren und an kritischen Stellen besonders verstärkten Pfad schon eine Stunde aufwärts verfolgt, der Wald hatte bereits aufgehört, und nur einzelne Stämme klommen noch an den Hängen empor, als mir der Zustand einiger verfaulter hohler Stümpfe dicht am Wege auffiel. Ich schenke solchen Stümpfen, weil sie häufig Käferherbergen sind, stets meine Aufmerksamkeit, und so musste es mich frappiren, daß ich in dieser Einsamkeit mehrere solcher Stümpfe mit größter Gewalt total auseinandergerissen und zerstört fand. Sollte hier vor einigen Tagen ebenfalls ein Käfersammler gewandert sein und mit dem Pickel in die morsche Welt hineingestöbert haben? Das war doch gar zu unwahrscheinlich; es fehlte mir aber an jeder anderen Erklärung, bis mir an einer feuchten und erweichten Stelle des sonst festen Weges der deutliche Abdruck einer Bärentatze auffiel. Die Fußspur solcher Sohlengänger ist so charakteristisch, daß jeder Zweifel ausgeschlossen war. Nun begriff ich auch den Zusammenhang: Der Bär wechselte hier herüber und hatte auch die Stümpfe zerkratzt, um zu den innen hausenden Ameisenkolonien zu gelangen. Ich zeigte stumm mit dem Pickel auf den Abdruck der Tatze. „Sapristi – e’ l’orso!“ (“Teufel, der Bär!”) rief der Führer wie elektrisirt aus und entwarf sofort einen Jagdplan, der unmittelbar nach seiner Rückkehr nach Pinzolo in's Werk gesetzt werden sollte und auch wirklich in's Werk gesetzt worden ist. Als wir drei Tage später den Stellwagen bestiegen, um nach Tione di Trento und dem Gardasee zu fahren, rückte ein volles Dutzend Jäger nach Bedole, um dem Bären das Lebenslicht auszublasen. Der Zug hat übrigens keinen Erfolg gehabt. Der arme Meister Petz ist vorläufig davor bewahrt geblieben, neben dem Schicksalsgenossen Platz zu nehmen, der uns in einem Zimmer der Dependence der „Krone“ gezeigt wurde und der, wie man uns erzählt, drei Jahre vorher im Val di Genova erlegt worden war.
Die immer großartiger und wilder werdende Szenerie ließ die Witze über ein mögliches Zusammentreffen mit dem Bären bald verstummen. Die einzigen lebenden Wesen, deren wir noch ansichtig wurden, waren ein paar Schneehühner, die wir aus einer Bodenvertiefung dicht neben dem Pfade aufscheuchten, und ein Rothschwänzchen, das die nächste Umgebung der Hütte mit seinem Gezwitscher erfüllte. Es war etwa drei Uhr, als wir die Hütte erreichten, deren man nicht früher ansichtig wird, als bis man fast vor ihr steht. Der Blick, den man von der Steinbank vor der Hütte auf den Mandron- und Lobbiagletscher hat, ist reicher Lohn für einen Tagesmarsch, und immer wieder kehrten wir aus dem Inneren der Hütte auf die Steinbank zurück und versanken in stummes Anschauen all’ der Herrlichkeit und finsteren Pracht. Die Führer hatten indeß Feuer gemacht und kochten Erbswurst, die sie doch der Polenta vorzogen.
Ich wählte aus den Vorräthen der Hütte noch eine Gulyaskonserve, ein Huhn hatten wir von Pinzolo mitgebracht, und so brauchten wir denn unsere Leibern keine Stiefmutter zu sein und konnten uns ausgiebig für die Strapazen des nächsten Tages stärken. Das Wetter war prachtvoll, der Himmel tiefblau und wolkenlos, die Fernsicht durch keine Spur von Dunst beschränkt; mich litt es also nicht in der Hütte, und da die nahe Cima di Presena nicht mehr zu erreichen war, so schlug ich den Führern vor, wenigstens bis zum Lago scuro (dem finsteren See) und in der Richtung des Passo dei camosci (Gämsenpass) emporzusteigen. Mein Freund, der das vom Fußansatz aufwärts etwas schmerzende Bein nach Möglichkeit schonen wollte, blieb zurück. Er wollte für's Hüttenbuch eine Skizze der Gletscher entwerfen, die, mit einer früheren verglichen, das Vorrücken oder Zurückgehen der Gletscher und die Verringerung oder Vermehrung ihrer Masse illustriren sollte. Ueber wüste Trümmer jeden Kalibers, die den Gedanken an einen Gipfeleinsturz nahe legten, stiegen wir, einen Wall nach dem anderen überkletternd, bis zu dem tintenschwarz und regungslos in der Abendbeleuchtung daliegenden See empor und jenseits desselben noch ein Stück hinauf, bis das Sinken der Sonne zur Rückkehr mahnte und der warme, rosige Hauch, der die stolze Spitze der Presanella umfloß, zum frostigen Weiß verblich. Eisig wehte es jetzt von den Gletschern herüber und man suchte gern die behaglich durchwärmte Hütte auf, um noch ein Glas Glühwein zu trinken und dann um 8 Uhr unter die schweren, wollenen Decken des Matratzenlagers zu kriechen. Das geschah aber erst, nachdem wir aus Insektenpulver eine chinesische Mauer um uns errichtet hatten, deren Ueberschreitung den braunen Springern, an denen es in diesen Hütten wirklich auch nicht fehlt, herzlich sauer hätte werden sollen.
