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Ein weibliches Opfer politischer Rachsucht

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Textdaten
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Titel: Ein weibliches Opfer politischer Rachsucht
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 30, S. 480
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
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Erscheinungsdatum: 1860
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[480] Ein weibliches Opfer politischer Rachsucht. Nachdem im Januar 1799 in Neapel die kurzdauernde parthenopäische Republik war errichtet worden, konnte dieselbe nach erfolgtem Abzug der französischen Armee unter General Championnet sich gegen die von Calabrien heranziebende „Glaubensschaar“ unter dem Cardinal Ruffo, welche die Sache des nach Sicilien geflüchteten Königs verfocht, und von der See aus durch englische Schiffe unterstützt ward, nicht lange mehr halten, zumal in der Hauptstadt selbst die königliche Partei, im Geheimen thätig und wenig entmuthigt durch die vereinzelten Erfolge und das anscheinende Glück ihrer politischen Gegner, gewaltige Umtriebe machte. Ein Glashändler hatte eine große Menge Lazzaroni angeworben, die ohne Vorliebe für die eine oder die andere Partei, um Gewinnes und der Beute willen, die Sache des Thrones zu unterstützen schworen. Ein anderer Einwohner, Namens Tanfano, stand an der Spitze eines zahlreichen Complots und verabredete mit dem Hofe in Sicilien, dem genannten Cardinal und den andern Häuptern der königl. Banden das Nothwendige zu einer Schilderhebung im Innern. Er erhielt Geld zum Vertheilen unter seine Leute, hatte Waffen und alle zum Zweck einer Gegenrevolution dienliche Mittel in Bereitschaft. Am gefährlichsten von allen diesen Verschwörungen war jedoch die des Schweizers Backer, der seit längerer Zeit zu Neapel lebte und mit mehreren königlich gesinnten Familien verwandt, auch persönlich den Bourbonen sehr ergeben war.

Dieser unterhielt mit den Officieren der feindlichen Schiffe geheime Verbindungen und machte mit ihnen aus, daß ein sicilianisch-englisches Geschwader an einem Feiertage, wo das Volk seinem Vergnügen nachgeht und nichts thut, Bomben in die Stadt werfen sollte. Wenn dann die Truppen nach den Hafenbatterien und Castellen eilen müßten und in der Stadt keine Wachmannschaft bliebe, so könnten die vorbereiteten Aufstände mit Leichtigkeit und Glück bewerkstelligt, die Empörer, d. h. die Häupter der Republik, niedergemacht, ihre Häuser in Brand gesteckt und mit einem Schlage zugleich Rache genommen und die Regierung gestürzt werden. Nachdem auf diese Art Alles fest bestimmt worden, bezeichneten die Verschworenen Thüren und Mauern der Häuser, welche zerstört oder verschont werden sollten, auf verschiedene Weise, wie es bei ihren verruchten Zusammenkünften war beschlossen worden. Weil nun oftmals Leute von beiden Parteien unter einem Dache wohnten oder in einer Familie lebten, theilten sie insgeheim Sicherheitskarten aus. Eine von diesen gab der Hauptmann Backer, ein Bruder dessen, der an der Spitze des Complots stand, der Louise Sanfelice, in die er sterblich verliebt war, und zugleich einen Wink über die Gefahr, indem er ihr erklärte, welchen Gebrauch sie von der Karte zu machen habe.

Das Mädchen dankte ihm und nahm die Karte, aber nicht für sich, sondern gab sie dem Geliebten ihres Herzens, der als eifriger Anhänger der Republik und Officier in der Nationalgarde sicherlich zu einem Opfer der Verschwörung ausersehen war. Der junge Mann, Ferri mit Namen, entdecke der Regierung, was er von dem Complot wußte, wies die Karte vor und nannte die hierbei Betheiligten, stolz auf sein Mädchen und sich, des Vaterlandes Retter zu sein. Die Sanfelice ward vorgeladen und in’s Verhör genommen. In der größten Verlegenheit darüber, daß ihr Liebesverhältniß so offenkundig geworden und die Sache zur Anzeige gekommen, sowie auch wegen der Strafen, die es zur Folge haben mußte, hoffte sie durch aufrichtige Erzählung des wahren Sachverhalts bei den Richtern Nachsicht und Entschuldigung zu finden, und sagte Alles, was sie wußte, mit alleiniger Verschweigung des Namens desjenigen, von welchem sie die Karte erhalten, und der bestimmtesten Erklärung, daß sie lieber sterben, als undankbar den mitleidsvollen Freund, der sie retten wollte, verrathen würde. Man hatte aber schon genug an dem, was man gehört, und besonders an den Schriftzügen und Siegeln auf der Karte, um die Häupter der Verschwörung zu entdecken, die eingekerkert wurden und bei denen man Waffenvorräthe und noch andere Papiere fand, sodaß man völlig die Fäden der Verschwörung in die Hände bekam und dieselbe unterdrücken konnte und die Sanfelice, welche von der öffentlichen Stimme nur Tadel und Verachtung fürchten zu müssen geglaubt, hieß jetzt eine Mutter des Vaterlandes, eine Retterin der Freiheit.

