Ein wunderlich und kläglich Geschicht, in Holland von zweien Schwestern geschehen
ein Lied in dieser Frist?
Von wunderlichen Dingen
in Holland gschehen ist
von zwei Schwestern mit Sitten,
die ein reich wollt verstahn;
die arme that sie bitten,
aber sie hats nicht than.
die litten Hungersnoth,
sie hatt ihr mehr noch minder;
ihr frommer Mann war todt.
Die Kinder weinten sehre,
die Mutter kunnts nit lahn,
die ruft zu Gott dem Herren,
daß er ihr wöllt beistahn.
sprachen mit gutem Bscheid:
Eur Schwester ist gar reiche,
geht hin, klagt euer Leid;
eur Noth thut die ihr klagen,
darzu euren Gebrech!
Ach nein! thäte sie sagen,
mein Schwester ist zu frech.
zur Schwester in die Stadt,
obs ihr ein Brot wöllt geben;
um Gotts willen sie bat:
„Willt mir kommen zu Steure,
mein Schwester, in der Noth!
ich hab sechs Kinder beim Feure,
drei Tag aßens kein Brot.“
hört, richt sies tapfer aus
und sprach mit frechen Worten:
‚‚‚Ich hab kein Brot im Haus.
Heißt man mich schon die Reiche
und hält mich auch darfür,
ich schwör bei Gott geleiche:
hab keins in meiner Thür!
beim Herren schwur sie sehr,
‚‚‚Gott geb, daß es werd Steine;‘‘‘
macht der Wort noch viel mehr.
Die Arme weinet sehre,
gieng zu den Kindlein klein.
Was thät hie Gott der Herre?
Verwandlets Brot in Stein.
daß ward zu Stein ihr Brot,
sie war in großen Gfahren,
folgt ihr Schwester mit Noth:
‚‚‚Ach, willt mir das vergeben,
Schwester, das bitt ich dich!
ich will dir Gelds gnug geben,
das glaub mir sicherlich!
Schwester, sei guter Ding!
bitt Gott sehr mannigfalten,
daß ers vergeb gähling!‘‘‘ –
Wollt dies Beispiel alleine
annehmen wolgemuth,
daß eur Brot nit werd Steine;
das habt mir hie für gut!
3. Nachbaur, mhd. nåch-gebůre (von nåch, nahe), Nachbar. – Gebrech, mhd. gebrěche (gebrëch), Gebrechen, Mangel. – 4. zu Steure, mhd. ze stiure, zu Hülfe, Stütze, Beistand. – 8. gähling, mhd. gæchlingen, plötzlich, jählings (gæhe, gåch, jäh [gäh], eilig, schnell – von gæhen, gåhen, eilen).