Das sägende Schnarchen des jungen Führers ließ mich nicht einschlafen; ich habe nur Viertelstunden lang in leichtem Halbschlummer gelegen und war ganz zufrieden, als Giacinto halb 3 Uhr zum Aufbruch blies. Die Tour nach dem Adamello muss jedenfalls so zeitig angetreten werden, damit man den Gletscher wieder hinter sich hat, ehe die Schneebrücken, auf denen man die Spalten überschreitet, von der Sonne zu sehr erweicht sind, um die Last eines Menschen sicher zu tragen. Schlag 3 Uhr brachen wir denn bei Mondenschein auf, Giacinto mit der Laterne voran. Der Weg führte lange Zeit durch ein Trümmermeer, wie das oberhalb der Hütte; man wand sich zwischen Blöcken durch, balanzirte auf ihnen hin, überkletterte sie, glitt an ihnen herunter und setzte in jedem Falle den Fuß genau dahin, wo vorher der des Vordermannes stand - ein Fehltritt und eine Sehne war angerissen oder gedehnt und mit der Hochtour war es aus. Immerhin bleibt dieses vorsichtige Marschiren, diese gespannte Aufmerksamkeit auf jeden Schritt, den der Führer thut, etwas äußerst Ermüdendes, namentlich wenn Laternen- und Mondlicht einander die Herrschaft streitig machen. Voraus ging Giacinto, dann kam ich, als Dritter mein Freund, den Schluß bildete der zweite Führer; unsere Rucksäcke waren in der Hütte zurückgeblieben und die Führer hatten die ihrigen nach Möglichkeit erleichtert; sie enthielten nichts als eine Flasche Wein und etwas Proviant.
Endlich war die Steinkletterei vorüber und wir standen am Rande des Mandrongletschers. Die Laterne wurde ausgelöscht und zurückgelassen; von jetzt ab verbreitete die leuchtende Mondsichel genügende Helligkeit. Dafür wurden wir in der bisherigen Reihenfolge um die Brust angeseilt, eine Vorsicht, die bei Gletscherwanderungen unerläßlich ist. Werden die richtigen Entfernungen innegehalten und bleibt das um den linken Arm geschlungene Seil von Mann zu Mann schlaff, so mag immerhin Einer in eine verschneite Spalte stürzen. Die drei Anderen werden immer im Stande sein, ihn zu halten oder ihn wenigstens wieder herauszuziehen; ist das Seil straff gespannt, so kann der unerwartet Stürzende seine Nachmänner allerdings zu Boden reißen, und dann kann die Sache bedenklich werden. Der Gletscher war mit frischem Schnee bedeckt, in dem sich gut marschiren ließ; man benutzt so viel als möglich die Spur des Vordermannes und hält überhaupt Schritt. Vom Adamello noch keine Spur; der Corno bianco (das Weißhorn) verdeckt ihn vollständig. Der sanft geneigte Gletscher, über den die österreichisch-italienische Grenze läuft, wird von ziemlich viel Spalten durchsetzt, die aber nicht allzu breit sind und nur an den Enden grün auseinander klaffen. Oft und oft musste Giacinto, wenn er mit sondirendem Pickel die Schneebrücke sofort durchstoßen hatte und dieser in's Leere fuhr, an mehreren anderen Stellen probiren, ob der Schnee in der Spalte größere Dichtigkeit hatte – schließlich fand sich aber doch immer eine Brücke, die hielt. Oft und oft ging er wie auf Eiern über die Brücke und rief uns warnend ein „Adagio!“ (sachte!) zu. Man kann sich denken, wie gewissenhaft solche Mahnungen befolgt wurden. Einmal gingen wir auch bis an den Rand einer offenen Spalte, um einen Blick in die gähnende, grüne Tiefe zu werfen, die wie der Eingang zu der Eiskönigin unterirdischem Palaste sich aufthat - furchtsame Menschen mit schwachen Nerven thun aber besser, davon zu bleiben: man bringt sie sonst über keine Schneebrücke mehr. Die ganze Landschaft ist vollständig arktisch; am Nordpol kann es auch nicht anders aussehen, und Payer hat auf seiner Nordpolfahrt sicherlich so manches Mal an die Augusttage gedacht, in denen er die Adamello–Presanella- [272] gruppe gewissermaßen entdeckte und die überhaupt erste Besteigung des