Indeß nur zu bald schlug die Stunde des Untergangs der neuen Republik, deren Häupter ihrer Rolle wenig gewachsen, ohne Menschenkenntniß, großentheils idealistische Schwärmer oder zu rechtschaffen waren, um tüchtige Revolutionsmänner zu sein. – Als die Kämpfe mit den Royalistenbanden der Hauptstadt immer näher rückten, und fast das ganze Land schon in die Gewalt der Glaubenstruppen gekommen war, wurden die beiden Brüder Backer und drei andere Verhaftete, welche das Revolutionsgericht verurtheilte, im Castelnuovo erschossen. Eine grausame Execution, da sie, in den letzten Stunden der republikanischen Regierung vollzogen, als abschreckendes Beispiel nichts mehr nützen kennte!

Als nach dem Sieg der königlichen Sache die Reaction ihr grausames Rachewerk begonnen, aller Gerechtigkeit Hohn gesprochen, dreißigtausend Bürger eingekerkert, ein Staatsgerichtshof gegen die sogenannten Hochverräther aus den feilsten Sclaven des Despotismus errichtet wurde; als dieser schon in Folge königlicher Cabinetsbefehle eine große Zahl der Anhänger oder Diener der Republik vom Civil- und Militairstande auf dem Schaffot hatte sterben lassen: begann auch der Proceß gegen die Sanfelice, die zur Entdeckung der Backer’schen Verschwörung Anlaß gegeben.

Ihr Geliebter, Ferri, war vor dem Feinde geblieben oder nach Frankreich entflohen, und die Anverwandten der beiden hingerichteten Backer forderten die Staatsgerichte und den Hof zur Rache auf. Nicht zufrieden mit dem Blut, das für das bourbonische Königthum in Strömen geflosen, wollten sie auch noch um ihrer Familie willen Opfer fallen sehen. Das unglückliche Mädchen ward in einen schauerlichen Kerker geworfen, in Gemäßheit des Gesetzes, das Jeden für des Todes schuldig erklärte, der zu Gunsten der Republik seine Unterthanenpflichten verletzt hatte, und ihre Hinrichtung nur darum aufgeschoben, weil sie heimlich vermählt und guter Hoffnung zu sein behauptete. Das Gericht erhielt deshalb aus Palermo einen Verweis vom König mit dem Bemerken, die Angabe der Sanfelice sei eine Erdichtung und die Sachverständigen seien hinter’s Licht geführt worden. Als jedoch eine abermalige Untersuchung den Ausspruch derselben bestätigte, mußte das Mädchen auf Allerhöchsten Befehl nach Sicilien gebracht und von den königlichen Leibärzten daselbst untersucht werden. Hier ward indeß ihre Schwangerschaft außer allen Zweifel gesetzt und die Unglückliche sofort in den Kerker zurück geführt, um aus der Welt geschafft zu werden, sobald ihr Kind das Licht derselben erblickte.

Nicht lange danach wurde die königliche Familie durch die Geburt eines Thronerben erfreut, den die Gemahlin des Prinzen Franz (Großvater des jetzigen Königs Franz II.), Marie Clementine, gebar, und der nach seinem Großvater „Ferdinand“ getauft wurde. Es war ein frommer Gebrauch in dieser Familie, daß bei Gelegenheit einer solchen Geburt die erlauchte Wöchnerin eine dreifache große Gnade sich vom Könige erbitten durfte. Um aber desto eher auf Erhörung rechnen zu können, und zu zeigen, wie sehr ihr die Erfüllung angelegen sei, that die Prinzessin anstatt dreier Bitten nur eine einzige, zu Gunsten der unglücklichen Sanfelice, welche einige Tage zuvor im Gefängniß entbunden worden, aber noch nicht kräftig genug war, um die Reise nach Neapel auszuhalten, wo das Todesurtheil an ihr vollstreckt werden sollte. Man steckte ein Papier, welches ein Gnadengesuch derselben und die Fürbitte der Prinzessin enthielt, in das Wickelkissen des kleinen Prinzen, damit der König es sehen sollte. Als dieser seine Schwiegertochter besuchte, und heiter und lächelnd das Kind, dessen Schönheit ihn vergnügte, auf den Armen hielt, bemerkte er wirklich das Papier und fragte, was es wäre. „Es ist ein Gnadengesuch“, sagte die Wöchnerin, „und zwar ein einziges, nicht dreifaches, so sehr wünsche ich von dem gütigen Herzen Eurer Majestät dasselbe erfüllt zu sehen.“ – Immer nech freundlich fragte er: „Für wen denn?“ – „Für die unglückliche Sanfelice.“ Sie wollte noch mehr sagen, allein das Wort erstarb ihr im Munde bei dem finstern Blick des Königs, der seine Stirn runzelte und mit Heftigkeit das Kind wieder auf das Bett seiner Mutter legte oder vielmehr hinwarf und, ohne ein Wort zu sprechen, das Zimmer verließ, auch mehrere Tage lang nicht mehr wiederkam.

Seine Strenge, die Verschmähung ihrer Fürbitte, das Unglück der armen Gefangenen entlockten der Prinzessin schmerzliche Thränen. Ihre Bitte erinnerte blos den König an die Unglückliche, welche denn auch, kaum genesen, nach Neapel gebracht und auf dem Victualienmarkt, dem gewöhnlichen Hinrichtungsplatz, enthauptet wurde. Das Publicum nahm gerührten Antheil an dem traurigen Schicksal eines jungen, schönen Mädchens aus angesehener Familie. Von Kummer und Elend waren ihre Züge entstellt, und tiefe Furchen hatte das Leiden in die Wangen der Unglücklichen gegraben, deren einziges Verbrechen die Rettung der Hauptstadt von Mord und Brand gewesen. Wie hart, wie über alle Maßen schrecklich mußte sie büßen für dasjenige, was sie aus Liebe gethan!