Corno bianco und des Adamello ausführte. Man hat das Reich des Schnees und des Eises, des Todes und des Schweigens betreten, wenn man diese, in weichen, breiten, schön geschwungenen Wellen verlaufenden, grenzenlosen Schneefelder überschreitet; aus dem blendenden Schnee ragen die nackten, schwarzen Feldspitzen unvermittelt und trotzig empor und werfen Schatten von unheimlicher, weil nie gesehener Tiefe und Schärfe. Es ist eine dem kecken menschlichen Fuße sich feindlich verschließende Welt, deren Grenzen man überschritten hat und in der man wie von einem Taumel ergriffen vordringt. Selbst der Schall der menschlichen Rede wird in der dünnen Luft zum tonlosen Geflüster, als nehme sie eine Geisterhand uns unwillig vom Munde weg. Ich glaube gern, daß Viele von Schwindel, Kopfschmerz, Uebelkeit und Apathie, also von der Bergkrankheit in ihrer reinsten Form, befallen werden. Davon haben wir allerdings nichts zu erzählen; frisch und leicht schritten wir dahin, die Stadtlungen atmeten mit Entzücken die reine, herbe Luft, und daß die Gesichtsfarbe nach und nach in Rothbraun und Mahagoni überging, infolge des grellen Reflexes des Sonnenlichtes auf den blendenden Schneefeldern, belustigte uns nur; was schadete es, wenn die Haut barst und das Gesicht sich schälte, trotzdem wir uns Hals, Gesicht und Hände mit Vaseline eingerieben hatten? Sich einen Schneesturm in diesen Regionen vorzustellen, macht nervös. Giacinto erzählte uns, daß einige Wochen vorher ein Regen- und Schneesturm losbrach, als er vom Corno bianco der Hütte zustrebte, und daß derselbe einen „Adler“ (wohl einen Falken) erfaßte und ihn wie einen Fetzen auf das Schneefeld zu unserer Rechten warf. Da lag er noch mit ausgebreiteten Schwingen, erstickt, mit gebrochenem Nacken, todt.
Vielleicht wartete ein ähnliches Schicksal der beiden Falken, die wir lange als schwarze Punkte auf dem weißen Schneefelde beobachten konnten, die uns nahe genug herankommen ließen, um als das erkannt werden zu können, was sie waren, und die dann dem Corno bianco zuflogen, hinter dessen untersten Zackenvorsprüngen ihre spähenden Köpfe noch oft zum Vorschein kamen, als wir auf den vereisten Felsen am Fuße des Berges unser Frühstück hielten. Als wir die Stelle erreichten, von der die beiden Räuber aufgeflogen waren, fanden wir im Schnee eine Anzahl Federn, die kleinen Krallenfüßchen und das Köpfchen eines Rothschwänzchens, jedenfalls desselben, das am Abend vorher noch so sorglos die Oede um die Hütte mit den silbernen Noten seines bescheidenen Gesanges erfüllte, dessen Gezwitscher uns wie ein letzter Gruß aus der warmen, wohnlichen Welt da unten angemuthet hatte. Ich steckte den kleinen Kopf mit den geschlossenen Augen und der zerzausten, röthlichen Kehle in's flache Trinkglas, das ich in der Brusttasche der Joppe trug, mein Freund nahm die Füßchen mit, die wir vor wenigen Stunden noch so hurtig über die Steine trippeln sahen.
Die Nothwendigkeit der Rast am Corno bianco leuchtete uns selber ein, denn der Adamello war noch immer nicht sichtbar und von seinem Fuße aus begann erst die eigentliche Arbeit. Payer, damals österreichischer Mappirungsoffizier in Venedig, hat seiner Zeit den Corno bianco für den Adamello genommen und sein Führer Botteri war, als sie die Spitze erstiegen hatten, sehr stolz darauf, die „bestia brutta“ (also ungefähr „das Unthier“) bezwungen zu haben; er wurde sehr kleinlaut, als ihm Payer den wirklichen Adamello, dessen weißes Horn dort oben sichtbar war, zeigte und ihn über den Irrthum aufklärte, und er ist denn auch hübsch unten geblieben, als an der Wand des wirklichen Adamello das Stufenschlagen begann.
Und das war der berühmteste Gämsenjäger des Thals, der einzige Mensch, der in diesem Winkel einigermaßen Bescheid wußte!
Daß unser Sitz nicht zum längeren Verweilen einlud, wird man mir glauben; wir brachen bald wieder auf und drangen auf's Neue in die arktische Schnee- und Felswüste vor. Das fortgesetzte Wandern in diesem verzauberten Reiche ermüdet die Augen, die Maßstäbe gehen verloren und alle Färbungen erhalten etwas Fremdartiges und Unheimliches. So glaubten wir lange Zeit, auch zu unserer Linken dehne sich ein tiefes Schneefeld in's Unendliche aus, bis wir erkannten, daß wir weiße Wolkenmassen unter uns hatten, und daß die schwarzen Bergpyramiden nicht aus einer Schneewüste, sondern aus einem Wolkenmeer emporragten. [278] Endlich stand es vor uns in scheinbar unnahbarer Majestät, das herrliche Horn des Adamello. Wir machten unwillkürlich Halt, und die Blicke hingen bewundernd an der stolzen Form dieses Hochgipfels, aber zugleich maßen wir unschlüssig die Steile vor uns, und ganz im Stillen regte sich die Frage: „Wird’s gehen? Werden wir hinaufkommen?“ Ich war schon etwas zuversichtlicher, denn zwei Jahre vorher hatte ich den Sass Nigais, die höchste der Geißlerspitzen, erstiegen, von dem ich am Abend vorher noch ehrlich überzeugt gewesen war, man müsse ein Vogel sein, um je den Fuß auf seine zerrissenen Zinnen und Zacken setzen zu können. Die Kletterei war nicht einmal so schlimm gewesen, und nur beim Abstieg war ich mit meinem Führer auf den Geröllfeldern in's Rutschen gerathen; er hatte mich nicht am Seil erhalten können, und so waren wir Beide wider Willen abgefahren und erst auf einem kleinen Grasfleck zum Sitzen gekommen, ohne indeß weiteren Schaden davon zu tragen, als zerscheuerte Hosenböden, die uns zwangen, unseren Einzug in Sankt Ulrich auf die späte Abendstunde zu verlegen. Mein Freund dagegen, ein Neuling in den Hochalpen, konnte sich eines gewissen Grauens nicht erwehren, und ich glaube, wenn er sich nicht geschämt hätte, wäre ihm das glorreiche Beispiel Botteri's nachahmenswerth erschienen. Man hat dabei immer zu berücksichtigen, daß auch Payer's zweiter Führer, der bei der ersten Ersteigung nicht zurückblieb, nur mit Zittern und Zagen folgte und das bezeichnende Glaubensbekenntniß ablegte: „Ob ich heute oder morgen sterbe, ist mir gleich!“ Auf Tod und Leben schien’s ihm also zu gehen, und da durfte das Unternehmen dem unerfahrenen Flachländer trotz aller Beherztheit wohl etwas bedenklich vorkommen.
Der Berg fällt nach Norden in unnahbaren Steilwänden in furchtbare Tiefe ab, und mächtige Schneewächten überhingen hier die Felsrippe, welche die Nord- von der Ostseite trennt. Nach Süden erstreckt sich ein ziemlich sanfter Rücken; von Westen soll die Besteigung am leichtesten sein, doch müßte man zu diesem Zwecke den langen Rücken erst umgehen, und das wäre viel zu zeitraubend gewesen; auch der Anstieg von Süden würde sehr langwierig und ermüdend gewesen sein, da der Schnee zu fest war, als daß man Stufen hätte treten können, und das Stufenschlagen ist ein saures Stück Arbeit. Es blieb uns also nur die Ostwand, und diese erhob sich unter einem Neigungswinkel von 45 Grad vor uns, recht eigentlich wie ein Zuckerhut. Und wie Fliegen, die an einem schönen, schneeweißen Zuckerhut langsam emporkriechen, wären wir Vier wohl einem fernen Beobachter erschienen. Das Bild ist so uneben nicht: an Stelle der wunderbar organisierten Fliegenfüßchen, die das Emporlaufen an einer Spiegelscheibe gestatten, trat bei uns der mit Steigeisen ausgerüstete Fuß, der mit seinen spitzen Zacken fest in den Firnschnee greift. Meinem Freunde kam die Sache nicht geheuer vor; am meisten störten ihn die tückischen Wächten, welche rechts von uns überhingen und neben denen wir emporstiegen. Man hatte kein Urteil darüber, wo der feste Untergrund aufhörte und die im Leeren hängende Wächte begann, und brach sie unter uns ab oder brachen wir durch sie durch, so - brauchten die Geier und Adler ihren Appetit nicht an armseligen Rothschwänzchen zu stillen, die auf dem Zuge gen Süden in die Bergeinsamkeit geriethen. Aber Giacinto arbeitete ruhig und sicher, hieb mit dem Pickel Stufe auf Stufe in den vereisten Schnee, und wenn er in die fertig gewordene trat, setzte ich den Fuß in die eben von [279] ihm verlassene und der Dritte und Vierte trat ebenfalls eine Stufe höher. Das Seil unterhielt die Verbindung, und da man nur langsam vorwärts kam, hatte man Zeit, die Stufe mit der Fußspitze zu vertiefen, das Steigeisen fest in den harten, kernigen Schnee zu drücken und sich außerdem zu verankern, d.h. den Pickel nach rechts in Kopfhöhe in die Firnwand zu hauen: so hatte man den moralischen Halt des Seiles, der Fuß wurzelte im Boden, die Arme hatten einen Halt an dem mit seinen Zähnen im vereisten Schnee haftenden Pickel - und nach unten brauchte man ja nicht zu sehen. So stieg Einer über dem Anderen empor; von unten mußte es aussehen, als stehe Einer auf dem Kopfe des Anderen. Mein Freund murrte zwar unter mir: „Hinauf mag’s ja gehen, aber wegen des Rückweges habe ich die ernstesten Bedenken!“ Ich konnte ihn jedoch mit gutem Gewissen trösten: „Lassen Sie uns nur erst oben sein, abwärts geht’s ganz von selber“! und ich war mir der Zweideutigkeit nicht bewußt, die in diesem Trostworte lag.
So schiebt man sich Schritt für Schritt und Stufe für Stufe langsam empor; dicht unterhalb der Spitze hört plötzlich die ungemüthliche Steilheit auf, und sogar die Steigeisen werden entbehrlich, und auf einmal stößt Giacinto den Pickel in den Schnee und begrüßt uns auf der Spitze des Adamello, 3547 Meter über dem Meere. Da riß ich den Hut vom Kopfe und stieß einen Juchzer aus oder - suchte ihn auszustoßen, er klang nämlich in dieser Höhe dünn und tonlos wie ein ersterbendes Rufen aus weiter Ferne.
Die Aussicht ist unendlich erhaben und umfassend; sie reicht bis zu den Gajischen und Peninischen Alpen und umfasst Monte Disgrazia, Bernina, Ortlergruppe, Dolomiten, Voralpen bis zur Paduaner Ebene und Garda- und Iseosee. Um uns einen Einblick auch in die Thäler nach Norden zu gestatten, nahm mich Giacinto am Arm und führte mich vor an den Rand des Gipfels. Zwei kleine Ortschaften, eine mit hölzernen, eine mit Steinhäusern, grüßten herauf und erinnerten an Menschenlust und Menschenleid, die in solcher Umgebung recht kleinlich erscheinen und auf die man sich förmlich erst besinnen muss. Mein Freund sollte dem Führer gleichfalls an den Saum der Hochwarte folgen, seine Wächten-Aversion war aber unüberwindlich; er weigerte sich hartnäckig und hätte diesen unzuverlässigen Boden um keinen Preis betreten. Er hatte eigentlich auch Recht, denn versagte der Schnee unter uns, so ging Giacinto gerade so gut thalab, wie ich, und in den Bergen sind zehn Prozent Vorsicht zu viel weniger schädlich als ein Prozent zu wenig. Oder kann es eine bitterere Satire auf alle Erfahrung geben, als Emil Zsigmondy's Buch über die Gefahren der Alpen und sein Schicksal? Wenn Jemand die Tücken der Berge kannte, so war er es, und doch mußte er dem Schicksal verfallen, das ihm wenige Monate vorher der Führer prophezeite, der mich über's Wildgrabenjoch nach Landro und zum Monte Cristallo führte, dem Schicksal, das auch den berühmtesten aller Cristalloführer ereilt hat.
Der Gedanke an den Rückweg war der einzige Schatten, der auf diese unvergesslichen Augenblicke fiel, aber endlich mußte dieser Rückweg doch angetreten werden. Jetzt wurde die Reihenfolge umgekehrt, und zwar dienten die Anstiegstufen als Treppe, nicht als Leiter, d.h. es wurde nicht das Gesicht, sondern der Rücken der Schneewand zugekehrt. Mein Freund hätte das umgekehrte Verfahren bevorzugt, es konnte ihm dies aber nicht gestattet werden; die einzige Vorschrift war, den Fuß, der einen Schritt abwärts that, fest in die Stufe fallen zu lassen, um sie auf diese Weise etwas zu vertiefen, und möglichst wenig nach unten zu sehen, damit man nicht von einem plötzlichen Schwindel gepackt werden konnte. Die Steigeisen waren hierbei entbehrlich. Der Abstieg nimmt natürlich viel weniger Zeit in Anspruch, als der Anstieg, der durch's Stufenschlagen verlangsamt wird, und als wir wieder am Fuße unseres Zuckerhutes standen und den Blick zurück zur Spitze wandern ließen, da schien es gleich wunderbar, daß man hinauf, wie daß man heruntergekommen. Der Rückweg nach der Hütte erfolgte im vollen Mittagssonnenbrande und vervollständigte das prachtvolle Rothbraun des nackten Halses und des Gesichtes.
Die weiten Schneeflächen wurden so liebevoll von der Sonne beleckt, daß sie die Symptome der Erweichung zeigten und an der Oberfläche zu schmelzen begannen; in den späteren Nachmittagsstunden gleicht sich das wieder aus. Auf den zackigen Höhen zu unserer Linken wurden wir einiger Gemsen ansichtig; nachdem Giacinto's geübtes Auge sie ausgespäht, gelang’s schließlich auch uns, die uns in argwöhnischer Haltung beobachtenden scheuen Grattiere vom gleichfarbigen Gestein abzulösen.
Der Führer eilte jetzt: nachdem alle Schneebrücken glücklich passirt waren, durfte über große, nicht allzu steile Schneehalden kurzer Hand „abgefahren“ werden. Man stellt dabei den Pickel mit der Spitze nach unten links von sich rückwärts, so daß man mit dem Körper auf ihn drückt, setzt den einen Fuß vor und regulirt die Eile des Abwärtsgleitens durch den Pickel, der als Bremse wirkt. Das ist eine lustige Fahrt, die besonders anzurathen ist, wenn auf festem Schnee eine dünne Schicht Neuschnee liegt; natürlich muss der Körper zurückgebogen bleiben, sonst ist Gefahr vorhanden, sich zu überschlagen. Es kommt schließlich auch einmal vor, daß man sich nicht mehr erhalten kann und den Rest der Fahrt sitzend zurücklegt; dann legt man den Pickel über die Kniee und bedient sich seiner als Balancirstange oder man verankert sich, indem man die Spitzhacke in den Schnee drückt und beim Weiterfahren den Eschenstab mit beiden Händen fängt, dann kommt man leicht wieder zum Stehen. Gibt’s allerdings viele und starke Unebenheiten auf einer solchen Schneehalde, so wird das Abfahren sehr angreifend und ermüdend, namentlich das stehende Abfahren; das sitzende hat den Nachtheil, daß man sich die Hose stark durchnäßt, was wohl von Niemand zu den höheren Annehmlichkeiten gerechnet werden wird.
Liegen am Fuße der Halde viele und große Steine - und das ist gewöhnlich der Fall - so ist es besser, man läßt die Führer vorausfahren und warten; man kann sich dann nöthigenfalls von ihnen abfangen lassen und läuft nicht Gefahr, mit aller Wucht in die Steine hineinzusegeln und an irgend einen groben Block anzuprallen.
Als wir die Schnee- und Eisregion ganz verlassen hatten und aus der Seilschlinge geschlüpft waren, in der wir uns so lange hatten bewegen müssen, beschleunigten die Führer ihr Marschtempo noch mehr, damit wir bereits heißes Wasser fänden, wenn wir nach der Hütte kämen. Wenigstens war dies die offizielle Lesart; nach der meines Freundes war es die Absicht des Trägers, sich einige Momente ungestörten Alleinseins mit der halben Flasche Rum zu sichern, die mein Freund am Abend zuvor „angerissen“ hatte, um sein Bein einreiben zu können. Ich neige zwar nicht zum Mißtrauen, muß indeß zugeben, daß der Inhalt der Flasche bei unserer Ankunft auf ein Minimum zusammengeschwunden war, und daß sich der Verlust an Volumen auch beim größten Optimismus durch Verdunsten nicht erklären ließe.
Der Weg durch die Steinpartien, der uns früh so lästig gewesen war, ist sorgfältig markirt, man wird indeß der Hütte nicht früher ansichtig, als bis man fast vor ihr steht; es lagen ja Tausende von Blöcken umher, die ziemlich denselben Umfang hatten wie sie, und inmitten der gewaltigen Hochgebirgsnatur ist so eine Hütte ein verschwindend kleines Objekt. Jetzt, wo alles überstanden war, machte ich meinen Freund auf eine, mit der Messerspitze in die eiserne, äußere Hüttenthür eingeritzte Inschrift aufmerksam, welche ihre düstere Geschichte hat: „G. Rudd“ und darüber das Datum. Das ist die Spur eines in der Schnee- und Eisöde Verschollenen. Der amerikanische Maler G. Rudd war zwei Jahre vorher ohne Führer in leichter Kleidung ohne Stock und ohne Bergschuhe von Pinzolo nach der Hütte aufgebrochen; er hatte, obgleich gewarnt, nicht einmal den Schlüssel zur Hütte mitgenommen und - von der Hütte an fehlt jede, auch die leiseste Spur des Unglücklichen, obgleich die ganze Gegend auf's Sorgfältigste abgesucht worden ist, nachdem der Mann überhaupt vermißt worden war, und die Nachforschungen nach ihm ihren Weg nach Pinzolo gefunden hatten.
Die Durchsuchung ist eine umso sorgsamere gewesen, als feststand, daß Rudd eine ziemlich bedeutende Summe bei sich führte: er wollte mit derselben die Anzahlung auf eine in der Gegend von Bozen oder Meran erworbene Villa leisten. Der Gedanke an ein Verbrechen kann fast als ausgeschlossen gelten, es ist vielmehr die höchste Wahrscheinlichkeit dafür vorhanden, daß Rudd von der Hütte aus die Markirung verfolgt und am Saum des Gletschers beschlossen hat, ein Stück auf demselben fortzugehen, aber in eine Spalte gestürzt und elend zu Grunde gegangen ist. Bei der ganzen Art seiner Ausrüstung, die auf hochgradige Unerfahrenheit in alpinen Dingen schließen läßt, kann man ihm selbst ein so vermessenes Wagniß zutrauen, und das Ende war dann kein überraschendes.
Eine sorgfältige Untersuchung des baulichen Zustandes der Hütte, die ich dem Hüttenwarte versprochen hatte und die sich bis auf die Schindel des Daches erstreckte, der Tourenbericht für's Hüttenbuch und eine Karte in die Heimath nahm die Zeit nach dem Essen in Anspruch; die Dämmerung wob bereits ihre Schleier um die Hütte, als sich noch ein Schlafgast für die Nacht meldete, dem wir seiner unheimlichen Länge und Magerkeit und seines phantastischen Hütchens wegen sofort den Beinamen „Rübezahl“ verliehen. Er war allein von Pinzolo heraufgestiegen, da er ja eine Partie mit zwei Führern oben in der Hütte wußte, die ihm schlimmsten Falles auf dem Abstiege begegnet wären; nun schnaufte er aber gehörig und brauchte lange Zeit, bis er über einzelne, abgerissene Worte hinaus der Rede mächtig ward. Ich kümmere mich auf der Reise grundsätzlich nicht um Name oder Stand meiner zufälligen Weggenossen, sondern weiche der formellen Vorstellung so lange als möglich, d.h. am liebsten ganz aus; hier konnte man unschwer die Diagnose „Gymnasiallehrer“ stellen, und ich habe an dem Herrn die Hochachtung und die zarten Rücksichten bewundert, die er seinem lieben, langen Leichnam auch in den Bergen bewies; augenscheinlich war dieser Leichnam ein etwas difficiler und übelnehmischer Herr, zu dem er „Sie“ sagen mußte. Dieser Besuch kam uns insofern gelegen, als er uns Giacinto abnahm, um mit demselben die kleine Tour nach der Cima di Presena zu machen; wir konnten denselben entbehren und würden ganz gern auch den Träger abgetreten haben, da wir den Weg nach Pinzolo zurück recht wohl alleine hätten zurücklegen können.
Obgleich ich aus den Vorräthen der Hütte ein ganz gutes Abendessen zusammengestellt hatte und im Stande gewesen war, demselben kräftig zuzusprechen, während ich bei Hochtouren häufig an Appetitlosigkeit, oder doch an Widerwillen gegen konsistente Nahrung leide, ließ die Nachtruhe zu wünschen übrig. Einen gewisse Ueberreizung der Nerven ließ mich im Halbschlummer fortwährend an der Wand des Adamello klettern, wobei natürlich eine Stufe versagte, oder Einer von uns ausglitt und nur mit äußerster Anstrengung gehalten werden konnte; der tiefe, traumlose Schlaf, der allein erquickt und stärkt, blieb aus, und so begrüßte ich mit einem Gefühl der Erleichterung den Morgen, der die phantastischen Bilder der Nacht verscheuchte. Um sechs ging Giacinto mit dem Herrn Professor nach de Cima, mein Freund und ich stiegen mit dem Träger abwärts nach Pinzolo, wo wir um Mittag eintreffen wollten. Diese Rechnung sollte allerdings einer bedenklichen Korrektur unterliegen, welche meines Freundes rechtes Bein unternahm. Vielleicht hatte demselben das Abfahren den Rest gegeben, kurz, es benahm sich höchst ungebärdig. War es mir schon aufgefallen, daß mein Gefährte beim Aufbruch seinen Rucksack in den des Trägers steckte, so hatte ich bald zu bemerken, daß er beim Absteigen häufig rastete und dadurch zurück blieb; er klagte nicht, aber man sah ihm an, daß ihm der Abstieg sauer wurde. Dennoch war ich überrascht, als er, an der italienischen Hütte angelangt, plötzlich erklärte, keinen Schritt weiter thun zu können und hier liegen bleiben zu müssen, was auch daraus werden solle. Der Schmerz [280] preßte dem starken, sehnigen Manne Thränen aus, und willenlos sank er der Seufzerlaube gegenüber auf einen Hackstock und lehnte den Pickel an die Wand. Daß es sich hier nicht um eine Kleinigkeit handelte, die mit etwas Willenskraft zu überwinden gewesen wäre, war von vornherein klar; ehe diese eiserne Natur streikte, mußte es schon schlimm kommen. Wenn wir den Schlüssel zur Hütte gehabt hätten, wäre die Sache nicht so bedenklich gewesen, wir hatten ihn aber in Giacinto's Händen gelassen, und so war guter Rath teuer, denn es stand nicht fest, ob dieser über Bedole zurück kam, oder einen Richtweg hinab in's Val di Genova einschlug. In diesem Falle konnte also ein Bivouac nöthig werden, und ich überlegte bereits, wie wir uns gegen die nächtliche Kälte schützen sollten; man benutzt in solchem Falle den Rucksack als Fußsack und bindet ihn an den Knieen zu. Unser Träger, dem die ganze dumme Geschichte sichtlich fatal war, erbot sich nun, nach der mehrere Stunden entfernten Sega (Sägemühle) zu laufen und dort ein Pferd, ein Maultier oder einen Esel zu requiriren, im Nothfall würde er wenigstens eine Schleife mitbringen, auf der wir meinen Freund bis zur Sägemühle transportiren könnten. Dort sei er mindestens unter Dach und Fach, und am nächsten Morgen könne von Pinzolo ein Reitthier geschickt werden, das ihn abhole. Mir leuchtete das ein, und eilfertig wollte der gefällige Mensch davon springen; ich mußte ihn erst auffordern, seinen Rucksack zurück zu lassen, der nicht blos den unseres Fußkranken in seinen weiten Schoß aufgenommen hatte, sondern auch mit einem ganzen Sortiment leerer Weinflaschen beschwert war, die sich im Bodenraum der Hütte vorgefunden hatten, und die als herrenloses Gut annektirt worden waren. So saßen wir denn einsam in Bedole. Ich holte Wasser am Quell; der kalte Umschlag um's Bein, an dem äußerlich nicht das Geringste zu bemerken war, wurde mit maschinenmäßiger Regelmäßigkeit fortgesetzt, und ich versuchte der Situation alle Romantik und allen Humor, die ihr innewohnten, abzugewinnen, um die Laune meines Reisegefährten nicht unter den Gefrierpunkt sinken zu lassen.
Ein paar Stunden sind uns so nicht allzu kurzweilig vergangen, dann erklärte der Marode plötzlich: „Ich glaube, wenn Sie mich unterstützen, kann ich, wenn auch langsam, wieder gehen!“ Das war natürlich willkommene Kunde, denn unseren Träger konnten wir nicht verfehlen, und Zeit wurde auf alle Fälle gewonnen. Da fiel mein Blick auf den sehr umfangreich gewordenen Rucksack des Trägers, den wir doch unmöglich im Stich lassen konnten, und fast hätte ich meinen menschenfreundlichen Einfall von vorhin bereut, denn das Lastentragen ist eines von den Dingen, in denen ich sehr wenig Uebung habe und für die mir wohl auch die Qualifikation abgeht. Mit etwas bedenklicher Miene stopfte ich also die vereinigten Rucksäcke in den meinen, der dadurch gigantisch-abenteuerliche Formen annahm, nahm mein Kreuz auf mich und trat den Weg zur Sega an.
Es ging besser, als wir Beide gedacht hatten, das Bein schmerzte nur beim Abwärtssteigen und das Thal verläuft von Bedole aus relativ eben und die Thalstufen sind ziemlich sanft. Wir hatten die Sega beinahe erreicht, als uns unser Führer in Schweiß gebadet entgegenkam, um zu melden, daß der Weg bis zur Mühle zu Fuß gemacht werden müsse, da keinerlei Reitthier und nicht einmal eine Schleife vorhanden sei. „Ho fatto snellsritt!“ (“Ich habe Schnellschritt gemacht!”) betheuerte er, des Kommandos aus seiner Dienstzeit sich erinnernd, und es war ihm wohl zu glauben, ja, hätte ich etwas Geistiges bei mir geführt, so würde ich ihm zur Belohnung einen “schnappa” kredenzt haben, für den ich sicher Gegenliebe gefunden haben würde.
Die Sägemühle war bald erreicht und der Müller kochte uns (mitten in der Mühle am offenen Feuer!) bereitwillig einen Kaffee, der nicht einmal an Bodensatz litt, brachte auch Brot, Speck und Butter herbei; die letztere war in ein Krautblatt geschlagen und so vortrefflich, daß Berthold Auerbach sie gewiß „thaufrisch“ genannt haben würde. Ich habe vielleicht in meinem ganzen Leben noch nicht mit solchem Appetit gefrühstückt, wie in dieser Sega, und das will schon etwas heißen, da selbst Hamburger Frühstücke in den Austerbuden am „Stintfang“ zu meinen Erinnerungen gehören. Uns gegenüber hatten wir einen Waldfriedhof, einen Wall von Baumleichen, ein Baumschlachtfeld - man suche sich den Ausdruck heraus, den man am bezeichnendsten findet für den Weg, den eine Lawine genommen, alle Stämme entwurzelnd, sie wie Schwefelhölzchen zerknickend und sie in wildem Wirrwarr durcheinander werfend. Der frische, grüne, im Winde wogende Wald war nun todt, grau und starr und bot ein entsetzliches, trostloses Bild der Verwüstung.
Eine Stunde vor Pinzolo, als mein Freund auf einem Stein an der Straße den kalten Umschlag erneuerte, sahen wir in der Ferne Giacinto und den Professor kommen; Letzterer war mit weit ausgreifenden Giganten- oder Giraffenschritten ein Stück voraus, und der Führer hatte Mühe, ihm zu folgen. Bald hatten sie uns eingeholt, überzeugten sich aber auch, daß ihr Marschtempo für uns unerschwinglich war und stiefelten also voraus. Bei San Stefano schlug uns der Träger reife Edelkastanien, deren Stachelhüllen den Boden bedeckten, von den Zweigen, und lange sahen wir dem geschäftigen Treiben der Frauen und Mädchen zu, die das welke Laub zusammenrechten und in große Säcke stopften, um es als Winterstreu in die Ställe zu führen. Von fern winkten bereits die Häuser von Pinzolo und erschienen uns förmlich großstädtisch. Der Abend sank hernieder, als unsere Pickel wieder über die Steinplatten im Hausflur der „Corona“ klirrten. Der Professor, mit dem ich über den Tiroler Aufstand von 1809 einen vorsichtigen Gedankenaustausch pflog, und ein eben so einsilbiger als eleganter Jüngling mit Krimstecher und Bädecker, den seine Lackstiefelettchen gerade bis zum Kirchlein San Stefano getragen hatten, bildeten die einzigen Genossen unserer Tafelrunde und hatten Gelegenheit, an meinem Freunde einen urgermanischen Appetit zu bewundern. Mit Giacinto und dem Bewirthschafter der Hütte, der mir einen schriftlichen Rapport an den Hüttenwart mitgab, tranken wir „un mezzo litro“ Rothen und besichtigten den ausgestopften Bären; dann wurden die Führer abgelohnt und die Rechnung beglichen.
Wir hatten in Pinzolo nichts mehr zu suchen, und der nächste Morgen entführte uns dem Val Rendena, daß wir mit dem Bewußtsein verlassen konnten, unsere bergsteigerische Aufgabe vollständig gelöst zu haben. –